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BeitragThema: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Fr Aug 16, 2024 10:02 am

Expedition Isegrimm

„Niemals!“ ereifere ich mich. „Sie erhalten das, was wir per E-Mail ausgemacht haben, und keinen Cent darüber hinaus!“

Meine Worte sind an den dunkelhaarigen Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches gerichtet, ein Indiana-Jones-Verschnitt. Der Mann grinst und erklärt:

„Bedenken Sie, Sie wollen auf den Balkan, aber nicht in eines der Touristen-Zentren, sondern ins wilde Hinterland. Neben Raubtieren treibt sich dort eine Menge Gesindel herum. Ich möchte mich abgesichert wissen, sollten Sie das Zeitliche segnen.“

„Sie haben ihren Vorschuss! Eine nicht geringe Summe! Daneben erhalten Sie nach erfolgreichem Abschluss den Rest der Summe durch uns ausgehändigt. Sollten wir im Balkan ‚das Zeitliche segnen‘, wie Sie es sich zu formulieren erlauben, haben Sie ihren Auftrag nicht erfüllt und damit keinen Anspruch auf den Rest!“

Wir haben uns mit dem Mann in einem Café des Münchner Hauptbahnhofs getroffen, um noch einige Einzelheiten zu besprechen. In zwei Tagen soll es losgehen. Die Tickets sind schon gebucht und den Zug haben wir ausgesucht. Zum Schluss auftauchende Schwierigkeiten kann ich nicht gebrauchen.

Meine Frau und ich sind Tierfilmer. Wir haben im Internet nach einem Führer gesucht, der uns ‚Canis lupus‘ näherbringen kann, damit wir die Tiere in ihrer ursprünglichen Landschaft filmen können. Herr Wessel hat sich gemeldet und Janine, meine Frau, hat mit ihm per E-Mail geschrieben.

Die Beiden haben vereinbart, dass er 2.000 Euro bei Reisebeginn ausgezahlt erhält. Wenn wir in München zurück sind, soll er weitere 10.000 Euro erhalten. Ich halte die Summen für zu hoch, aber sie stehen nun einmal im Raum. Wenn wir davon abweichen, verlieren wir den Mann und damit die Aussicht auf eine lukrative Publikation.

Meine Frau neben mir, meldet sich nun:
„Gib ihm doch das Geld!“

Eine Gesprächspause entsteht, in der Herr Wessel mich aufmerksam beobachtet. Ich nicke und erkläre:

„Gut, neues Angebot: Sie erhalten 3.000 Euro Vorauszahlung und 12.000 Euro nach Rückkunft hier in München. Das ist mein letztes Angebot! Nehmen Sie an oder schlagen Sie es aus. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.“

Ich denke, dass wir nach der Veröffentlichung der Publikation ein Vielfaches verdienen können. Für jetzt habe ich damit unser Girokonto ziemlich ausgereizt, denn die Ausrüstung hat uns in den Outdoor-shops schon eine Menge Geld gekostet.

Ich schreibe unsere Vereinbarung auf ein Blatt Briefpapier und schreibe sie schließlich noch einmal ab. Dann unterschreibe ich beide Blätter und schiebe sie Herrn Wessel mit meinem Kuli über den Tisch zu. Dabei schaue ich ihn auffordernd an. Er lächelt, greift nach dem Stift und setzt auch seinen Namen unter jedes Blatt. Danach schiebt er mir ein Blatt der Vereinbarung und den Kugelschreiber über den Tisch zu.

„Okay,“ kommentiere ich das. „Die Vorauszahlung erhalten Sie bei unserer Abfahrt, wie vereinbart.“

Anschließend erheben wir uns und gehen erst einmal auseinander. Auf unserer Heimfahrt frage ich Janine:

„Was hältst du von Wessel?“

„Er weiß, was er will.“

„Jaa,“ ziehe ich die Antwort lang, mit sarkastischem Ton in der Stimme. „Hoffentlich ist er das Geld auch wert! Hoffentlich ist er keine Luftnummer. Weißt du eigentlich, wieviel uns die Expedition bis jetzt schon gekostet hat?“

„Auf den Cent genau!“ antwortet Janine.

„Dann ist dir hoffentlich auch klar, dass wir ruiniert sind, wenn das Unternehmen schiefgeht? Wenn wir ohne eine Story zurückkommen, haben wir mehr als nur ein Problem.“

„Jetzt siehst du aber wirklich zu schwarz, Manni! Du könntest immer noch das Angebot meines Bruders annehmen und den Posten in seiner Firma übernehmen. Damit lassen sich eventuelle Schulden stückweise abtragen.“
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Sa Aug 17, 2024 10:20 am

Meine Frau zuckt mit den Schultern. Es ist nicht das erste Mal, dass sie das Thema anschneidet. Wir kennen uns jetzt seit nahezu zwanzig Jahren und haben in der Zeit viel durchgemacht. Seit 13 Jahren sind wir miteinander verheiratet. Ich fiebere ja ebenfalls einer Fotoreportage entgegen. Wie schön wäre es, wenn wir in ein paar Jahren einen Bildband hinterherschieben und damit das allgemeine Interesse noch einmal aufflammen lassen könnten. Möglicherweise reißen sich danach die Sendeanstalten um uns und deren Honorare lassen uns noch eine Weile von der Expedition zehren.

*

Inzwischen sitzen wir schon seit Stunden im Flixbus. Heute Morgen um 8:00 Uhr ist die Reise gestartet. Nachher gegen 16:30 Uhr kommen wir in Zagreb an und müssen dort auf einen Bus der CroatiaBus umsteigen, mit dem wir Sarajevo, die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas, endlich gegen 23:00 erreichen. Bis dahin werden wir 976 Kilometer über die Autobahn hinter uns gebracht haben. Herr Wessel hat uns erklärt, dass er eine Taverne mit Fremdenzimmer kennt, die um diese Zeit noch Gäste annimmt. Ich bin gespannt.

Endlich haben wir die Reise geschafft. Unterwegs hat das Personal Bordverpflegung wie im Flugzeug verteilt. Ich fühle mich rundum wohl, als wir in Sarajevo aussteigen. Wir haben Sommer und am Himmel hat die Dämmerung gerade erst begonnen. Herr Wessel führt uns durch ein malerisches Viertel und bleibt vor eine Haustür stehen.

„Da sind wir,“ sagt er einfach.

„Wo sind wir hier?“ frage ich daher.

„Das ist die Herberge von der ich gesprochen habe,“ erklärt er mir.

Er drückt die Tür auf und hält sie in der Stellung, bis wir mit unserem Gepäck hindurchgetreten sind. Der Hausflur und der Fuß der Treppe werden vom Schein einer winzigen Lampe erhellt.

„Hm!“ mache ich.

„Guten Abend, wer ist da?“ fragt eine Stimme vom Treppenabsatz her. Wir blicken jetzt in den schwebenden Lichtschein einer hochgehaltenen Laterne.

„Guten Abend,“ antwortet Herr Wessel lächelnd. „Wir wollten fragen, ob Sie noch zwei Zimmer für eine Nacht frei haben.“

„Das kostet 100 Marka pro Zimmer!“ hören wir.

Eine Marka ist umgerechnet 51 Eurocent. Das halte ich für einen fairen Preis. Ich frage:
„Ist ein Frühstück im Preis enthalten?“

Der Wirt versteht Englisch. Auf meine Frage hin erbebt die Lichtquelle im Gelächter des Mannes. Dann erklärt er:
„Zwei Zimmer und dreimal Frühstück kosten 300 Marka pro Nacht.“

„Okay, einverstanden!“ sage ich.

Der Wirt dreht sich um und steigt langsam die Treppe empor, während er uns leuchtet. Wir folgen ihm. Die Stille im Haus wird nun vom Knarren der Treppenstufen unterbrochen. Es geht drei Etagen höher und dann einen dunklen Gang entlang. Schließlich bleibt der Wirt stehen und öffnet zwei Zimmertüren, die sich im Gang gegenüberliegen. Er macht eine einladende Handbewegung.

Herr Wessel kramt 140 Marka aus seinem Geldbeutel, die er an den Wirt weiterreicht. Ich fühle mich genötigt, es ihm gleich zu tun. Also erhält der Wirt von mir 180 Marka. Er bedankt sich mit einer Verbeugung und lässt uns allein.

Wir schauen uns um. Neben der Tür gibt es einen uralten Drehschalter. Ich drehe daran und sogleich taucht eine nackte Birne, die von der Decke hängt, das Zimmer in ein gespenstisches Licht. Eine Ecke des Raumes ist diagonal abgeteilt und hat eine Tür.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1So Aug 18, 2024 9:31 am

Sofort gehe ich dorthin und öffne die Tür, die mir entgegenschwingt. Dahinter kann ich eine kleine Waschgelegenheit und eine Toilette erkennen. Okay, ein Mindestmaß an Komfort ist wohl gegeben. Ich wende mich nach Jani um. Sie liegt schon auf dem Bett und schaut mir entgegen.

„Der Tag war lang, Manni!“ meint sie.

Es ist ganz klar die versteckte Aufforderung, schlafen zu kommen. Sie hat ja recht!

*

Am nächsten Tag verlässt uns Herr Wessel nach dem Frühstück und kommt eine halbe Stunde später mit einem Jeep zurück. Wir laden unser Gepäck auf das Fahrzeug und Herr Wessel fährt mit uns aus der Stadt. Neugierig frage ich ihn:

„Sie haben den Jeep gemietet, Herr Wessel?“

Er nickt mir lächelnd zu und antwortet:
„So kann man sagen.“

Wir fahren durch die malerische Landschaft des Balkan. Ich stelle mir vor, wie das hier ausgesehen haben muss, als Karl May seinen Roman ‚In den Schluchten des Balkan‘ geschrieben hat. Plötzlich liegt ein rot-weißer Schlagbaum quer über der Straße. Herr Wessel fährt langsam näher und hält vor dem Schlagbaum an. Von links nähern sich zwei junge Männer dem Jeep. Einer der Beiden ist bewaffnet. Der Andere hält seine Hand auf und spricht:

„Tax!“

Herr Wessel dreht sich zu uns um und erklärt:
„Ohne ihm ein Trinkgeld zu geben, kommen wir hier nicht weiter.“

Ich frage ihn erstaunt:
„Was halten Sie in so einem Fall für angemessen?“

„500, denke ich,“ antwortet unser Führer.

Ich nehme zehn 50er-Scheine aus meinem Geldbeutel und reiche sie aus dem Wagen. Der Mann draußen nimmt die Scheine in die Hand, zählt sie durch und drückt den Schlagbaum lächelnd hoch, um ihn hinter uns wieder herunter zu lassen. Herr Wessel fährt weiter. Der Weg führt in einen Wald hinein. Mittlerweile fahren wir einen schmalen Waldweg entlang. Mir wird mulmig zumute. Deshalb frage ich unseren Führer:

„Was waren das eben für Leute?“

„Hm, um Ihnen das zu erklären, muss ich etwas ausholen. Nachdem Jugoslawien zusammengebrochen ist, haben sich auf dem Gebiet mehrere Nachfolgestaaten gebildet. Leider sind sie nicht in Freundschaft miteinander verbunden, sondern bekriegen sich ständig. Dadurch verschieben sich die Grenzen dauernd. Das einzige Dauerhafte für die Menschen hier sind ihre Dörfer und Städte. Wir haben also gerade ein Territorium gewechselt und dafür Zoll bezahlt.“

„Sie wollen damit sagen, dass wir die Zivilisation verlassen haben und ins Mittelalter zurückgefallen sind?“ äußert sich Janine.

Herr Wessel nickt und bestätigt die Annahme.

„Die Menschen sind je zur Hälfte Christen und Moslems. Das hindert sie aber nicht daran, an alle möglichen Geister und Dämonen zu glauben,“ setzt er nach.

„Was ist eigentlich unser heutiges Ziel?“

„Wir übernachten in einer Jagdhütte von der man ein Tal gut überblicken kann. Wie es dann morgen weitergeht, entscheiden Sie im Laufe des morgigen Vormittags.“

Ich nicke. Morgen orientieren wir uns in der Landschaft und sehen dann weiter. Interessiert schaue ich aus dem Auto. Als wir den Wald verlassen, habe ich den Eindruck, dass rechter Hand die Bäume schnell niedriger werden, während die Sicht linker Hand frei ist bis zum gegenüberliegenden Rand eines Tales, der kilometerweit entfernt scheint. Wir befahren eine schmale Passstraße auf dem Grat zwischen zwei Anhöhen. Bald kann ich in der Ferne eine Hütte erkennen.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Mo Aug 19, 2024 9:38 am

Plötzlich höre ich ein unheimliches Heulen, dass anders ist, als das Heulen des Windes um die Häuser in München. Jani legt spontan ihren Arm um meine Hüfte.

„Was war das?“ frage ich Herrn Wessel.

„Das war mindestens ein Wolf,“ bestätigt er meine Annahme. „Das Tal heißt bei den Leuten nicht umsonst ‚Wolfs-Tal‘. Aber deshalb sind Sie doch gerade hergekommen.“

Er wirft mir dabei einen spöttischen Blick zu. Gereizt frage ich ihn deshalb:
„Was ist daran so komisch?“

Kurz angebunden antwortet er:
„Sie!“

„Wir?“ frage ich verständnislos zurück.

Wessel nickt und grinst nun dabei.

„Sie sollten sich selbst einmal beobachten! Sie versuchen, sich cool darzustellen. Dabei sind Sie so aufgeregt wie ein kleiner Junge, der darauf wartet, zu Weihnachten in das Zimmer mit den Geschenken gelassen zu werden! Wissen Sie überhaupt, worauf Sie sich hier eingelassen haben?“

„Wie meinen Sie das?“ frage ich.

„Na, dieses Land, die Menschen hier, ihre Art zu leben, ihr Denken.“

„Wir befinden uns in Europa!“ gebe ich ihm empört zurück.

Wessel gibt einen Seufzer von sich.

„Ich dachte, Sie wären anders, als die Leute, die vor Ihnen hier waren. Kratzen Sie nicht an der Oberfläche! Gehen Sie tiefer. Fragen Sie die Leute, wie sie denken!“

„Wie, meinen Sie, sollten wir die Story denn angehen? Eigentlich wollten wir uns mit dem Wolf beschäftigen, der hier in freier Wildbahn lebt.“

„Sie müssen dabei auch die Menschen berücksichtigen, die mit dem Wolf leben. Ich sagte ja vorhin schon, die Menschen hier glauben an alle möglichen Geister und Dämonen. Der Wolf gehört für sie dazu.“

Ich schaue ihn mit offenem Mund an. Wieder steigt ein Heulen aus dem Tal. Plötzlich legt Jani ihre Hand auf meinen Oberschenkel und legt den Zeigefinger der anderen Hand auf ihre Lippen. Nun schaue ich sie leicht verstört an und frage:

„Was ist?“

„Da war ein Kind!“ erklärt sie. „Ich habe deutlich ein Kind weinen gehört.“

Ich lausche einen Moment, aber außer dem Heulen des Windes oder der Wölfe und dem Motorgeräusch des Jeeps kann ich nichts hören. Doch, da ist tatsächlich etwas. Jetzt höre ich es auch, so leise, dass die anderen Geräusche die Töne eigentlich überdecken müssten.

„Das ist ein Kind!“ ruft Jani aus und legt Wessel eine Hand auf seine Schulter. „Großer Gott! Irgendwo im Tal weint ein Kind. Wir müssen sofort anhalten!“

„Das ist KEIN Kind!“ widerspricht Wessel.

„Aber natürlich!“ besteht Janine auf ihrer Meinung. „Hören Sie doch! Man kann es ganz deutlich von den anderen Geräuschen unterscheiden. Wir müssen halten!“

„Wir können jetzt nicht halten!“ antwortet Wessel. „Sie können hier nicht ins Tal hinabsteigen ohne abzustürzen. Und selbst, wenn Sie heil unten ankommen, werden Sie ohne Bergsteigerausrüstung kaum wieder hochkommen!“

„Aber das Kind…“

„Beruhigen Sie sich, Frau Möbius! Morgen steigen wir in das Tal. Dann können Sie gerne selbst schauen.“

Jani lässt sich in das Sitzpolster zurückfallen und schaut noch ein oder zwei Sekunden Herrn Wessel in den Nacken. Danach wendet sie mir einen flehenden Blick zu. Irgendetwas an diesem Blick drückt mein Herz mit einer unerbittlichen Faust zusammen. Wessel weiß wohl nicht, wie sich heulende Wölfe anhören. Aber Jani und ich wissen, wie ein weinendes Kind klingt!
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Di Aug 20, 2024 9:04 am

Es ist gerade erst vier Jahre her. Jani ist endlich schwanger gewesen. Sieben Monate hat sie unser Kind unter ihrem Herzen getragen, als sie eine Frühgeburt erleiden muss. Das Kind hat danach nur wenige Minuten leben dürfen.

„Was Sie hören, sind Wölfe!“ wiederholt Wessel noch einmal.

Sein Blick, den er uns zuwirft, sagt eindeutig: ‚Und selbst wenn nicht, werden wir jetzt nicht anhalten!‘

Nach einer Weile, die Hütte ist schon zum Greifen nahe, ergänzt er in versöhnlichem Ton:
„Bitte beruhigen Sie sich. Ich kenne das. Dort unten gibt es keine Menschen. Dort unten gibt es nur Wald und Wölfe.“

Janine schweigt. In ihrem Gesicht zuckt kein Muskel. Die vier Jahre alte seelische Narbe ist wieder aufgebrochen. Die Wunde darunter ist tief und blutet so heftig wie eh und je. Wir beide haben das Kind geliebt, das in Jani herangewachsen ist. Jani ist in der Schwangerschaft aufgeblüht. Mir ist sie bis dahin noch nie so fröhlich und lebenslustig, noch nie so schön vorgekommen, wie in dieser Zeit. Und beide sind wir noch nie so glücklich gewesen.

Das alles ist in einer einzigen Minute vorbei. Ein betrunkener Autofahrer. Das Bersten von Glas, der sonderbar dumpfe knisternde Laut von berstendem Metall. Ein gnädiges Schicksal arrangiert es, dass ich mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern kann. Jani und ich werden ins Krankenhaus eingeliefert. Dem Schock folgt eine Zeit der Trauer. Ich bin damit irgendwie fertig geworden, Jani nicht.

Sie hat es scheinbar gefasst aufgenommen, als die Ärzte ihr erklärt haben, dass sie das Kind verloren hat. Jani hat mir danach nicht die ganze Wahrheit erzählt. Der betrunkene Fahrer hat uns nicht nur unser Kind genommen. Die Ärzte haben ihr erklärt, dass sie nie wieder Kinder bekommen kann!

In Jani ist nach der Eröffnung etwas gestorben. Eine seelische Wunde ist damals aufgebrochen, die wohl nie wieder heilen wird.

Dann haben wir die Hütte erreicht. Sie hockt wie ein Storchennest auf dem Grat. Wir steigen aus und greifen unsere Ausrüstung. Wessel geht vor, zieht einen hölzernen Riegel aus einem Metallstreifen und drückt die Tür nach innen. Als wir ihm folgen, müssen sich meine Augen erst kurze Zeit an die Dämmerung im Inneren der Hütte gewöhnen.

Wessel ist schon tiefer in die Hütte gegangen. Er hat von irgendwoher einen Kanister in der Hand und geht zu einem Motor in einer Raumecke. Er setzt den Kanister ab und schraubt einen Deckel von seiner Fassung. Danach füllt er vorsichtig Treibstoff nach. Schließlich bringt er den Kanister in eine andere Ecke des Innenraumes, stellt ihn dort ab und geht zum Generator zurück. Er startet das Gerät und kurz darauf leuchtet eine nackte Glühbirne an der Decke schwach auf.

Danach geht er auf eine Seitenwand zu. Dort hängt ein Gewehr in einer Fassung an der Wand. Darunter steht ein Schubladenschränkchen. Er öffnet es und entnimmt den Schubladen verschiedene Dinge, die er auf den Tisch in Raummitte unter die Glühbirne legt. Anschließend nimmt er das Gewehr von der Wand, setzt sich damit auf einen ächzenden Stuhl an den Tisch und beginnt, es zu zerlegen.

„Was machen Sie?“ frage ich verständnislos.

„Ich bemühe mich um unsere Lebensversicherung!“ sagt er, ohne aufzuschauen. „Oder glauben Sie, dort im Tal leben Schoßhündchen?“

In diesem Moment fragt Jani:
„Manni, öffnest du mir die Dose, bitte?“

Ich wende mich ihr zu und helfe ihr nun, ein warmes Abendessen zu kochen.

*
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Mi Aug 21, 2024 9:13 am

Wir haben es uns nach dem Essen in unseren Schlafsäcken auf dem Boden gemütlich gemacht, so gut das möglich ist auf den harten Bohlen. Schlafen kann ich lange nicht. Wessel hat sich weiter mit dem Gewehr beschäftigt. Irgendwann hat er die Waffe auf die Seite gelegt und sich ebenfalls in seinen Schlafsack geschoben.

Mitten in der Nacht werde ich wach. Eine Person bückt sich über mich und in dessen Hand blitzt etwas auf. Reflexartig ziehe ich die Beine an und stoße sie der gebückten Person in den Bauch. Mein Schlafsack behindert und gleichzeitig schützt er mich. Ich kann mich im Augenblick nicht so gut wehren, aber statt mich zu verletzen zerschneidet die Person mit dem Messer nur Stoff. Plötzlich höre ich einen Knall. In dem Moment kippt der Angreifer vornüber und bleibt bewegungslos liegen.

Wessel legt das Gewehr neben sich auf den Boden und fragt:
„Frau Möbius, sind Sie okay?“

Eine zittrige Stimme antwortet:
„Ja.“

„Bleiben Sie auf dem Boden liegen! Das gilt auch für Sie, Herr Möbius. Hat er Sie mit dem Messer irgendwo erwischt?“ fragt Wessel.

„Nein, aber mein Schlafsack ist hinüber.“

Ich höre ihn stoßartig ausatmen. Der Generator brummt immer noch und die Funzel an der Decke gibt ihr schwaches Licht ab. Herr Wessel kriecht aus dem Schlafsack und robbt zum Schubladenschränkchen an der Seitenwand. Er zieht sämtliche Schubläden heraus und hebt den Korpus des Schränkchens an. Nun trägt er es zur Tür und stellt es so dagegen, dass ein weiterer ungebetener Besucher zum einen Probleme hat die Klinke herunter zu drücken. Zum anderen lässt sich die Tür von draußen nur mit großer Körperkraft aufdrücken.

Daher frage ich den Mann:
„Wie sollen wir jetzt von hier wegkommen? Nun haben wir uns selbst ein Gefängnis geschaffen!“

Herr Wessel grinst mich an und fordert mich auf:
„Helfen Sie mir, das Tischblatt schräg gegen die Tür zu stellen!“

Ich zucke mit den Schultern und stelle mich an die gegenüberliegende Seite des Tisches. Gemeinsam heben wir den Tisch an, tragen ihn zur Tür und drehen das Tischblatt so, dass es danach schräg an der Tür lehnt. Zwei Stühle quer unter die Tischbeine gelegt stabilisieren seinen Stand. Janine hat sich inzwischen aufgesetzt und ihren Schlafsack zusammengerollt.

Auch Herr Wessel rollt seinen Schlafsack jetzt zusammen und hängt ihn sich über die Schulter. Das Gewehr hängt er sich über die andere Schulter und stopft die Taschen seiner Hose und der Weste mit Magazinen voll, die er vor dem Schlafengehen mit Patronen aus den Schubläden gefüllt hat.

Verständnislos frage ich ihn:
„Wie geht es jetzt weiter?“

„Sie wollten doch gestern schon in das Tal hinunter! Dorthin machen wir uns jetzt auf den Weg.“

Er hebt eine Tür im Boden hoch und schaut mich an.

„Klettern Sie hinunter und helfen Sie ihrer Frau! Ich mache den Abschluss.“

Also krieche ich zuerst in das Loch, mit den Füßen voran. Als meine Brust noch in der Hütte zu sehen ist, bekommen meine Füße Bodenkontakt. Ich bücke mich und schaue mich um. Hier unten ist es stockdunkel bis auf eine Stelle, wo ich die Steilwand des Grats vermute. Dort ist es etwas heller. Nun gehe ich zur Seite, um Jani Platz zu machen.

In unserer Journalisten-Laufbahn ist es das erste Mal, dass wir unter der Erde kriechen müssen. Nun sehe ich Janis Beine in der Öffnung schräg über mir. Ich fasse sie und helfe ihr, sich neben mich zu hocken. Wir machen Wessel sofort Platz, indem wir auf den Ausgang zu krabbeln. Kurze Zeit später ist auch Wessel im Gang bei uns. Er schließt die Bodenklappe und schiebt einen Riegel von unten vor.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Do Aug 22, 2024 9:06 am

Danach drückt er sich an uns vorbei in Richtung Ausgang. Wir lassen ihm gerne den Vortritt. Er schaut hinaus und flüstert dann:

„Wir warten hier bis es heller wird. Wenn wir in der Dunkelheit abstürzen ist uns nicht geholfen.“

Das ist eine vernünftige Entscheidung. Also bleiben wir im Gang und warten den Morgen ab. Als das Licht des Tages heller wird, erkennen wir wie abschüssig der Hang hier ist. Abseilen können wir uns nicht. Wessel nickt mir mit einem feinen Lächeln zu und meint:

„Einer muss den Anfang machen! Gehen Sie, dann folgt ihre Frau und ich mache den Abschluss. Ich decke ihren Abstieg mit der Flinte. Sie brauchen also keine Angst haben!“

Ich sitze noch eine Weile und überlege, ob der Abstieg ohne Sicherungsseil nicht eine halsbrecherische Angelegenheit ist und welche Alternativen ich habe, komme aber zu keinem Ergebnis.

Wessel unterbricht meine Überlegungen stattdessen mit einem „Na?“

Also verlasse ich den Gang und trete hinaus in den Hang. Nach wenigen Schritten verliere ich den Halt und versuche mit rudernden Armbewegungen das Gleichgewicht zu halten, während meine Füße im schnellen Lauf abwärts streben. Fast beiläufig registriere ich, dass Jani ein paar Meter entfernt mit gewaltigen Sätzen abwärts strebt. Anscheinend hat sie ihr Gleichgewicht besser unter Kontrolle.

Schließlich falle ich doch. Sicher bin ich über irgendeine Unebenheit gestolpert. Als ich auf dem Boden aufkomme und mich instinktiv abrolle, erkenne ich, was mich zu Fall gebracht hat. Das jähe Ende des steilen Hanges ist es gewesen, der hier in einer weniger steilen Geröllhalde endet. Nun gehe ich in einer kleinen Gerölllawine abwärts, bis ich endgültig zur Ruhe komme.

Ich rufe mit schwacher Stimme nach Jani und erhalte keine Antwort. Also versuche ich mich aufzurichten und den Fuß der Geröllhalde zu überblicken. Bald sehe ich tatsächlich ihre Kleidung in der grauen Steinwüste und wende mich dorthin.

*

Als ich Jani erreiche, sie umdrehe, anhebe und in den Arm nehme, bekommt sie einen Weinkrampf. Ich empfinde ihr Weinen in meinen Armen als Erleichterung. Tränen tun ihr nicht weh, aber sie spülen die Anspannung weg. Nach einer Weile, in der ich begonnen habe, sie in meinen Armen zu wiegen, frage ich:

„Fühlst du dich jetzt besser?“

Als Antwort umklammert sie mich ein wenig fester. Die Umstände dieses Abstiegs in das Tal darf man niemandem erzählen. Er würde uns für verrückt halten. Vielleicht sind wir das ja auch. Danach schaut sie mich an und flüstert mir zu:

„Ein bisschen.“

Nach einer kurzen Pause ergänzt sie lächelnd:
„Wenn du jemandem irgendwann erzählst, dass du mich weinen gesehen hast, bringe ich dich um!“

Ich erwidere ihr Lächeln und helfe ihr auf die Beine. Ein paar Meter entfernt liegt ihr Schlafsack. Dort gehe ich hin, nehme ihn auf und bringe ihn ihr. In diesem Moment gesellt sich Wessel zu uns. Wir haben in einem kleinen Wäldchen Zuflucht gesucht, als es passiert.

Oben auf dem Grat ist eine Serie von Donnerschlägen zu hören, gefolgt von hoch auflodernden Flammen. Wessel kommentiert das trocken:

„Der Rückweg ist uns jetzt verbaut. Die Hütte brennt ab und der Jeep ist explodiert. Wir müssen anders aus dem Tal herausfinden.“
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Fr Aug 23, 2024 9:46 am

„An was denken Sie?“ frage ich ihn.

„Aus einer Kalksteinschicht tritt im Hang Wasser aus. Es fließ in einem kleinen Wasserfall in das Tal und bildet hier einen kleinen Fluss. Den müssen wir erreichen und einen umgestürzten Baumstamm als Boot nutzen.“

„Und Sie meinen, wenn wir jetzt einfach so losmarschieren, werden wir alles so vorfinden, wie es Ihnen ihre Wunschvorstellung vorgaukelt?“

„Wir suchen erst den Fluss und folgen ihm dann am Ufer, bis wir einen Stamm finden, der uns trägt.“

Ich nicke. Anscheinend ist das unsere einzige Chance zurück in die Zivilisation.

„Unterwegs schauen wir aber auch, ob wir Wölfe finden. Wir brauchen einige Video-Sequenzen,“ wünsche ich.

„Die Wölfe in diesem Tal sind ein Problem!“ behauptet Wessel nun. „Oben von der Hütte beobachten, ist kein Problem. Ihnen bei Tag entgegensteigen und im Hang einen gewissen Abstand wahren, geht auch. Aber so wie jetzt quasi unter ihnen wandeln ist lebensgefährlich. Sie sind Journalisten. Sie gehen für eine Story gerne Risiken ein, habe ich Recht?“

„Ja, aber wir sind keine Selbstmörder. Ein Risiko muss überschaubar sein.“

„Ah,“ meint er. „Und Raubtiere sind ein überschaubares Risiko?“

„Wölfe riechen uns meilenweit! Sie umgehen uns, sind nicht an einer Konfrontation interessiert. Man muss schon ihr Vertrauen gewinnen, damit sie uns nahe an sich heranlassen!“

„Oha, und das gilt für alle Wölfe auf der ganzen Nordhalbkugel?“

„Ja, natürlich,“ antworte ich ihm gereizt.

„Die Einheimischen meiden dieses Tal. Dabei ist natürlich eine Menge Aberglauben im Spiel. Eine Handvoll freilebender Wölfe bevölkern das Tal. Man konnte sie von der Hütte aus beobachten.“

„Und hier unten? Mitten unter ihnen? Sollten wir da nicht besser auf einen Baum klettern?“ lässt sich Janine wieder vernehmen.

Wessel klopft auf sein Gewehr und sagt:
„Keine Angst, uns passiert schon nichts! Gegen das hier sind sie nicht gefeit. Silberkugeln braucht man gegen normale Raubtiere keine!“

Damit lässt er uns alleine. Mit der Waffe im Anschlag geht er zwischen die Bäume und ist bald darauf verschwunden. Jani fragt mich:

„Glaubst du, er hat Recht?“

„Womit? Dass wir auf einen Baum steigen sollen, während er die Umgebung sichert?“ gebe ich spöttisch zurück.

Jani bleibt ernst. Sie antwortet:
„Mit dem, was er uns bisher alles über die Leute hier und die Wölfe erzählt hat.“

Ich lege meinen Arm um ihre Schultern und ziehe sie näher an mich heran.

„Möglich…“ meine ich. „Dieses Geräusch, das wir Beide gehört haben…“

Jani befreit sich aus meiner Umarmung und erklärt:
„Das war kein Wolf! Ich bin doch nicht blöd! Ich kenne den Unterschied zwischen einem heulenden Wolf und einem weinenden Kind!“

„Natürlich!“ antworte ich ihr.

„Es WAR ein Kind!“ wiederholt Jani noch einmal.

„Ich sage doch nichts dagegen!“ meine ich.

„Nein, du gibst mir aber auch nicht Recht! Ich schätze, du hältst mich für verrückt. Aber ich weiß, was ich gehört habe!“

Ich schüttele stumm den Kopf. Auf dieser Ebene kann man mit Janine nicht diskutieren.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Sa Aug 24, 2024 10:09 am

Von irgendwo dringt das Heulen eines Wolfes zu uns herüber.

„Wo ist eigentlich Wessel,“ fragt sie unvermittelt. „Er bleibt ziemlich lange weg!“

Ich zucke mit den Schultern.

„Vielleicht ist er nur gründlich?“ stelle ich eine rhetorische Frage in die Luft.

Jani antwortet nicht. Ich schaue mich zu ihr um und erschrecke. Sie ist nicht mehr da! Ich rufe ihren Namen. Keine Reaktion.

„Mist!“ entfährt es mir.

Ich eile mit weit ausgreifenden Schritten in die Richtung, in der Jani verschwunden sein muss.

„Komm zurück!“ rufe ich ihr hinterher.

Da sehe ich sie. Sie steht vor einem Busch. Endlich habe ich sie erreicht und ziehe sie ruckartig zurück. Sie befreit sich aus meinem Griff, legt den Zeigefinger auf ihre Lippen und flüstert:

„Ruhig! Da ist irgendwas.“

Ich kann nichts hören. Aber Janine setzt sich wieder in Bewegung. Ich folge ihr. Plötzlich bleibt sie wieder stehen. Diesmal höre ich tatsächlich etwas. Die Geräusche klingen irgendwie vertraut, und zugleich fremd.

Janine anschauend wispere ich:
„Was ist das?“

Sie zuckt die Schultern. Aber sie muss das Geräusch erkannt haben. Wir schleichen weiter. Uns bläst der Wind ins Gesicht. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb hier nicht schon die Hölle los ist. Im nächsten Moment bin ich felsenfest überzeugt zu träumen. Wir stehen unter den Bäumen am Rand einer kleinen Lichtung.

Auf der gegenüberliegenden Seite am Rand des Baumbewuchses sitzen zwei Wölfe. Bei ihnen befindet sich ein vielleicht dreijähriges Mädchen. Es kriecht nackt auf Händen und Füßen bei den Wölfen herum und scheint überhaupt keine Furcht vor den Raubtieren zu haben. Die Laute, die Jani gehört und uns beide hierhergelockt haben, sind eindeutig Kinderlachen gewesen.

Das Mädchen hat überhaupt keine Angst vor den Tieren. Die beiden Wölfe sehen auch gar nicht aus, wie Raubtiere kurz bevor sie ihre Beute zerreißen. Sie sehen eher aus wie - Eltern, Erzieher.

Neben mir stößt Jani einen keuchenden Ton aus. Die Köpfe der beiden Wölfe zucken synchron herum. Bisher hat uns der Wind beschützt. Nun können uns die Tiere sehen. Ich habe ein Gefühl, als ob sich eine eisige Klammer um mein Herz legt und sich immer enger zieht.

Die beiden Wölfe starren uns an und ein tiefes, drohendes Knurren erreicht uns.

„Lieber Gott,“ flüstere ich. „Jani lauf weg! Auf einen Baum! Schnell!“

Sie rührt sich jedoch nicht. Sie schaut starr auf das Kind. Es hat aufgehört herumzukrabbeln und fröhlich zu lachen. Stattdessen sitzt es auf seinen Fersen, hält den Kopf schräg und schaut zu uns herüber.

Die beiden Wölfe erheben sich auf alle Viere. Einer nähert sich uns gefährlich knurrend. Der andere Wolf begibt sich zwischen uns und das Kind. Eine eindeutig beschützende Geste.

„Jani, lauf weg!“ wiederhole ich drängender.

Da sie sich immer noch nicht rührt, trete ich auf die Lichtung hinaus und stelle mich mit einem schnellen Schritt zwischen meine Frau und den Wolf. Es ist nur eine Geste, denn bei einem Angriff kann ich Jani nicht wirklich beschützen.

Sonderbarerweise greift der Wolf nicht an. Er kommt langsam, fast zögernd näher. Während der Annäherung lässt er uns nicht aus den Augen und knurrt leise.

„Lauf weg!“ flüstere ich eindringlich. „Sie wollen nur das Kind beschützen. Versteh doch!“

Der Wolf ist noch drei Schritte von uns entfernt. Noch zwei. Seine Flanken zittern vor Erregung. Er hat seine Lefzen zurückgezogen und zeigt sein gefährliches Gebiss.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1So Aug 25, 2024 9:52 am

„Lauf!“ rufe ich vor Erregung laut.

Da peitscht ein Schuss. Der Wolf wird von einem heftigen Schlag getroffen und auf die Seite geworfen. Nur ein Sekundenbruchteil später kracht ein zweiter Schuss, der den anderen Wolf von den Füßen reißt. Ich wirbele herum, da ich Janine hinter mir wähne, um mich schützend auf sie zu werfen. Aber sie steht nicht mehr an ihrem Platz.

Ich orientiere mich kurz. Statt wegzurennen hat sie die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Sie hetzt über die kleine Lichtung auf das Kind zu. Sie schreit, einer der niedergeschossenen Wölfe hebt den Kopf und heult. Auch das Kind weint, ein sonderbarer wimmernder Laut, der mehr aus einer Wolfskehle stammen könnte als von einem Menschen.

In diesem Moment tritt Wessel zwischen den Bäumen hervor und gibt einen weiteren Schuss auf den Wolf ab, der gerade noch einmal aufgeheult hat. Dessen Kopf fällt auf den Boden zurück.

Ein einziger Sprung befördert mich in die Mitte der Lichtung. Janine hat sich schützend über das Kind geworfen. Die Kleine missversteht die Geste und verlegt sich auf Kratzen und Beißen. Jani muss all ihre Kraft aufwenden, um das Kind zu bändigen. Es tritt und schlägt aus, beißt und kratzt. Dazwischen lässt es einen jaulenden langgezogenen Ton hören.

Als ich Jani erreicht habe und sehe, dass ihr Gesicht und ihre Hände blutverschmiert sind, hämmert mein Herz gegen meine Rippen.

„Hilf mir!“ keucht Jani. „Ich kann sie nicht halten.“

Beherzt greife ich zu, bekomme die wild strampelnden Beine zu fassen und handele mir einen so kraftvollen Tritt gegen den Mund ein, dass meine Lippe aufplatzt. Trotzdem halte ich eisern fest. Janine nutzt die Gelegenheit, dem Kind die Arme auf den Rücken zu biegen. Das strampelnde Energiebündel versucht nach ihrem Gesicht zu beißen. Janine dreht schnell ihren Kopf weg.

„Wie geht es dir, Jani?“ frage ich.

„Ich bin okay!“ antwortet sie. „Aber sie ist völlig überdreht.“

Sie spricht abgehackt, weil die Fersen des Mädchens immer wieder ihren Magen treffen, obwohl ich die Füße festhalte. Außerdem muss sie sich vor ihren Zähnen in Acht nehmen.

„Verdammt nochmal! Bringen Sie das Kind zum Schweigen!“ brüllt Wessel dazwischen.

Janine und ich versuchen es, aber die Kleine kämpft wie ein Tier.

„Hör auf,“ fleht Jani. „Bitte, Kleines, hör doch auf. Wir wollen dir doch nichts!“

Die Kleine verstärkt nun aber ihre Bemühungen sich zu befreien, obwohl es gerade noch den Anschein gehabt hat, dass ihr Widerstand erlahmt. Es stößt ein langgezogenes schrilles Heulen aus. Wessel beugt sich blitzschnell vor und versetzt dem Kind eine schallende Ohrfeige. Abrupt verstummt es und gibt den Widerstand auf. Stattdessen presst es sich mit der gleichen Kraft, mit der es sich gerade noch gewehrt hat, an Janines Brust und beginnt herzzerreißend zu weinen.

Jani drückt das Kind schützend an sich, rutscht hastig von Wessel fort und faucht ihn an:
„Sind Sie verrückt geworden? Wagen Sie es nicht, sie noch einmal anzurühren!“

Wessel will antworten, aber in diesem Moment trägt der Wind ein langgezogenes Heulen zu uns. Einen Sekundenbruchteil später antwortet ein Wolf in der gleichen Weise aus einer anderen Richtung.
Jani fordert mich auf:

„Nimm meinen Schlafsack, öffne ihn, lege ihn mir über die Schulter und setze das Kind hinein.“

„Du glaubst doch nicht, dass ich mir meine Finger von ihm abbeißen lasse?“ gebe ich zurück.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Mo Aug 26, 2024 9:15 am

„Das Kind ist ruhig!“ behauptet sie. „Aber ich brauche eine Tragehilfe.“

Vorsichtig führe ich Janis Aufforderung aus. Das Kind hat jede Gegenwehr aufgegeben. Mit Bändern befestige ich den Schlafsack auf ihrem Rücken. Nur der Kopf des Kindes schaut noch daraus hervor. Dann erheben wir uns. Janine fragt:

„So, Wessel, wo ist nun ihr Fluss?“

Der Mann schüttelt den Kopf und führt uns zwischen die Bäume von der Lichtung weg. Das Mädchen schaut neugierig aus der improvisierten Trage heraus. Es scheint begriffen zu haben, dass ihr von Jani keine Gefahr droht. Über Janis Gesicht hat sich ein sehr warmes zärtliches Lächeln ausgebreitet.

„Du kannst sie nicht behalten!“ äußere ich meine Gedanken.

Jani wendet sich mir zu und fragt:
„Wovon sprichst du?“

„Die Kleine! Sobald wir hier heraus sind, müssen wir sie den Behörden übergeben. Das weißt du!“

„Zuerst einmal müssen wir hier herauskommen. Und ob seine Eltern noch leben, weiß keiner.“

Ein einziger Blick auf meine Frau sagt mir, dass keine Macht der Welt ihr dieses Kind mehr nehmen kann. Sie schaut so glücklich aus wie noch nie, seit ich sie kenne. Für sie ist die Sachlage ganz einfach: Das Schicksal hat ihr das Kind zurückgegeben, das es ihr vor Jahren genommen hat. Keine Macht der Welt wird es schaffen, ihr ihr Kind ein zweites Mal wegzunehmen.

Ich mache ein paar schnelle Schritte und hole zu Wessel auf.

„Was ist mit diesem Kind?“ frage ich ihn rundheraus.

Er runzelt die Stirn und fragt:
„Was meinen Sie?“

„Ich bin nicht blind,“ erkläre ich. „Und auch nicht taub! Zuerst wollten Sie uns weissmachen, Kinderschreien wäre Wolfsheulen. Jetzt ihr Verhalten dem Kind gegenüber. Sie müssen etwas über das Kind wissen!“

„Nicht über DIESES Kind,“ antwortet er. „Aber über Kinder WIE DIESES.“

„Was soll das heißen: ‚Kinder WIE DIESES‘?“ frage ich verständnisheischend.

„Haben Sie den Begriff ‚Wolfskinder‘ schon einmal gehört? Die Leute in den umliegenden Dörfern glauben an Geister und Dämonen. Um sich vor Werwölfen zu schützen, bringen sie von Zeit zu Zeit Kinder an den Eingang des Tales.“

„Was?“ frage ich laut, und dann leiser fortzufahren: „Lächerlich!“

„Ja, für uns aufgeklärte Menschen ist das lächerlich. Die Menschen hier haben sich mit der Gefahr arrangiert.“

„Arrangiert?“

„Sie geben den Wölfen, was sie in ihren Augen brauchen, und die Wölfe lassen sie dafür in Ruhe.“

Ich schaue den Mann ungläubig an und antworte:
„Sie wollen damit sagen, die Leute opfern den Wölfen ihre Kinder?“

„Nicht alle. Nur wenige. Wie das abläuft weiß ich auch nicht wirklich. Bis heute Morgen habe ich die Geschichte auch für ein Gerücht gehalten.“

Wir haben den Fluss erreicht und wandern in Strömungsrichtung daran entlang, auf der Suche nach einem umgestürzten Stamm. Wessel zieht ein Satellitentelefon aus der Tasche und spricht nachdem er Kontakt bekommen hat mit einer unbekannten Gegenstelle.

„Die SFOR in Sarajevo lässt gleich mit einem Hubschrauber nach uns suchen,“ eröffnet er uns, nachdem er das Gerät wieder in einer Tasche seiner Weste versenkt hat.

„Die UNO-Friedenstruppe im Nato-Camp Butmir?“ frage ich zurück.

Wessel nickt und versucht ein zuversichtliches Lächeln.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Di Aug 27, 2024 8:59 am

„Was ist das?“ fragt Jani plötzlich. „Hört doch!“

„Was meinst du?“ frage ich mit gerunzelter Stirn.

„Die Wölfe! Sie haben aufgehört zu heulen!“

Tatsächlich, der Chor der Wölfe ist verstummt. Was kann das bedeuten? Ich lasse meinen Blick wandern. Hinter Jani unter den Bäumen meine ich eine Bewegung zu erspähen. Ein Wolf!

Ich mache Wessel darauf aufmerksam. Der Mann fordert uns auf, näher an das Flussufer zu gehen und ins Wasser zu waten, wenn hier gleich die Hölle losbricht.

Hinter dem Wolf tauchen immer mehr der Raubtiere auf. Wir waten nun in den Fluss bis fast in Hüfthöhe und sind damit vielleicht 50 Meter vom Ufer entfernt. Unser Führer reißt das Gewehr hoch und schießt auf die Wölfe. Dann folgt er uns in den Fluss und schießt auf jeden Wolf, der es wagt uns ins Wasser zu folgen.

Die Kleine beginnt wieder zu weinen und vergräbt ihr Gesicht in die improvisierte Rückentrage. Plötzlich kommt eine ganze Meute aus der Richtung, in die wir gehen. Sie müssen uns im Bogen unter den Bäumen umgangen haben. Während Wessel rückwärtsgehend auf jeden Wolf zielt, der sich hinter uns zeigt, ist dieses Rudel ins Wasser gekommen und springt in weiten Sätzen auf Wessel zu.

Ich rufe Wessel eine Warnung zu und er dreht sich im Wasser. Jetzt speit das Gewehr ganze Geschoßgarben. Er wird wohl auf Dauerfeuer umgestellt haben. Das hat zur Folge, dass er immer wieder Magazine wechseln muss. Plötzlich wird er von mehreren Wölfen von hinten angefallen. Einer beißt in den Oberarm seiner Waffenhand und durchtrennt ihn. Anschließend bewegt er sich in Sprüngen zum Ufer zurück. Wessels Arm und das Gewehr wie eine Trophäe in seinem Fang. Drei andere Wölfe verbeißen sich in unserem Führer und zerreißen ihn regelrecht. Ich kann nicht mehr hinschauen.

Wir richten unsere Aufmerksamkeit voraus in Fluchtrichtung und beschleunigen so gut das im Wasser möglich ist. Im Grunde denke ich, unser letztes Stündlein hat geschlagen. Dann hören wir das Wummern von sich drehenden Hubschrauberrotoren. Kurz darauf sehen wir den Hubschrauber und ich beginne, mit kreisenden Armen auf uns aufmerksam zu machen. Der Hubschrauber überfliegt uns allerdings und nähert sich der Stelle, wo Wessel den Wölfen zum Opfer gefallen ist.

Wir bleiben stehen und wenden uns im Wasser um. So erleben wir mit, wie sich zwei Soldaten aus dem schwebenden Hubschrauber abseilen. Nach ein paar Minuten haben sie Wessel gefunden, oder das was von ihm noch übrig ist. Sie binden den Rumpf an ein Seil und einer der Soldaten macht mit dem Zeigefinger kreisende Bewegungen über seinem Kopf. Nun wird der Rest unseres Führers hochgezogen.

Einer der beiden Soldaten gibt Geschoßgarben in den Wald am Ufer ab, sobald ein Wolf seinen Kopf hebt oder gar aufsteht um zu einem neuerlichen Angriff ins Wasser zu springen. Als Wessels Rumpf im Hubschrauber verschwunden ist, nähern sich die Soldaten uns. Dabei haben beide das Ufer im Blick und benutzen ihre Gewehre, sobald das nötig ist.

Schließlich haben sie uns erreicht. Einer der Beiden spricht uns an:
„Mister and Mrs. Möbius?“

Ich kann nur nicken. Janine antwortet nach einem Seufzer:
„Yes we are.“

„And this little child?“

„It’s a nameless wolfchild, we found here. I’ll adopt it.“

„Ah, okay,“ macht der Soldat.

Der SFOR-Hubschrauber schwebt nun über uns. Die Soldaten legen uns Gurte um und klinken sie in die Seile ein. Danach werden wir hochgezogen. Andere Soldaten nehmen uns an den offenen Türen in Empfang und schwenken uns nach innen. Wir bleiben am Fahrzeugboden hocken, während man die beiden Soldaten an Bord holt. Danach steigt der Hubschrauber auf eine größere Höhe und fliegt davon. Eine halbe Stunde später ändert sich das Maschinengeräusch und kurz darauf wippt der Hubschrauber und die Rotoren laufen aus.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Mi Aug 28, 2024 9:07 am

Eine der Türen wird geöffnet und Männer in weißen Kitteln mit Äskulapstab am Revers und Rangabzeichen auf der Schulter steigen zu. Wessels Rumpf wird in einen schwarzen Kombi verladen, während man uns oberflächlich untersucht. Man ruft nach Verbandsmaterial und jüngere Sanitätssoldaten reichen es den Ärzten in den Hubschrauber.

Als sie sich dem Kind nähern wollen, beginnt es zu knurren. In seinem Blick liegt etwas Gefährliches.

„We can’t examine your wife properly if it doesn’t let us get close to her -Wir können ihre Frau nicht richtig untersuchen, wenn es uns nicht an sie heranlässt-,“ meint einer der Weißkittel.

Ich lege meinen Kopf schräg und frage:
„Haben Sie hier irgendwo ein Narkosegewehr und einen Scharfschützen? Sie müssen das Kind dann wohl schlafen schicken, aber dabei nicht versehentlich meine Frau treffen.“

Der Mann zieht die Stirn kraus. Er scheint zu überlegen und ruft dann einen der jungen Sanitätssoldaten herbei. Ihm gibt er den Auftrag, vom Sanitätsfahrzeug aus einen Jäger mit Narkosegewehr anzufordern. Jani macht große Augen. Sie holt die Kleine von der Schulter und hält sie vor ihre Brust.

„Niemand schießt auf Lea!“

„Hören Sie, Frau Möbius. Wir müssen Sie untersuchen können!“

„Mir fehlt nichts!“

Es entspannt sich eine längere Diskussion, die von einer gefiederten Spritze jäh unterbrochen wird, die plötzlich in der Schulter der Kleinen steckt. Wenige Sekunden später fällt der Kopf der Kleinen zurück. Sofort fasst Jani danach und stützt ihn. Unter Ächzen dreht sie sich auf die Seite und legt die Kleine, immer noch größtenteils von ihrem Schlafsack umhüllt, neben sich ab.

Nun wird sie einer gründlichen Untersuchung unterzogen. Schließlich ist die Reihe an mir. Die Kleine wird oberflächlich untersucht. Dann eröffnet der Arzt uns:

„Frau Möbius, Sie sollten einige Wochen stationär im Krankenhaus verbringen. Sie dagegen, Herr Möbius, könnten ambulant behandelt werden, wenn sie vernünftig sind. Für die stationäre Behandlung müssten wir einen Sanitätsflug organisieren. Wo wohnen Sie in Deutschland?“

„In München,“ erkläre ich. „Könnte das nicht mit diesem Hubschrauber geschehen? So lange dürfte der Flug nicht dauern und es wäre das Einfachste.“

„Das würde Sie dann aber eine Stange Geld kosten!“ meint der Arzt. „Auch für den normalen Flug mit einem Medijet und anschließend einem Krankenwagen dürfte die Krankenkasse eine Menge Geld von Ihnen zurückfordern.“

„Sehen Sie,“ meine ich. „Dann wäre es doch egal, wenn wir mit dem Hubschrauber direkt auf dem Dach der Klinik landen.“

Der Mann nickt und lässt zwei Liegen in den Hubschrauber schieben, auf die wir uns legen müssen. Es gibt eine Verzögerung, als Jani darauf besteht, dass man ihr Lea auf den Bauch legt. Anschließend fahrend die beiden Krankenwagen zu einem anderen Teil des NATO-Camps Butmir, hier in Sarajevo. Wir werden in einen weißen Sanitätshubschrauber geschoben. Eine halbe Stunde später fliegt er los. Weitere anderthalb Stunden danach landet er auf dem Dachlandeplatz der Universitätsklinik München.

*
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Do Aug 29, 2024 9:38 am

Zwei Wochen sind wir inzwischen in München zurück. Lea hat man auf die Kinderstation eingewiesen. Sie hat ein eigenes Zimmer und – wie mir scheint – persönliches Pflegepersonal erhalten. Jani hat man auf die Frauenabteilung der Unfallchirurgie verlegt. Mich hat man mit einer ganzen Apotheke voll Arzneimittel nachhause entlassen, mit der Auflage zu wöchentlichen Untersuchungsterminen in der Unfallchirurgie zu erscheinen.

Nun sitze ich wieder einmal hier im Wartezimmer. Gemeinsam mit mir sitzen eine Handvoll weiterer Männer auf den Stühlen in dem schmucklosen Raum. Über der Tür mir gegenüber leuchten die Ziffern des vorangehenden Patienten. Auf den Gesichtern der Anderen zeichnet sich Langeweile ab.

Endlich ertönt ein ‚Ping‘ und die Ziffer wechselt. Ich schaue auf den Zettel in meiner Hand. Es ist meine Nummer, also erhebe ich mich und gehe zu der Tür. Die Schwester hinter dem Tresen auf der anderen Seite der Tür nennt mir die Nummer des Behandlungsraumes. Dorthin wende ich mich nun und betrete das Zimmer durch die offene Tür.

Auf dem Schreibtisch neben der Liege befindet sich schon der Hängeordner mit meinem Namen. Ich öffne meine Hose, lasse sie auf meine Schuhe fallen und setze mich auf die Behandlungsliege. Nun knöpfe ich mein Hemd auf und werfe es neben mich.

Es dauert noch weitere zehn Minuten bis der diensttuende Arzt hereinkommt und die Tür des Behandlungsraumes hinter sich schließt. Er ignoriert den Patientenordner und beginnt damit, die Verbände an Arm und Bein zu entfernen. Ich beiße die Zähne zusammen und runzele unwillkürlich meine Stirn. Die Verbände landen im bereitstehenden Behälter.

„Das sieht ja alles schon sehr schön aus!“ kommentiert der Arzt meine Wunden. „Ihre Heilung macht gute Fortschritte.“

Ich schaue den Arzt zweifelnd an. Dieser fragt jetzt:
„Haben Sie Schmerzen, Herr Möbius?“

„Es geht,“ antworte ich.

„In drei oder vier Wochen haben Sie es voraussichtlich überstanden.“

Ich antworte nicht. Mir ist egal, ob die Wunden in vier Wochen oder vier Monaten verheilt sind. Aber, ob die Erinnerungen an das Erlebnis in diesem bosnischen Gebirgstal jemals verblassen werden? Im Moment brauche ich nur die Augen zu schließen und ich bin wieder dort unter den Wölfen, höre das Heulen und das Knurren, höre das Peitschen der Schüsse und Janis Schreie. Es ist nicht mehr schlimm, kaum mehr als ein Kinofilm, der nach dem Verlassen des Kinos noch nachwirkt.

Die Stimme des Arztes holt mich wieder in die Realität zurück:
„Ich schreibe Ihnen noch ein Mittel auf.“

Er setzt sich an den Schreibtisch und zieht einen Block an sich heran.

„Aber sagten Sie nicht gerade, dass die Wunden ausgezeichnet heilen?“ begehre ich auf.

Der Arzt dreht sich zu mir um und lächelt milde.
„Ich sagte, dass ich mit dem Heilungsprozess zufrieden bin. Aber das bedeutet nicht, dass Sie jetzt leichtsinnig werden können!“

Ich nehme das Rezept entgegen und im gleichen Moment rauscht der Arzt aus dem Behandlungsraum hinaus. Kurz darauf kommt eine Pflegerin ins Zimmer und hilft mir die Verbände neu anzulegen. Anschließend kleide ich mich wieder an und verlasse die Ambulanz.

Meine Schritte führen mich zu den Aufzügen. Auf der Etage der chirurgischen Abteilung verlasse ich den Aufzug und wende mich zur Frauenabteilung. Jani hat schon vor einer Woche gesagt, dass ich sie nicht täglich besuchen brauche. Aber sie weiß auch, dass ich sie nicht alleine lassen kann. Zuhause wartend, hätte ich es niemals ausgehalten.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Fr Aug 30, 2024 9:52 am

Jani hat es weitaus schlimmer erwischt. Eine ihrer Wunden hat sich entzündet. Sie leidet mittlerweile mehr unter den Nebenwirkungen von Cortison und anderen Mitteln, als an der an sich harmlosen Wunde. Wenn Sie sich Ruhe gönnt, sollte es den Ärzten trotzdem gelingen sie zu heilen.

Deshalb halte ich alle beruflichen Dinge von ihr fern. Mein Anrufbeantworter zuhause quillt jedenfalls über von Anfragen der Kollegen, die wissen wollen wie unser Bosnien-Abenteuer verlaufen ist. Darunter sind natürlich auch Anfragen der Redakteure, die wissen wollen, wann sie mit dem ersten Skript rechnen können.

Als ich Janis Zimmer betrete, finde ich es leer. Ihr Bett sieht unordentlich benutzt aus und der Rollstuhl fehlt. Die Tür zum Badezimmer steht weit genug auf, um mir anzuzeigen, dass es leer ist. Ein paar Sekunden bleibe ich verwirrt stehen. Dann gehe ich hinüber zum Schwesternzimmer. Ich klopfe an. Eine der diensttuenden Krankenschwestern öffnet und schaut mich fragend an.

„Möbius,“ sage ich. „Ist meine Frau zu einer Untersuchung abgeholt worden?“

Die Schwester lächelt mich an und antwortet:
„Keine Sorge. Ihr fehlt nichts weiter. Sie ist nur zur Kinderstation hinübergefahren.“

Ich runzele die Stirn und wiederhole:
„Zur Kinderstation?“

Die Krankenschwester nickt und bestätigt:
„Wir sind nicht begeistert darüber und der Chefarzt wird es noch viel weniger sein, wenn er davon erfährt. Aber wir konnten sie nicht davon abhalten.“

„Ist etwas mit Lea?“ frage ich und halte die Luft an.

Die Schwester hebt die Schultern.

„Ich weiß nicht. Jemand vom Jugendamt war heute Vormittag da. Ihre Frau hat das Gespräch so sehr erregt, dass wir dazwischengehen mussten und die Dame vor die Tür gesetzt haben.“

Ich bedanke mich bei der Schwester, verlasse die Station und fahre mit dem Aufzug zum Ausgang hinunter. Zwischen dem Bettenhaus und der Kinderklinik liegt ein Park, durch den mich meine Schritte nun lenken. Ein wenig außer Atem erreiche ich die Kinderklinik. Ich fahre in die oberste Etage und steuere die Glastür der Intensivstation an. Dort muss ich klingeln, um eingelassen zu werden.

Die grünen Kittel, Kopfhauben und Überschuhe ignoriere ich. Wieder muss ich warten bis die nächste Tür der Schleuse geöffnet wird. Die Intensivschwester hier oben setzt zu einer Zurechtweisung an, weil ich die Schutzkleidung nicht angelegt habe, sagt aber nichts dergleichen. In ihren Augen leuchtet Erkennen auf und daher sagt sie:

„Herr Möbius! Ihre Frau ist ebenfalls hier.“

Ich nicke ihr lächelnd zu. Sie lässt mich ein und ich steuere mit raschen Schritten das Zimmer an, ganz am Ende des Flures. Ohne anzuklopfen trete ich ein und sehe genau das, was ich mir auf dem Weg hierher in Gedanken schon ausgemalt habe.

Ein schmaler Teil des Zimmers ist vom eigentlichen Krankenzimmer abgetrennt. Hier dürfen sich Besucher aufhalten. Mit Patienten und Pflegepersonal im anderen Teil des Zimmers kann man sich über eine Gegensprechanlage unterhalten. Beide Teile des Zimmers sind durch eine Wand aus Sicherheitsglas voneinander getrennt.

Jani hat sich mit dem Rollstuhl irgendwie in den schmalen Besucherbereich hineingeschoben. Sie stemmt sich mit der linken Hand aus dem Sitz hoch und drückt mit der rechten Hand gegen die Glasscheibe. Ich habe im Bettenhaus mitbekommen, wieviel Mühe ihr jede noch so kleine Bewegung bereitet. Weil ich im Moment hinter ihr stehe, kann ich ihr Gesicht nicht sehen. Aber ich kann mir lebhaft vorstellen, welcher Ausdruck darauf zu sehen ist.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Sa Aug 31, 2024 10:19 am

Das Zimmer hinter der Glasscheibe, das genug Platz für drei Betten inklusive der dazu nötigen Intensivpflege-Technik bietet, hat im Augenblick nur eine einzige Patientin. Trotzdem scheint es aus allen Nähten zu platzen. Neben einer Unzahl von medizinischen Apparaturen und natürlich dem Pflegebett, stapeln sich eine Unmenge von Kleinkindspielzeug und Stofftieren darin. Außerdem gibt es bunte Möbel, in denen das Pflegepersonal sicher Windeln und anderes Verbrauchsmaterial versteckt. An der Wand befindet sich eine bewegliche Kamera, die in jeden Winkel des Raumes blicken kann.

Auf der anderen Seite ganz nahe an der Glasscheibe steht eine Krankenschwester und hält Lea im Arm. Ihrem Gesichtsausdruck nach, scheint sie sich nicht sehr wohl in ihrer Haut zu fühlen. Ich nicke ihr durch die Scheibe lächelnd zu und sie erwidert das Lächeln für einen Moment.

Die Schwester hält Lea im Arm, wie man einen Säugling halten würde, aber das ist Lea seit langem nicht mehr. Die Ärzte schätzen ihr Alter ebenfalls auf etwa drei bis vier Jahre. Trotzdem hat das Pflegepersonal Lea in einen krankenhauseigenen Strampelanzug gesteckt, der sich über einer übergroßen Wegwerfwindel beult. Die Kleine liegt so still in ihrer Armbeuge, wie man es normalerweise nur von einem Baby gewohnt ist.

„Sie ist sehr ruhig heute,“ äußert sich Jani.

Sie hat sich noch nicht zu mir umgedreht, seit ich das Zimmer betreten habe. Jani hat wohl aufgeschaut und mich in der Lichtspiegelung der dicken Glasscheibe erkannt, nehme ich an.

„Vielleicht ist Lea es allmählich leid, wie ein Zootier angestarrt zu werden,“ meine ich.

Ächzend und mit missbilligendem Gesichtsausdruck dreht sich Jani nun doch etwas mehr zu mir um. Ich frage:

„Ist irgendetwas geschehen, heute?“

Jani lässt sich in den Sitz des Rollstuhls zurücksinken. Alle Energie scheint aus ihr zu weichen. Dann antwortet sie mit „Ja.“

„Weißt du, ich bringe dich auf deine Station zurück. Unterwegs erzählst du mir, was vorgefallen ist. So verhindern wir auch, dass dein Arzt einen Schlaganfall bekommt, weil du wieder einmal ausgebüxt bist.“

„Soll er doch!“ meint Jani. „Ich bin hier Patientin und keine Gefangene!“

Sie greift auf die Reifen und bugsiert den Rollstuhl sachte rückwärts. Ich mache ihr Platz und halte ihr die Zimmertür auf. Sie gibt es nicht zu, aber ich weiß, dass sie große Schmerzen bei jeder Bewegung hat. Ihr Stolz lässt es nicht zu, dass man ihr hilft. Also gehe ich in ihrer Geschwindigkeit nebenher, um ihr rechtzeitig Türen zu öffnen, die nicht automatisch zur Seite fahren.

„Was ist passiert?“ frage ich schließlich, als wir durch den Park zum Bettenhaus gehen.

Sie schaut kurz zu mir auf und meint:
„Ich hatte heute Besuch aus dem Amt. Diese dumme Kuh vom Jugendamt will uns Lea wegnehmen und in ein Heim stecken! Die Behörden würden sich um sie kümmern. Aber das lasse ich nicht zu!“

„Jani, ich denke mal, die Frau tut nur ihre Pflicht. Sie ist an gewisse Gesetze und Verordnungen gebunden. Wir brauchen ein Gutachten, das befürwortet, dass Lea in deiner Obhut am Besten aufgehoben ist. Aber dann solltest du mehr auf deine Genesung achten! Einer kranken Person wird das Jugendamt Lea sicher nicht überantworten.“

„Und woher sollte das Gutachten kommen?“ fragt Jani erregt.

„Nun, zum Beispiel von Dr. Kamenz von der Kinderstation. Wenn der die Unterbringung von Lea in einer Kleinfamilie befürwortet, statt der staatlichen Heimerziehung, haben wir schon viel gewonnen.“
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1So Sep 01, 2024 9:59 am

Bald haben wir das Bettenhaus erreicht und die Stationsschwester sieht bei unserem Erscheinen sehr erleichtert aus.

*

An einem anderen Tag passiert mir dasselbe. Wieder betrete ich Janis Zimmer und finde es – natürlich – leer. Ich überlege, ob ich auf sie warten soll, als eine Krankenschwester ihren Kopf ins Zimmer streckt. Sie zeigt eine besorgte Miene. Dann sieht sie mich und ihr Gesichtsausdruck hellt sich schlagartig auf.

„Herr Möbius! Schön, dass ich sie antreffe.“

„Ist meine Frau zu irgendeiner Therapie?“

„Nein, aber ich weiß, wo sie ist. Möchten Sie mich nicht begleiten?“

„Ist sie schon wieder in der Kinderklinik?“

Die Schwester nickt und meint:
„Vielleicht ist es besser, wenn Sie dabei sind, wenn ich sie auf die Station zurückbringe!“

Ich nicke und wende mich zum Ausgang um. Die Krankenschwester schüttelt den Kopf und erklärt:
„Wir nehmen einen anderen Weg. Kommen Sie!“

Sie geht zur Theke, direkt neben dem Schwesternzimmer und wechselt mit der Schwester dahinter ein paar Worte, woraufhin sie ihr einen großen Schlüsselbund aushändigt. Während wir zum Aufzug gehen, sucht sie rasch einen bestimmten Schlüssel heraus. Diesen steckt sie unter den Knöpfen in ein Schlüsselloch.

Schon bewegt sich der Lift und kurz darauf öffnet sich vor uns die Liftkabine. Wir betreten den Aufzug und sie steckt den Schlüssel wieder in ein Schlüsselloch. Gleichzeitig drückt sie den Knopf für das unterste Kellergeschoß. Der Lift setzt sich in Bewegung und kommt ganz unten wieder zum Stehen. Die Tür öffnet sich.

Wir treten aus der in hellen Farben gehaltenen Klinikwelt in eine völlig andere Umgebung hinaus. Die Krankenschwester öffnet eine Tür und wir betreten einen langen Gang aus nacktem Sichtbeton, von dem in gewissen Abständen seitlich Türen abgehen. Die Schwester geht mit raumgreifenden Schritten den Gang entlang. Ich versuche mit ihr Schritt zu halten.

„Hier unten ist unsere ganze Technik,“ erklärt sie mir unterwegs. „Das meiste ist ziemlich kompliziert und auch sehr teuer. Deshalb haben Besucher hier normalerweise auch keinen Zutritt.

„Sie bekommen doch meinetwegen keinen Ärger?“ erkundige ich mich zögernd.

„Ach was!“ lacht sie. „Hier unten ist mir immer irgendwie unheimlich zumute. Daher bin ich froh, dass sie mich begleiten.“

Den Rest des Weges legen wir schweigend zurück. Die Krankenschwester atmet erleichtert auf, als wir das Ende des Ganges erreicht haben. Sie öffnet die Tür vor uns und wir stehen in genauso einem Lift-Vorraum. Wieder folgt das Gleiche: Sie holt mit dem Schlüssel die Aufzugkabine zu uns herunter und wir fahren durch bis zur obersten Ebene der Kinderklinik.

Auf der Fahrt nach oben spricht sie mich in energischem Ton an:
„Sie sollten wirklich einmal mit ihrer Frau ein ernstes Wort reden über ihre Genesung. Der Chefarzt ist eigentlich ein geduldiger Mann. Aber er wird allmählich wirklich zornig. Ihre Frau begreift anscheinend nicht, dass ihre Verletzungen nur mit viel Ruhe auskurieren.“

Im betrübten Ton antworte ich ihr:
„Wem sagen Sie das? Wahrscheinlich weiß meine Frau das auch. Aber der Besuch der Dame vom Jugendamt lässt sie wieder völlig unvernünftig handeln. Wir wollen Lea adoptieren. Diese Dame vom Jugendamt will sie uns wegnehmen. Meine Frau hat vor fünf Jahren ihr Kind durch einen schweren Verkehrsunfall verloren. Sie denkt, das Schicksal hat ihr ein Kind genommen. Nun hat ihr das Schicksal das Kind zurückgegeben. Sie wird wie die sprichwörtliche Löwin um das Kind kämpfen! Bitte behalten Sie die Information aber für sich. Lassen Sie sich bitte nie dazu hinreißen, etwas davon laut zu sagen.“
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Mo Sep 02, 2024 9:09 am

Die Krankenschwester nickt verstehend. In diesem Moment hält der Aufzug und die Tür öffnet sich zum bekannten Gang hinaus.

Leas Zimmer liegt am Ende des Ganges. Sie öffnet die Tür und wir stehen in der Schleuse. Die Krankenschwester greift automatisch zu der Schutzkleidung.

Wie üblich ignoriere ich die Schutzkleidung und warte ungeduldig bis die nächste Tür der Schleuse geöffnet wird. Die Intensivschwester hier oben setzt neuerlich zu einer Zurechtweisung an, weil ich die Schutzkleidung nicht angelegt habe. Dann leuchtet In ihren Augen Erkennen auf und sie sagt:

„Herr Möbius! Ihre Frau ist auch hier.“

Im Weitergehen spüre ich eine Veränderung. Der Gang neben der Glasscheibe ist leer. Stattdessen steht die Tür auf, die ins Zimmer führt. Drinnen befinden sich außer Lea und der Krankenschwester, noch Jani in ihrem Rollstuhl und der Kinderarzt Dr. Kamenz. Jani hat Lea auf ihrem Schoss sitzen.

Die Leute schauen auf, als sie mein Eintreten bemerken. Jani dreht ihren Oberkörper mühsam im Rollstuhl um. Auf Janis Gesicht liegt das glücklichste Lächeln, das ich jemals bei ihr gesehen habe. Die Krankenschwester aus dem Bettenhaus bleibt vor der Tür im schmalen Vorraum stehen.

„Manni!“ ruft Jani überrascht aus. „Woher wusstest du, dass ich hier bin?“

„Ich habe eine Krankenschwester vom Bettenhaus hierher begleitet, die dich zurückholen will,“ antworte ich.

Von der Tür höre ich ein Rascheln, das sicher von der Schutzkleidung kommt, in die sich die Schwester am Eingang zur Intensivstation gehüllt hat. In diesem Moment verzieht Jani plötzlich schmerzhaft ihr Gesicht und krümmt sich auf dem Rollstuhl. Die Kinder-Krankenschwester springt herbei, um Lea aufzufangen, falls sie herunterfällt. Sie musste Jani das Mädchen beinahe gewaltsam entreißen, so fest hält sie die Kleine umklammert.

Ich bin hinzugetreten und greife nach Janis Hand. Dabei frage ich:
„Jani, was ist los?“

„Nichts!“ antwortet sie mit gepresster Stimme.

Immer noch sitzt sie weit vorgebeugt und hält sich mit der freien Hand die Seite. Sie zittert am ganzen Körper und plötzlich tritt ihr Schweiß aus allen Poren. Ihre Gesichtsfarbe wechselt zu Kalkweiß. Jani atmet zwei- dreimal tief durch die Nase ein und wieder aus. Danach richtet sie sich im Rollstuhl ganz langsam wieder auf.

„Ist schon gut…“ sagt sie. „Es … geht schon wieder.“

„Ja, das sehe ich!“ antworte ich ihr vorwurfsvoll.

Ich drehe mich zu der Schwester aus dem Bettenhaus um und winke sie herein.

„Bitte, bringen Sie meine Frau zurück auf ihre Station! Ich komme später nach.“

„Aber das ist nicht nötig!“ protestiert Jani. „Ich will…“

„Keine Widerrede!“ wird sie von Dr. Kamenz unterbrochen. „Ihr Mann hat vollkommen recht! Sie dürfen sich in ihrem Zustand nicht überanstrengen! Wenn Sie nicht vernünftig sind, werde ich mein Einverständnis in Zukunft verweigern, dass sie hierherkommen.“

Jani blickt den Arzt wütend an, sagt aber nichts dazu. Die Krankenschwester in der Schutzkleidung beginnt, den Rollstuhl rückwärts aus dem Zimmer zu bugsieren. Ich begleite sie bis zum Aufzug und verspreche:

„Ich komme später nach. Ehrenwort!“

Als sich die Aufzugtüren hinter ihr geschlossen haben, gehe ich zurück, drücke die Klingel und warte darauf, dass ich wieder eingelassen werde. Im Zimmer sage ich mit einem entschuldigenden Lächeln:

„Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es SO schlimm ist.“
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Di Sep 03, 2024 9:28 am

„Offensichtlich weiß ihre Frau das auch nicht,“ meint Dr. Kamenz. „Oder will es nicht wahrhaben.“

Er schüttelt den Kopf und ergänzt:
„Sie sollten wirklich einmal ein ernstes Wort mit ihr reden.“

Ich verspreche es ihm, obwohl ich weiß, dass es kaum etwas nützen wird, bevor Jani nicht selbst von der Ernsthaftigkeit der Situation überzeugt ist.

Um auf etwas anderes zu kommen, schaue ich zum Kinderbettchen hinüber. Die Kinderkrankenschwester hat Lea hineingelegt, nachdem sie sie von Janis Schoß genommen hat. Aber die Kleine scheint nicht müde zu sein. Lea hat sich aufgesetzt, die Beine an den Körper gezogen, mit beiden Armen umschlungen und das Kinn auf ein Knie gestützt. Ich finde, dass diese Haltung sie seltsam erwachsen und nachdenklich aussehen lässt, nicht wie ein dreijähriges Kind. Leas Augen sind weit offen und erscheinen sehr wach. Sie mustern mich, Dr. Kamenz und die Krankenschwester irgendwie lauernd. Im Blick dieser, für mein Dafürhalten ganz und gar nicht kindlichen Augen liegt Aufmerksamkeit, aber auch ein Quäntchen Angst.

„Sagen Sie, Herr Dr.Kamenz,“ frage ich in verhaltenem Ton. „Glauben Sie an Wolfskinder?“

Ich habe die Frage kaum zu Ende formuliert, als ich seitwärts ein Rascheln vernehme. Neugierig schaue ich in diese Richtung. Die Kinderkrankenschwester, eine Kroatin, hat sich auf einem Stuhl gemütlich gemacht und eine Illustrierte aufgeschlagen. Beim Nennen des letzten Wortes meiner Frage ist ihr die Zeitung von den Knien gerutscht. Nun hat sie sich vornübergebeugt und sammelt sie wieder ein.

„Glauben schieben wir in der Wissenschaft beiseite,“ erklärt Dr. Kamenz. „Für uns zählt nur Wissen. Wir streben danach aus Unwissen Wissen zu generieren. Es hat in den letzten Jahrzehnten zwei oder drei Kinder gegeben, die nachweislich von Tieren aufgezogen wurden. Aber keines kann jünger als Lea gewesen sein, als es mit den Tieren in Kontakt gekommen ist. Ein Baby hätte unter Tieren nicht die geringste Überlebenschance gehabt.“

„Das ist die Meinung der Wissenschaft?“ frage ich nach.

„Genau!“ bestätigt er nickend. „Es ist eine Schande, dass Lea noch kein einziges Wort gesprochen hat, seit sie hier ist. Ich habe extra Schwester Vanja zu ihrer Betreuung abgestellt. Sie kennt ein halbes Dutzend Dialekte aus der Gegend ihres Fundortes.“

Während der Arzt spricht, schaue ich wieder zu Lea hinüber. Die Augen des Mädchens liegen auf mir. Nachdem der Chefarzt geendet hat, will ich ihn anschauen, wie man das macht, wenn man sich unterhält. Der Blick dieser dunklen großen Kinderaugen hat so etwas hypnotisches an sich, dass ich meinen Blick nicht abwenden kann.

„Was stimmt nicht mit ihr?“ frage ich mich mit leiser Stimme.

„Ich weiß, was Sie meinen,“ äußert sich Dr. Kamenz. „Sie muss tatsächlich eine ganze Weile unter den Wölfen verbracht haben. Sie hat schon einen Teil von deren Verhalten übernommen. Wissen Sie, dass sie knurrt, wenn ihr etwas nicht passt? Und dass sie beißt und kratzt, statt zu schreien, wie andere Kinder in ihrem Alter?“

Ich schüttele den Kopf. Gleichzeitig erinnere ich mich an das Erlebnis, als Jani mich um Hilfe gebeten hat, weil sie sie auf der Lichtung nicht bändigen konnte.

„Kinder in diesem Alter sind unglaublich aufnahmefähig,“ redet der Arzt weiter. „Sie passen sich rasend schnell an veränderte Bedingungen an. Wer weiß, unter welchen Bedingungen sie vorher gelebt hat. Vielleicht sind diese wilden Tiere die ersten Geschöpfe gewesen, von denen sie etwas Zuneigung bekommen hat.“
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Mi Sep 04, 2024 9:51 am

„Sie meinen, wir hätten sie dort lassen sollen?“ frage ich ihn nun.

Der Arzt schüttelt energisch den Kopf. Im ernsten Ton antwortet er:
„Sie wäre gestorben, wenn Sie sie nicht mitgenommen hätten. Ihre Frau und Sie haben richtig gehandelt.“

„Aber ihr fehlt doch jetzt nichts?“ frage ich ihn besorgt.

„Nein,“ entgegnet der Arzt. „Jedenfalls nichts körperliches.“

„Und geistig?“ dringe ich weiter in ihn.

„Ich bin kein Psychologe, aber soweit ich das beurteilen kann, ist sie in allen Bereichen vollkommen in Ordnung. Ihre Eltern haben vielleicht versäumt, ihr einige grundlegende Dinge beizubringen. Das ist alles. Mit ein bisschen Geduld und Liebe kann man das in Ordnung bringen.“

Er schaut mir nun direkt in die Augen und redet weiter:
„Ihre Frau möchte sie adoptieren, nicht wahr?“

Ich lächele schmerzlich und erkläre ihm:
„Ich glaube, es gibt nichts in der Welt, was sie davon abbringen wird.“

Dr. Kamenz meint lächelnd:
„Warum nicht? Es spricht absolut nichts dagegen. Wenn das stimmt, was ihre Frau über Lea erzählt hat, ist es das Beste was diesem armen Geschöpf passieren kann!“

Er macht eine Pause und schaut nun seinerseits zu Lea im Kinderbettchen hinüber. Ohne den Blick von dem Mädchen zu wenden, das nun seinerseits den Arzt aufmerksam anschaut, sagt dieser:

„Als ich erfahren habe, dass sie Beide Journalisten sind, war ich ein wenig in Sorge. Aber mittlerweile glaube ich, dass das überflüssig gewesen ist. Sie werden Lea nicht für eine Riesenstory missbrauchen, um durch sie reich zu werden, nicht wahr?“

Dr. Kamenz wendet sich zu mir und auch Lea schaut in meine Richtung.

„Sie könnten eine Menge Publicity daraus schlagen, und vermutlich eine Menge Geld!“ meint er. „Lea wäre eine Sensation! Ein Wolfskind! Sie könnten in alle Zeitungen und ins Fernsehen kommen. Man würde Ihnen jedes gewünschte Honorar zahlen. Dieses arme kleine Wesen könnte Sie zu Millionären machen!“

„Und Sie könnten darüber ebenfalls Millionär werden!“ werfe ich ihm hin. „Aber was Lea angeht, interessiert sich keiner von uns für Geld… Glaube ich.“

Ich lasse eine Gedankenpause verstreichen. Dann rede ich weiter:
„Jani und ich werden niemandem etwas von Leas Herkunft erzählen. Ich weiß, was wir ihr damit antun würden.“

Während des letzten Satzes weise ich in Richtung Lea.

„Wenn das so ist,“ antwortet der Arzt, „dann werde ich Ihnen helfen, wo ich kann! Ich hörte, Sie hatten eine Diskussion mit einer Jugendamtsmitarbeiterin.“

„Nicht ich,“ erwidere ich. „Janine hatte die unerfreuliche Begegnung. Es galt, einige Formulare auszufüllen und dabei hat die Dame fallen lassen, dass sie für Lea die Einweisung in ein Heim befürwortet.“

„Die Dame kann befürworten, was sie will,“ macht Dr. Kamenz mir Hoffnung. „Davor haben die Götter ein ärztliches Attest gesetzt, das ihre Meinung bestätigt. Sie können mir glauben, dass ich befürworte, Lea in einer Kleinfamilie wie der Ihren aufwachsen zu lassen!“

Nun schaut der Mann auf seine Uhr und entschuldigt sich:
„Ich habe noch eine Menge Schreibarbeit vor mir. Daher möchte ich mich jetzt verabschieden.“
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Do Sep 05, 2024 10:13 am

Er spricht es aus und wendet sich zur Tür. Ich nicke und folge ihm aus dem Zimmer. Schließlich habe ich Jani versprochen, so schnell wie möglich nachzukommen.

*

Inzwischen ist ein Jahr vergangen. Jani ist nach einem Vierteljahr endlich soweit genesen, dass sie nachhause entlassen werden konnte. Der Chef der Kinderstation in der Uniklinik bei uns in München hat Wort gehalten und für Lea ein Attest geschrieben, das es uns erlaubt die Adoption zu beantragen.

Wir haben eine Sprachtherapeutin engagiert, die sich über Monate bemüht hat, aus Lea menschliche Laute zu entlocken. Sie hat uns in die Therapie eingebunden und uns gezeigt, wie sie die Laute in Mund- und Rachenraum bildet. Lea hat zuerst interessiert zugeschaut, was die Erwachsenen da machen. Wochen später hört Jani den ersten menschlichen Ton aus Leas Mund. Von da an geht alles viel leichter. Bei Lea ist wohl eine gewisse Hürde zu überwinden gewesen.

Genauso ist das Essenlernen abgelaufen. Wir haben uns Bücher über Wölfe besorgt und genauso begonnen, Lea das Essen beizubringen: Dazu haben wir Nahrungsteile mit Messer und Gabel auf mundgerechte Stücke zerteilt, uns in den Mund gesteckt und per ‚Lebenskuss‘ Lea in den Mund gedrückt. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis wir herausgefunden haben, was der Kleinen schmeckt.

Von da an hat sie sich füttern gelassen. Gleichzeitig hat sie interessiert zugeschaut, wie wir essen. Bald haben wir ihr einen Löffel in die Hand gegeben und versucht, sie vom Teller essen zu lassen. Die Hälfte des Essens ist anfangs noch auf dem Boden gelandet. Aber wir haben sie gelobt und für jeden Fortschritt in den Arm genommen. Das hat sie unheimlich motiviert.

Zum Schlafen ist sie immer zu uns ins Bett gekommen. Wir haben es zugelassen, dass unser breites Ehebett seit dem Einzug von Lea von drei Personen benutzt wird. In den Publikationen über Wölfe heißt es auch, dass sie in ihren Wohnhöhlen eng aneinander gekuschelt schlafen. Dabei überträgt sich wohl ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Das kommt nun uns als Familie zugute.

Irgendwann sind wir mit Lea das erste Mal vor die Tür gegangen, um einen Spaziergang im Park zu unternehmen. Brav neben uns hergehen ist nicht so ihre Sache, haben wir bemerkt. Sie möchte laufen und an allem Neuen riechen. Die Neugier anderer Kinder ist durch neue Seh-Eindrücke leicht zu befriedigen. Lea braucht stattdessen umfassende Eindrücke aller Sinnesorgane.

Ihre Aktivität zwingt uns dazu, uns sportlich zu betätigen und über die Wege zu joggen. Gleichzeitig habe ich mir eine App auf mein Handy geladen, die mir die Pflanzen anzeigt, denen wir begegnen. Erstaunlicherweise zeigt Lea kaum irgendeine allergische Reaktion.

Bei meinen Recherchen im Internet ist mir das Buch einer Französin in die Hände gefallen. Ihre Eltern sind wie wir Journalistin und Fotograf. Sie haben jahrelang in Namibia gelebt. Dort hat die Journalistin ihr Kind zur Welt gebracht. Die Kleine ist unter wilden Tieren aufgewachsen. Eine Regelschule hat das Mädchen dadurch nicht besucht, wurde aber privat unterrichtet.

Mir ist bei dem Gedanken, Lea in die Regelschule gehen zu lassen, unwohl zumute. Es könnte zu Missverständnissen unter den Kindern kommen, die die Behörden sicher veranlassen werden, sie uns wegzunehmen. Ich spreche mit Jani darüber. Sie fragt mich:

„Wohin sollen wir denn auswandern, deiner Meinung nach? Die Tiere in Namibia sind für Lea bedrohlich. Wenn ich an Krokodile, Schlangen, Leoparden und Elefanten denke…“
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Fr Sep 06, 2024 9:43 am

"Wölfe sind ihr vertraut, Jani,“ meine ich. „Und der Canis lupus lebt überall auf der Nordhalbkugel. Was hältst du von Kanada oder Alaska?“

Als Antwort grummelt Jani etwas vor sich hin. Aber je näher Leas Einschulung kommt, desto drängender wird das Problem. Schließlich zeigt sie mir ein Prospekt aus dem Süden Alaskas. Ich informiere mich über den Flug und die Kosten. Schließlich buchen wir einen Hinflug für zwei Erwachsene und ein Kind und fahren zum angegebenen Abflugtermin zum Münchner Flughafen.

Dank deutscher Gründlichkeit dauern die Formalitäten vor dem Abflug etwas über eine Stunde. Lea bleibt wegen der ungewohnten Umgebung brav an Janis Hand. Ihr wacher Blick erfasst jede Bewegung in der Abflughalle. Schließlich sind wir soweit fertig, müssen aber auf den Aufruf unserer Maschine warten. Wir setzen uns dafür im Wartebereich auf die Sitze. Jani und ich haben die Anzeige im Blick.

Etwa eine Dreiviertelstunde nachdem wir uns hingesetzt haben wird der Flug nach Anchorage aufgerufen. Wir erheben uns und gehen zum Gate. Unsere Koffer haben wir aufgegeben. Jani hat nur ihre Handtasche am Schulterriemen umhängen und ich trage einen kleinen Rucksack mit den wichtigsten Sachen für unterwegs über einer Schulter.

Jani zeigt am Gate unsere Flugkarten vor. Sie werden von freundlichen Flugbegleitern gescannt. Dann dürfen wir durch die Gangway zur Maschine gehen. Wir haben eine ganze Sitzbank reserviert. Ich lasse Lea an das Fenster durchgehen. Danach setzen wir uns.

Nun müssen wir uns anschnallen. Jani hilft Lea mit den Gurten. Unser Mädchen kennt das schon vom Autofahren und lässt sich von Jani ohne Probleme den Gurt anlegen. Kurz darauf kommt ein Flugbegleiter an uns vorbei, schaut kurz über unsere Gurte, lächelt und geht zu den nächsten Passagieren. Ein paar Minuten nachdem wir uns gesetzt haben höre ich ein leises ‚Ping‘. Auch Lea ist sofort wieder aufmerksam. Sie lässt ihr Plüschtier los.

Direkt nach dem ‚Ping‘ spüre ich die Vibration des Kabinenbodens. Einen Moment später kippen die Sitze plötzlich nach hinten und der Kabinenboden bekommt eine starke Schräge. Lea wird unruhig. Jani muss all ihre Beruhigungskunst anwenden, um Lea auf ihrem Platz zu halten. Nach wenigen Minuten haben wir die Reiseflughöhe erreicht und der Pilot kippt die Maschine wieder in die Waagerechte zurück.

Nun haben wir einen 15stündigen Flug vor uns. Wir essen gut und zum Schlafen vereinbare ich mit Jani, dass wir wechselweise schlafen wollen, um ein Auge auf Lea zu haben. Für sie ist es der erste Flug in ihrem jungen Leben, während wir als Fotojournalisten schon oft geflogen sind.

Wir sind um 14Uhr Ortszeit in München gestartet und am Ziel werden wir 19Uhr Ortszeit haben, da wir gegen die Erddrehung fliegen. Die Landung im Ted Stevens Anchorage International Airport verläuft aus Sicht von uns Passagieren wenig spektakulär. Wir bekommen nicht mit, dass das Flugzeug an Höhe verliert. Erst als der Jet auf der Landebahn aufsetzt, spüren wir einen Stoß. Kurz darauf werden von den Flugbegleitern die Türen geöffnet und wir dürfen die Maschine verlassen.

Unser erstes Ziel ist die Gepäckausgabe in der Ankunftshalle. Nach dem Auschecken und dem Empfang unserer Koffer gehen wir auf den Ausgang zu. Draußen müssen wir feststellen, dass der Überlandbus nach Houston vor anderthalb Stunden abgefahren ist. Die Linie bedient die Strecke im vierstündigen Rhythmus. Also müssen wir zweieinhalb Stunden auf die nächste Abfahrt warten. Die Busfahrt selbst soll etwa eine Stunde dauern. Wir werden also gegen 22:30 in Houston ankommen. Ich bete, dass um diese Zeit noch jemand im Hostel ist, der uns einchecken lässt.

Jani schlägt vor, dass wir in der Wartezeit durch die Shopping-Mall des Flughafens spazieren und schauen, ob wir einen Laden finden, indem wir unsere SIM-Karte aus Europa gegen eine tauschen, die hier gültig ist. Ich halte das für eine gute Idee. Eine halbe Stunde später hat Jani ihre Karte gegen eine SIM-Karte von Amazon ausgetauscht.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Sa Sep 07, 2024 10:07 am

Sie ruft sofort in dem Hostel in Houston an und berichtet der Frau, die sich meldet, dass wir voraussichtlich gegen 23Uhr ihr Hostel erreicht haben. Sie erklärt uns, dass wir das Blockhaus umrunden müssen und unter der Matte am Hinterausgang unseren Zimmerschlüssel finden. Jani bedankt sich vielmals. Ein großer Stein fällt uns vom Herzen.

Als zweieinhalb Stunden nach unserer Ankunft endlich der Bus auf den Parkplatz des Flughafens fährt, entern wir das silberne Fahrzeug als erste. Mit uns steigen um diese Uhrzeit allerdings nur eine Handvoll weiterer Passagiere ein. Schließlich fährt der Bus ab und nimmt eine Route auf der rechter Hand nur Wasser zu sehen ist. Bald löst jedoch Dunkelheit die Dämmerung ab und das wunderbare Panorama wird von einer undurchdringlichen Schwärze abgelöst.

Als wir Houston erreichen und der Bus hält, steigen wir aus und orientieren uns an der virtuellen Karte von Google-Maps. Etwa zehn Minuten später stehen wir vor dem Bed&Breakfast, einer größeren Blockhütte. Wir finden den Hintereingang und unter der Fußmatte unseren Zimmerschlüssel. Also schließt Jani die Tür auf und wir schauen uns innen um.

In den Gasträumen und Gängen, sowie auf der Treppe ins Obergeschoß brennt ein schwaches Licht. Nach einer Weile haben wir unser Zimmer entdeckt und schließen die Zimmertür auf. Angesichts der Uhrzeit, wir haben jetzt etwa 9Uhr in Europa, während wir hier etwa um Mitternacht haben, legen wir uns zuerst in dem breiten Bett aus roh gezimmerten dünnen Stämmen schlafen.

In dem Zimmer liegt ein Prospekt auf einer Ablage. Darin ist die Uhrzeit fürs Frühstück genannt. Zu dieser Zeit sind wir am Morgen im Gastraum und setzen uns an einen Tisch. Es dauert nicht lange bis eine junge Frau ihren Kopf durch eine Tür in den Gastraum streckt und uns entgegenlächelt.

„Three regular breakfast?“ fragt sie. „Coffee or tea?“

Ich nicke und Jani bestätigt ihre Frage mit mir im Chor. Wir bestellen Kaffee und ein Glas Orangensaft. Sie bringt uns zuerst die Getränke an den Tisch und verschwindet nach einem freundlichen Lächeln wieder in der Küche. Ich habe den Eindruck, dass die junge Frau sicher zu den First Nations gehört.

Nach zehn Minuten bringt sie unser Frühstück aus der Küche, indem sie je ein Teller in den Händen hält und den dritten Teller auf ihrem Unterarm balanciert. Sie platziert die Teller vor uns und wünscht uns „Guten Appetit“.

Wir bedanken uns höflich und schauen, was man hier unter dem regulären Frühstück versteht. Wir Erwachsenen haben Rührei mit Speck und dazu Weißbrotscheiben. Lea hat anscheinend ein Kindermenü erhalten: Einen übergroßen Hamburger mit Käse und Speck. Sie macht große Augen, als sie ihr Frühstück sieht.

„Iss soviel du magst,“ ermuntert Jani unsere Kleine.

Lea stoppt, nachdem sie etwa die Hälfte gegessen hat und schaut zu Jani auf. Jani nickt und sagt:
„Alles in Ordnung, Liebes. Wir teilen uns den Rest.“

So geschieht es dann auch. Jani schneidet den Rest-Hamburger durch und gibt mir mit einem Lächeln die größere Hälfte. Ich nicke und mache mich über Leas Restfrühstück her. Dabei erinnere ich mich an eine Publikation über Wölfe, in der es heißt, dass sie alles auffressen. Danach sehen sie manchmal aus, als wären sie schwanger. Jetzt ziehen sie sich in ihre Wohnhöhle zurück und verdauen die aufgenommene Nahrung. Je nach Nahrungsaufnahme kann es daher mehrere Tage dauern, bis sie wieder auf die Jagd gehen. Leise vor mich hin lächelnd, denke ich daran, dass wir Lea eine weitere Eigenart der Wölfe abgewöhnen konnten.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1So Sep 08, 2024 10:31 am

Nach dem Frühstück gehen wir in unser Zimmer zurück und packen unsere Koffer aus. Das Hostel ist für die nächste Woche unser Zuhause. Für Mittag- und Abendessen werden wir eins der Restaurants in der Stadt aufsuchen. Unten im Gastraum habe ich einen Prospekt-Ständer gesehen und mich mit einer Handvoll Prospekte eingedeckt, die ich zusammen mit Jani durchsehe, wenn wir von den Spaziergängen und Jogging-Runden mit Lea zurückkommen.

Unter den Prospekten ist auch eine Publikation, die uns einlädt, die hiesigen First Nations zu besuchen. Es werden verschiedene Touren angeboten. Vor unserem Start habe ich ein Wurfzelt und drei Schlafsäcke im Campingbedarf gekauft, die wir in Rucksäcken mitführen.

Für eine der Touren müssen wir mit einem Wasserflugzeug von hier starten. Es geht nach Südosten in das Grenzgebiet zwischen Kanada und Alaska. Viele Buchten zerschneiden das Land. Nur ein schmaler Küstenstreifen gehört dort noch zu Alaska.

Unsere Cesna fliegt uns nach Ketchikan, Alaskas südlichster Stadt, wo wir drei Stunden später durch die Schwimmer unter dem Flugzeug auf dem Wasser landen. Der Pilot steuert einen Landungssteg in der Mündung des Ketchikan Creek an, wo wir drei und unser Guide aussteigen.

Unser Guide macht uns sogleich mit einer Gruppe der First Nations bekannt, die hier in Ketchikan eine Kanu-Vermietung betreiben. Wir erfahren, dass der Ort keine Anbindung an das Festland hat. Die Tongass Avenue, die mitten durch das Städtchen führt ist nur 30 Meilen lang und endet an den Ufern eines Flusses und eines Meeresarms. Ketchikan kann man also nur per Fähre oder Flugzeug erreichen – oder mit einem Boot der Indigenen hier.

Nach dem Mittagessen geht unsere Bootstour los. In das Kanu der Indigenen passen wir Drei mit unserem Gepäck und die beiden Männer an Bug und Heck mit ihren Stechpaddeln. Wir fahren einige Stunden durch eine grandiose Landschaft. Über uns ziehen Weißkopfseeadler ihre Kreise. Schließlich erreichen wir eine Siedlung der Indigenen, die sich hier ‚Tlingit‘ nennen. Sie leben in einfachen Holzhütten, die um einen freien Platz angeordnet sind. Auf diesem Platz steht eine hohe hölzerne Säule mit vielen Schnitzereien. Auch ist sie bunt bemalt. Ein Totempfahl, das Zeichen des Clans, der hier wohnt.

Eine der Hütten aus dicken Brettern besitzt ebenfalls Schnitzereien und bunte Bemalung. Ich frage einen der Indigenen:

„Is this your chief‘s home?“

Er bestätigt es mir. Also frage ich, ob der Mann vielleicht Zeit hätte, uns kurz anzuhören. Mein Gesprächspartner nickt und erklärt, dass er gerne nachfragen würde.

Es dauert zwei Stunden, in denen wir durch den Ort und seine Umgebung spazieren, bis sich uns ein Junge nähert und erklärt, dass er uns zum Chief führen soll. Inzwischen hat die Abenddämmerung schon eingesetzt und wir haben uns schon darauf vorbereitet, erst einmal eine Nacht bei den Hütten zu zelten.

Wir kommen vor der Hütte an. Der Junge ruft irgendetwas. Daraufhin tritt ein Mann vor die Tür. Über die Schultern trägt er einen schwarzen Umhang mit breiten roten Einfassungen. Auf dem Kopf trägt er einen Hut aus Flechtwerk, der mich entfernt an frühere ostasiatische Hüte erinnert. Nur dass dieser hier ein zylinderförmiges Mittelteil besitzt. Nach ihm tritt eine ältere Frau in der gleichen Aufmachung vor die Hütte. Sie hat sich eine hölzerne Schnitzerei vor die Stirn gebunden, die den Kopf eines Caniden darstellen könnte.

Wir werden hereingebeten und sollen uns im Inneren an der Feuerstelle niederlassen. Lea geht an Janis Hand. Sie schaut sich aufmerksam um. Als wir uns im Schneidersitz neben dem Feuer gegenübersitzen, meine ich ein leises Knurren aus Leas Mund zu hören. Sie scheint aufgeregt zu sein.
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BeitragThema: Re: Unser Wildfang   Unser Wildfang Icon_minitime1Mo Sep 09, 2024 10:03 am

Der Chief begrüßt uns und fragt, was uns zu ihnen geführt hat. Ich erkläre ihm offen:
„Wir möchten eine Geschichte über die Wildtiere Alaskas schreiben, ganz besonders die Wölfe. In unserer Heimat gibt es zwar schon viele Geschichten über sie. Die wenigsten beschreiben aber die Wölfe in ihrer freien Umgebung. Oft werden nur Forscher interviewt, die ihre Erkenntnisse von Wölfen haben, die in Gefangenschaft gehalten werden. Wir wollen die Tiere in der freien Wildbahn erleben, ihr Verhalten hier beschreiben und Fotos von ihnen machen. In der Kulturlandschaft in Europa ist das leider kaum möglich.“

Der Chief nickt mehrmals, während meiner Erklärung. Es gibt Essen. Nach einer Weile fragt er:
„Sie wollen ihre Beobachtungen von hier aus starten?“

Jani nickt und erklärt:
„Es wäre wunderbar, wenn wir unser Zelt hier errichten dürften!“

„Eins interessiert mich,“ hebt der Chief zu sprechen an. „Haben Sie sich im Vorfeld über unser Volk informiert?“

„Nur sehr oberflächlich,“ gebe ich zu und spreche aus, was ich über die Tlingit auf dem Weg hierher im Internet gelesen habe:
„Die Tlingit haben vor langer Zeit weit im Norden ihre Heimat gehabt. Irgendwann sind sie nach Süden gezogen und haben sich schließlich hier angesiedelt. Als Jäger und Sammler sind Bär und Wolf ihre Nahrungskonkurrenten gewesen. Die Tlingit sind matrilinear organisiert. Sie leben in hölzernen Langhäusern, in denen Platz für einen ganzen Clan ist. Mehrere dieser Häuser bilden ein Dorf. Die heutige Lebensgrundlage der Tlingit ist die Fischerei. Aber auch die Robbenjagd gehört dazu. Auch Rotwild wird gejagt. Daneben sind die Tlingit gute Handwerker, die Frauen hervorragende Weberinnen.“

„Hm, okay,“ meint der Chief. „Das ist schon mehr, als der normale Tléit Kaa -Weiße- über uns weiß. Kennst du auch etwas über unsere Götter und Geister?“

„Am Anfang gab es einen alten Mann der drei Kisten bewachte. Eines Tages hat ihn ein Rabe überlistet und die Kisten geöffnet. Seitdem wandern Sonne, Mond und Sterne über den Himmel. Für die Tlingit ist jedes Wesen und jedes Ding beseelt. Dementsprechend ist die Jagd mit vielen Ritualen begleitet. Um die kulturelle Identität der Tlingit sicher zu stellen, ist die Überlieferung der alten Sitten und Gebräuche genauso wichtig, wie die landwirtschaftliche Selbstversorgung. Trotzdem werden auch Gegenstände für die lokalen Märkte hergestellt, um auf diese Weise eine Reihe notwendiger Güter zu erlangen, die man nicht selbst herstellen kann.“

„Ich bin beeindruckt über ihr Wissen!“ erklärt der Chief. „Und Sie sind bereit, uns unsere Identität zu lassen?“

Jani schüttelt den Kopf und antwortet:
„Wir sind Fotoreporter, aber keine Missionare! Sollten einmal Tlingit auf unseren Fotos auftauchen, dürfen Sie entscheiden, ob wir das Bild verwenden dürfen oder nicht!“

Die Frau des Chiefs greift in diesem Moment lächelnd Leas hölzerne Schale. Sicher denkt sie, dass unsere Kleine keinen Hunger mehr hat. In diesem Moment entblößt Lea ihre Zähne und lässt ein lautes Knurren hören, das kaum noch menschlich genannt werden kann. Das Lächeln der Frau erstirbt. Sie sagt:

„Gibuu -Wolf-!“ und zieht sich zurück.

Im flackernden Licht der Feuerstelle hat Leas Reaktion etwas Bedrohliches. Jani wendet sich Lea zu und fordert sie auf:

„Wenn du noch essen magst, dann tu es, bitte. Anderenfalls gib das Essen ruhig weiter. Niemand will dir dein Essen stehlen!“

Der Chief fragt mit ernstem Gesicht:
„Ist das ihre Tochter?“
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