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 Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?

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BeitragThema: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Do Apr 27, 2023 10:04 am

Mama schneidet eine Dattel klein und schiebt sie mir Stückchen für Stückchen in den Mund. Dazwischen gibt sie mir einen kleinen Schluck Wasser zu trinken. Irgendwann kommt Papa nachhause. Mama schaut ihn fragend an, aber er schüttelt nur den Kopf, wie so oft in der letzten Zeit.

Heute weiß ich, dass Papa morgens auf den Marktplatz geht. Er bietet dort seine Arbeitskraft an. Aber die Marktbesucher brauchen immer nur eine kurzfristige Hilfe. Es gibt keine dauerhafte Arbeit. Die Sonne hat unser Feld verdorren lassen. So bleibt nur, in der Abenddämmerung zum Marktplatz zu gehen und vom Boden aufzulesen, was im Laufe des Tages heruntergefallen ist.

Das Wetter ist unberechenbar. Die Sonne trocknet die Erde aus. Dann kommen starke Regenfälle, die alles wegschwemmen. Sogar in Trockenzeiten ist es gefährlich, durch die Wadis -Flussbetten- zu wandern. Irgendwo anders kann ein Regenguss heruntergekommen sein. Nun wälzt sich eine Flutwelle das Flussbett herunter, die alles mit sich reißt. Menschen und Tiere ertrinken darin.

Irgendwann hat Papa gesagt:
„Wir müssen nach Europa! Dort gibt es Arbeit im Überfluss.“

Er spricht mit dem Großvater, der nun den Familienrat zusammenruft. Papa gibt Opa sein Feld zurück. Die Familie legt nun Geld zusammen und ermöglicht uns damit das Reisen. Papa verdingt sich bei einer Karawane als Kameltreiber. Mama übernimmt das Kochen für die Männer.

Ich sitze in einem Tuch auf Mamas Rücken und schaue mir die Welt von dort aus an. Es gibt immer Neues zu sehen. Mama und Papa wandern viele Wochen mit mir in der Karawane. Dann haben wir das große Wasser erreicht. Es schlägt in Wellen gegen das Land. Papa verhandelt mit einem Mann und gibt ihm alles Geld, was wir haben.

Der Mann führt uns zu einem großen Boot, auf dem die Menschen schon dicht an dicht sitzen. Wir steigen hinzu. Mama und Papa drücken sich mit mir zwischen die anderen Menschen. Nach uns kommen noch ein paar Leute und drängen ebenfalls auf das Boot. Ich kann kaum noch atmen.

Schließlich fährt das Boot los. Zuerst geht es in schnellem Rhythmus auf und ab. Mir wird schlecht. Aber bald wird die Fahrt ruhiger. Der Abend bricht an. Ich schlummere ein. Plötzlich werde ich wach. Es ist noch ganz dunkel. Das Boot schwankt. Immer wieder werde ich nassgespritzt. Dann ertönt ein gefährliches Krachen. Wir befinden uns inmitten der vielen Menschen. Um uns herum ist nur Wasser.
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Fr Apr 28, 2023 9:20 am

Mama schwimmt mit mir auf ihrem Rücken und versucht sich von den anderen Menschen zu entfernen. Papa ist anfangs noch bei uns. Dann sehe ich, dass jemand sich an ihn klammert. Papa versucht sich zu befreien. Er taucht immer wieder unter, kommt wieder hoch, atmet und taucht wieder unter. Inzwischen klammert sich noch jemand an ihn. Nach einiger Zeit sehe ich Papa nicht mehr.

Nachdem Mama sich mit aller Kraft von den anderen Menschen freigeschwommen hat, werden ihre Schwimmbewegungen langsamer. Auf einmal geht ein starkes Licht an. Ich muss die Augen schließen und den Kopf wegdrehen. Mama schwimmt wieder kraftvoller.

Ein Motor kommt brummend näher. Das Geräusch ist ähnlich dem Motor des Bootes, in dem wir losgefahren sind. Dann höre ich Männer rufen. Was sie sprechen, kann ich nicht verstehen. Mama wird mit vielen anderen Menschen auf das Boot gezogen. Es bringt uns zu einer riesigen Schaukel, auf die wir klettern sollen. In einem festen Rahmen ist ein Netz gespannt, auf das wir uns setzen sollen. Dann fährt das Boot wieder weg, um sich kurz darauf wieder mit weiteren Menschen zu nähern.

Als so viele Menschen auf dem Netz sitzen, dass sicher niemand mehr darauf passt, wird das Netz angehoben. Der Abstand zu dem Wasser unter uns vergrößert sich mehr und mehr. Nun schwenkt das Netz über etwas Metallisches. Männer und Frauen stehen da und helfen uns aufzustehen. Mama stolpert oft beim Heruntergehen vom Netz, wird aber immer wieder aufgefangen. Schließlich wird das Netz weggeschwenkt und verschwindet hinter einer Mauer aus Metall.

Wir werden durch eine Tür in eine Halle geführt, in der sich ein Berg trockener Kleidung befindet. Wir erhalten auch Tücher zum Trockenrubbeln und werden zu Umkleidekabinen mit Stoffwänden geführt. Mama holt mich von ihrer Schulter und stellt mich neben sich auf den leicht schwankenden Boden. Nun trocknet sie mich und sich ab.

Danach hilft sie mir in die trockene Kleidung. Diese Art Kleidung kenne ich noch nicht. Man muss seine Beine in Röhren stecken und mit einem festen Band um den Bauch festmachen. Darüber kommt ein knielanges Hemd. In unserer Heimat haben die Männer ein Tuch diagonal halbiert und zwei Zipfel vor dem Bauch zusammengeknotet. Dann haben sie den dritten Zipfel zwischen den Beinen nach vorne geholt und hinter den Knoten vor dem Bauch geklemmt. Darüber haben Männer ein knöchellanges Hemd getragen. Frauen haben ein Tuch über der Schulter geknotet und die offene Seite locker zusammen genäht. Wir Kinder haben knöchellange Hemden getragen.
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Sa Apr 29, 2023 9:33 am

Nachdem Mama mich und sich angekleidet hat, machen wir die Kabine für andere Leute frei. Anschließend werden wir in einen großen Raum geführt, wo wir uns auf ein Gestell setzen können. Wir erhalten eine Suppe, die wir mit einem unbekannten Werkzeug aus einer Schüssel nehmen sollen. Heute weiß ich, dass es sich um einen Löffel gehandelt hat. Mama schiebt erst mir einen vollen Löffel in den Mund, nachdem sie darüber geblasen hat. Danach nimmt sie ebenfalls einen Löffel von der Suppe.

*

Wieviele Tage wir so unterwegs gewesen sind, weiß ich nicht. Irgendwann geht ein Stoß durch das Schiff und wir werden aufgefordert, nach draußen zu gehen. Wir werden an Land geführt. In einer großen Halle muss Mama viele Fragen beantworten und ein Heft abgeben. Auch dort stehen Gestell an Gestell. Heute weiß ich, dass man sie Feldbetten nennt. Tücher hängen von der Decke und geben etwas Privatsphäre, indem sie die Halle unterteilen.

Auch hier müssen wir viele Tage bleiben. Dann holen uns Busse ab und bringen uns zu einem unbekannten Ziel. Als wir dort aussteigen, werden wir von fremden Menschen freundlich empfangen. Mama und mich bringt man zusammen mit einer anderen Frau und deren kleinem Sohn in einer Wohnung unter.

Darin hat jede Frau zusammen mit ihrem Kind ein Zimmer zur Verfügung. Zu der Wohnung gehört noch ein Wohnraum, eine Küche und ein Bad. Neben einem unbekannten Sitz gibt es in dem Bad auch ein viereckiges Becken, in das man Wasser einlassen kann.

Frauen besuchen uns, die unsere Sprache sprechen. Sie sprechen aber auch eine andere Sprache und ermuntern uns, die neue Sprache zu lernen. Nach vielen Wochen bringt eine der Frauen Mama und mich zu einem Haus, in dem viele Kinder miteinander spielen. Dort muss ich mich von Mama trennen. Ich bin traurig und will Mama nicht loslassen, aber Mama verspricht mir, mich am Abend wieder abzuholen.

Von nun an spiele ich tagsüber mit fremden Kindern, die die neue Sprache sprechen und helle Haut haben. Sie spielen fremde Spiele und mittags gibt es fremdes Essen. Irgendwann erzählt mir Mama, dass sie zu einer anderen Frau geht und dort arbeitet, während ich mit den Kindern spiele. Mama repariert kaputtgegangene Kleidung. Sie kann gut nähen!
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1So Apr 30, 2023 10:22 am

So vergehen viele Monate. Dann komme ich in die Schule und lerne schreiben, lesen und rechnen. In den Pausen dürfen wir draußen auf dem Hof herumtoben. Wir spielen meistens Nachlaufen. Ich habe viel Spaß dabei.

Irgendwann stellt Mama mir einen neuen Mann vor. Er hat die helle Haut der Menschen, die hier wohnen. Der Mann arbeitet in einer nahen Fabrik. Mama sagt, dass der Mann nun mein neuer Papa wäre. Er fährt mit Mama und mir in seiner Freizeit öfter in Freizeitparks. Mama ist nach solch einem Besuch immer in gelöster Stimmung. Auch ich bin froh. In der neuen Heimat brauchen Kinder den Erwachsenen nicht mehr bei der Arbeit helfen. Das Leben ist viel leichter als in der Heimat. Die Erinnerung an sie verblasst immer mehr.

Es gibt aber auch Zeiten, in denen Mama mit mir allein in der Wohnung ist. Mama kocht dann, oder säubert die Wohnung. Auch repariert sie unsere Kleidung. Wenn ich mit Mama alleine bin und mir in meinem Zimmer mit meinen Spielsachen langweilig wird, laufe ich zu Mama und schaue ihr zu bei dem, was sie gerade macht. Dabei gibt sie mir kleine Aufgaben, die ihre Arbeit etwas erleichtern. Sie ist froh über meine Hilfe und lobt mich. Das macht mich stolz.

Bald wächst ihr Bauch. Sie streicht manchmal zärtlich darüber und erklärt mir, dass darin ein Geschwisterchen wächst. Papa kommt nun aber in der Zeit, in der ich wach bin, immer seltener nachhause. Oft hat Mama mich schon ins Bett gebracht und mir eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt, als sich die Wohnungstür mit Gepolter öffnet. Sie sagt mir schnell:

„Gute Nacht, meine Große!“

Danach kümmert sie sie um Papa, denn wenn Papa in dieser Zeit nachhause kommt, ist er unsicher auf den Beinen. Mama führt ihn ins Wohnzimmer und zieht ihm die Schuhe aus. Papa hört sich nun nicht mehr sanft und freundlich an, sondern er schimpft auf alles und jeden. Mama kann ihm nichts mehr recht machen.

Sie kann sich ihm gegenüber nur mit Worten wehren, denn er ist stärker als sie. Nachdem sie ihm die Schuhe ausgezogen hat, bringt sie ihm das liebevoll bereitete Abendessen. Oft schmeckt es ihm nicht. Dann geht der Teller zu Bruch. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf. Mein Atem stockt. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich habe Angst um Mama. Dumme Gedanken tauchen in meinem Kopf auf:

‚Ist das alles meine Schuld? Wenn Papa laut wird, habe ich Schuld daran? Ich kann Mama nicht helfen, bin zu klein. Wenn die Tür knallt, dass mir das Herz stehen bleibt, habe ich Schuld daran?‘
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Mo Mai 01, 2023 10:45 am

Irgendwann wird es ruhig. Ich kann Mama noch eine Weile hören, wie sie die Scherben zusammenkehrt. Dann schlafe ich ein. Am nächsten Tag ist er schon weg, bevor ich zur Schule gehen muss.

Wochen später erklärt Mama mir, wie ich nach der Schule zu der Frau finde, die uns damals geholfen hat, in dem fremden Land Fuß zu fassen und uns die neue Sprache beigebracht hat. Als die Schule zu Ende ist, gehe ich deshalb nicht nach Hause, sondern zu der Adresse, die mir Mama genannt hat. Dort angekommen, sehe ich, dass es sich um ein großes Bürohaus handelt. Am Eingang gibt es eine Information. Dort frage ich, in welchem Büro Frau Baumann arbeitet.

Die Dame erklärt mir, wie ich zu ihr finde. Ich öffne die Bürotür, aber Frau Baumann schickt mich wieder kurz vor die Tür. Ich soll mich in den Gang setzen und warten, bis sie Zeit für mich hat. Bald kommt jemand aus dem Büro und Frau Baumann bittet mich zu sich herein. Sie bietet mir einen Platz an einem kleinen Tisch an und setzt sich zu mir. Dann begrüßt sie mich, freundlich lächelnd:

„Hallo Feven -die Strahlende, Glänzende-, deine Mama hat mich angerufen. Sie ist heute Vormittag ins Krankenhaus gekommen und hat einem kleinen Brüderchen das Leben geschenkt. Sie wird die nächsten Wochen in einem Mutter-Kind-Heim unterkommen und ich soll dich dorthin bringen.“

Ich schaue Frau Baumann erstaunt an. Sie führt mich in einen Nebenraum. Hier kann ich in Ruhe meine Hausaufgaben erledigen, während Frau Baumann noch Gespräche mit unterschiedlichen anderen Leuten führt. Später begleitet sie mich aus dem Bürohaus. Wir gehen in Richtung U-Bahn und dort an den Fahrkartenschalter.

„Ich brauche eine Viererkarte für die U-Bahn,“ sagt sie, „und diese junge Dame benötigt eine Schülerfahrkarte.“

Sie beantwortet die Fragen der Frau hinter dem Glasfenster und nach einer Weile kommen die Fahrkarten über eine drehbare Schublade am unteren Rand des Fenstern zu uns heraus. Frau Baumann gibt mir die Schülerfahrkarte und meint:

„Pass gut darauf auf, Feven!“

Also nehme ich meine Schultasche von der Schulter und stecke ich die Fahrkarte hinein. Frau Baumann sucht nun ein Prospekt aus einem Ständer. Sie kreist darauf zwei U-Bahn-Stationen ein und erklärt mir, das einer der Kreise die Station beschreibt, in deren Nähe meine Schule liegt. Der andere Kreis bezeichnet die Station, in deren Nähe das Mutter-Kind-Heim liegt. Frau Baumann zieht auch zwei Blätter aus ihrer Handtasche und erklärt mir:

„Das hier sind zwei Kopien des Stadtplans, mit deren Hilfe du anfangs von den U-Bahn-Stationen allein zur Schule oder zu dem Heim finden kannst, Feven.“
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Di Mai 02, 2023 11:19 am

Anschließend fahre ich zum ersten Mal in meinem Leben mit der U-Bahn. Frau Baumann begleitet mich in das Heim, grüßt die Frau an der Information und führt mich ein paar Treppen hinauf und Gänge entlang. Sie bleibt endlich vor einer Tür stehen und zeigt mir die Nummer neben der Tür. Sie fordert mich auf:

„Feven, präge dir diese Raumnummer gut ein! Hier wohnst du mit deiner Mama und dem Brüderchen in der nächsten Zeit!“

Danach klopft sie und öffnet mir die Tür. Sie lässt mich an sich vorbei den Raum betreten. Drinnen sehe ich Mama auf einem Bett sitzen. In ihrem Arm hält sie ein schwarzhaariges Baby. Das Kleine nuckelt an Mamas Brust. Übereck steht eine kleine Couch. Frau Baumann grüßt Mama und erklärt mir anschließend, dass die Couch in der nächsten Zeit mein Schlafplatz sein wird. Ich frage:

„Wo ist Papa?“

Frau Baumann hockt sich vor mich, um zu mir auf Augenhöhe zu kommen. Danach sagt sie:
„Dein Papa ist auch in einem Krankenhaus. Er hat sich entschlossen eine Therapie zu machen. In der Zeit darf ihn niemand besuchen, verstehst du?“

„Aha,“ antworte ich mit gekräuselter Stirn.

„Erst danach dürft ihr Drei wieder zurück zu ihm, wenn ihr wollt...“ ergänzt sie.

Danach verabschiedet sich Frau Baumann von uns und kurz darauf sind wir allein. Mama fragt mich:
„Hast du deine Hausaufgaben fertig?“

Ich nicke und krame die Hefte aus meiner Schultasche, um sie ihr zu zeigen. Mama lächelt danach beruhigt.

Klein-Caven -aufgehende Sonne- ist eingeschlafen und Mama hat ihn neben sich gelegt. Er klammert sich mit seinen kleinen Fingerchen an Mamas Zeigefinger. Mama drückt auf einen Knopf und wenig später tritt eine Frau ins Zimmer. Mama fragt:

„Leben hier im Haus noch andere Kinder im Alter meiner Tochter?“

Die Frau nickt eifrig und bestätigt es lächelnd.

„Können Sie meine Tochter dann mit ihnen bekanntmachen?“ fragt Mama nun.

„Aber gerne!“ bestätigt die Frau Mamas Frage.

„Gehst du bitte mit der Frau, Feven? Bis zum Abendessen darfst du mit den anderen Kindern von hier spielen,“ fordert Mama mich auf.

Also folge ich der Frau aus dem Zimmer und durch die Gänge des Hauses. Unterwegs fragt die Frau mich:

„Verlässt du das Heim jeden Tag, um zur Schule zu gehen?“

Ich bestätige das und berichte ihr von Frau Baumann aus dem Amt, dass sie mir eine Fahrkarte gekauft und mir den neuen Schulweg erklärt hat.

Die Frau nickt und fragt:
„Darf ich die Fahrkarte einmal sehen?“

„Ich habe sie in der Schultasche,“ erkläre ich ihr.
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Mi Mai 03, 2023 9:44 am

Nun dreht die Frau um. Wir gehen zurück zu Mama. Dort gebe ich der Frau die Fahrkarte. Die Frau erklärt Mama und mir:

„Ich schweiße die Fahrkarte ein und mache ein Halsband daran, wenn Sie erlauben. Dann kann ihre Tochter die Fahrkarte immer um den Hals tragen und jederzeit unproblematisch vorzeigen. Jedenfalls geht sie dann nicht verloren.“

Mama erlaubt es, also gebe ich ihr meine Schülerfahrkarte. Danach führt sie mich in einen Spieleraum und verabschiedet sich von mir. Hier sitzen noch andere Schulkinder an Tischen und probieren verschiedene Geschicklichkeitsspiele. Eine andere junge Frau geht währenddessen von Spieltisch zu Spieltisch und hilft Kindern, die Hilfe brauchen. Nach einer Weile meint sie, wir sollen alles ordentlich in bunte Kisten legen. Danach will sie mit uns auf den Spielplatz hinter das Haus gehen.

*

Wochen später hat Papa seine Therapie erfolgreich beendet. Die Ärzte haben eine positive Prognose gestellt. Daraufhin ist Mama mit mir und Cavi wieder zu ihm gezogen. Er hat sich in langen Reden entschuldigt und versprochen, vom Alkohol die Finger zu lassen.

Nach der Arbeit beschäftigt sich Papa auch wieder mehr mit Mama und uns. An freien Tagen fährt er mit uns in den Zoo und Parks, wo wir spazieren gehen und es viel zu schauen gibt. Das verlorene Vertrauen beginnt wieder aufzublühen.

Ich weiß auch nicht, wie ich es erklären soll. Irgendwann hat Papa wieder ein Glas mit diesem auf der Zunge brennenden Inhalt in der Hand. Ich habe einen Tag vorher so eine komische Flasche im Kühlschrank gefunden und daran genippt. Sofort danach habe ich das Zeug ausgespuckt! Mama hat ein bedrücktes Gesicht gemacht.

Dann hat alles von vorne begonnen. Papa geht nach der Arbeit wieder noch mit Kollegen weg. Ich habe nach dem Abendessen oft noch ein Animations-Movie im Fernsehen schauen dürfen. Danach schaltet Mama das Gerät immer aus, umarmt mich und meint augenzwinkernd:

„Schlafenszeit, Fevi!“

Ich drücke meine Wange an Mamas Wange, erhebe mich von der Couch im Wohnzimmer und gehe in Richtung des Kinderzimmers. Mama ruft mir „Gute Nacht!“ hinterher und geht ins Schlafzimmer, um nach Cavi zu schauen. Wie üblich lasse ich die Tür des Kinderzimmers einen Spaltbreit auf. Dann gehe ich ins Bett, sortiere noch meine Plüschtiere und decke mich dann zu.
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Do Mai 04, 2023 9:20 am

Plötzlich höre ich Poltern von der Wohnungstür her. Danach klingelt es anhaltend. Er ist von der Tour mit seinen Kumpels zurück! Mama läuft sicher jetzt zur Tür und öffnet sie ihm. Unverständliches Gebrülle ist zu hören! Mama weicht bestimmt zurück, um ihm eine Portion unseres Abendessens auf einem Teller aus der Küche zu bringen.

Ich ziehe die Bettdecke über meinen Kopf. Wieder wird er laut. Porzellan scheppert. Ich zucke unter der Decke zusammen und achte darauf flach zu atmen, damit er denkt, ich schlafe schon. Papa ist ein komplett anderer Mensch, wenn er getrunken hat! Ich muss an Mama denken. Dabei kullert eine Träne über meine Wange. Warum nur, warum?

'Sag' mir, Mama, ist das meine Schuld?' formuliere ich in Gedanken. 'Wenn er laut wird, ist das meine Schuld? Kann ich dir irgendwie helfen, Mama? Ich möchte dir so gerne helfen, dein großes Mädchen sein, dich beschützen… Aber nein, ich bin doch noch viel zu klein! Ich kann dir nicht helfen, Mama…'

Mich zur Wand drehend, halte ich mir die Ohren zu. Er ist ja bloß so ein Stiefvater! Nur weil ich Mama gehorche, nenne ich ihn ‚Papa‘. Bis er eingeschlafen ist, beschimpft er Mama. Er zertrümmert das Geschirr und das wertvolle Essen fällt zu Boden. Cavi wacht davon auf, erschreckt sich und beginnt zu weinen. Mama muss ihn beruhigen, denn Cavi kann nichts dafür.

Wenn er auf der Couch eingeschlafen ist, fegt Mama die Scherben weg und geht dann zu Cavi ins Schlafzimmer schlafen.  Ich bekomme alles mit, weil die Tür zu meinem Zimmer nur angelehnt ist.

Mama ist eine starke Frau, die schon viele Schicksalsschläge gemeistert hat. Jedoch in letzter Zeit wirkt sie auch tagsüber oft müde. Ich weiß, dass sie mit Cavi wieder zu der Frau geht, wo sie auch früher schon kaputte Kleidung repariert hat, während er arbeitet und ich in der Schule bin. Die Frau ist wie eine gute Freundin für Mama.

Eines Morgens bekommt Mama den Papa nicht mehr wach. Sie hat ihm sein Frühstück gemacht und sein Pausenbrot in den Behälter gegeben. Danach tritt sie an ihn heran und rüttelt ihn an der Schulter. Schließlich höre ich sie telefonieren, während ich ins Badezimmer laufe, um mich für den Tag frisch zu machen.

Nachdem ich fertig bin und gehe ich zu ihr in die Küche. Mein Frühstück steht schon bereit. Mama zeigt ein besorgtes Gesicht. Da klingelt es und zwei Männer in einem weißen Anzug stehen an der Tür. Mama lässt sie ein und führt sie ins Wohnzimmer. Sie sprechen Papa an. Er reagiert nicht. Nun untersuchen sie ihn kurz. Danach telefoniert einer der Männer.
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Fr Mai 05, 2023 9:25 am

Ich bin inzwischen fertig und Mama umarmt mich zum Abschied. Wie immer sagt sie, dass ich auf dem Schulweg auf mich achtgeben soll. Danach verlasse ich die Wohnung. Unten an der Straße steht ein roter Wagen mit der Aufschrift ‚Notarzt‘.

Dann ist die Schule aus und ich gehe nach Hause. Mama öffnet mir. Ich schaue sie erstaunt an, denn sie trägt dunkle einfarbige Kleidung. Sie zieht mich ins Wohnzimmer, setzt Cavi auf ihrem Schoß und erklärt mir:

„Papa ist letzte Nacht gestorben. Der Arzt sagt, seine Leber hat den Alkohol nicht mehr verarbeiten können.“

Ich beuge mich über Mama, umarme sie und verspreche ihr:
„Mama, du bist nicht allein! Ich helfe dir, bin doch dein großes Mädchen! Ich beschütze dich! Zusammen meistern wir das Leben, Mama.“

Mama lacht und wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Sie antwortet nur:
„Ja, meine Große! Zusammen meistern wir das Leben.“

*

Nachdem ich das Schulabschluß-Zeugnis bekommen habe, beginne ich eine Ausbildung zur Friseurin/Haarstylistin. Das macht mir Spass. Mamas Freundin, bei der Mama ihre staatliche Hilfe durch Nähen aufbessert, regt an, dass ich mich beim Fernsehen melden soll. Da gäbe es ein Format, das als Sprungbrett in die Welt der Models dienen kann.

Ein Versuch wäre es auf jeden Fall wert, sind Mama und ich uns einig. Auch wenn ich damit nur einmal etwas anderes kennenlernen würde und um eine Erfahrung reicher werde.

Ich erhalte wirklich eine Rückantwort. Man lädt mich tatsächlich zu einem Cast ein. An dem Termin muss ich mit der Bahn in eine andere Stadt fahren. Nach mehreren Stunden, in denen ich vor den Leuten vom Fernsehen meine Lebensgeschichte ausbreiten muss und erklärt habe, dass ich gelernte Haarstylistin bin, erhalte in den Zuschlag.

Ich bin total überrascht. Das bedeutet aber, dass ich mit anderen Kandidatinnen zusammen in ein Hotel in der Nähe der Studios einquartiert werde. Sofort telefoniere ich mit Mama und berichte ihr davon.
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Sa Mai 06, 2023 10:10 am

"Lass alles in Ruhe auf dich zukommen, meine Große!" antwortet sie mir aufmunternd. "Ich werde deine Auftritte im Fernsehen verfolgen. Was hinter der Kamera passiert, kannst du mir gerne berichten."

Nun folgt ein Jahr, angefüllt mit vielen Erfahrungen. Wir müssen lernen, uns vor den Kameras und vielen Leuten natürlich zu bewegen. Ich konzentriere mich dabei immer ganz auf meine Aufgabe und versuche, alle Ablenkungen zu ignorieren.

Die dreizehnte Sendung soll der Abschluss der diesjährigen Reihe bilden. In dieser Sendung werden die letzten Plätze vergeben, nachdem sich in den vorangegangenen Sendungen schon einige Kandidatinnen verabschiedet haben. Diese Abschiede sind immer sehr emotional gewesen. Sie sind auch mir nahe gegangen. Aber sobald sich eine Kamera auf mich richtet, muss ich wieder professionell reagieren, habe ich gelernt.

Dann werden die Punkte bekanntgegeben. Ich kann es gar nicht glauben! Mein Herzschlag setzt aus. Ich habe wirklich den ersten Platz errungen! Das Erste was ich mache, nachdem die Kameras aus und die Glückwünsche abgeflaut sind: Ich rufe Mama an! Wir müssen beide am Telefon weinen.

Nun bekomme ich einen ganzen Berg Post. Das Büro des Studios sortiert sie aus. Einige muss ich nur höflich beantworten. Ich bedanke mich für die Glückwünsche.

Andere sind Angebote von Modelagenturen. Hier lasse ich mich von den Leuten beraten. Darunter ist auch ein Brief einer UN-Organisation. Sie bieten mir an, das ‚Gesicht‘ ihrer Kampagne für nachhaltige Produktion und Konsum zu werden. Ich soll in ihrem Namen für fairen Handel werben.

Ich lasse mich bei einer renommierten Modelagentur unter Vertrag nehmen, erkläre aber gleichzeitig, dass ich nebenbei für das One-Planet-Network der UN-Organisation arbeite und dafür ebenfalls Zeit brauche. Man akzeptiert die Einschränkung und infolge arbeite ich für die verschiedensten Firmen, die mir die Agentur vermittelt.

Allerdings muss ich feststellen, dass die Mode-Firmen Models von verschiedenen Agenturen casten und sich dann erst für ein Model fest entscheiden. Das Geschäft ist ein Haifischbecken! Dennoch bin ich bald ein gefragtes Model und verdiene viel Geld. Dadurch braucht Mama nicht mehr arbeiten gehen. Die Kosten für Wohnung und Lebenshaltung bestreite ab sofort ich.

Ganz anders ist meine Arbeit als UN-Botschafterin! Ich werde in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz zu Vorträgen eingeladen. Ein Büro berät mich zum Glück und schreibt mir die Texte meiner Vorträge. Danach lese ich mir die Texte durch und ändere sie so, dass sie mir leicht über die Lippen kommen. Zu den Vorträgen vor Wirtschaftsverbänden und Politikern fahre ich stets mit der Bahn. Die Tickets zahlt mir das Büro der Organisation.
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1So Mai 07, 2023 10:49 am

Auf diesen Vortragsreisen muss ich mich auch den Fragen der Presse stellen. Man fragt mich unter anderem, warum ich mich zurückgenommen habe, statt meinen Weg zum Supermodel konsequent weiterzugehen, wie meine Kollegin Naomi Campbell.

Ich erkläre den versammelten Journalisten, dass ich nicht mehr nur eine schöne Fassade präsentieren will, sondern etwas bewegen möchte.

„Dazu ist es natürlich notwendig, dass ich mich ein Stück aus der Öffentlichkeit zurückziehen muss!“ bin ich überzeugt.

Nach einer Gedankenpause füge ich an:
„Wenn mir die Menschen schon zuhören, möchte ich schon etwas Sinnvolles zu sagen haben.“

Irgendwann erhalte ich die Gelegenheit, für die UN-Organisation in meine Heimat zu fliegen. Natürlich begleitet mich ein Filmteam. Die Flugtickets für Mama und Cavi zahle ich aus eigener Tasche. Ich will, dass sie mitkommen. Für Mama dürfte es ein ergreifendes Wiedersehen mit unseren Verwandten geben. Cavi lernt dadurch seine Wurzeln kennen. Auch das ist mir wichtig.

Wir landen auf dem ‚Bole International Airport‘ bei Addis Abeba. Dort werden wir von UN-Mitarbeitern erwartet und dürfen die kommende Nacht erst einmal in einem Hotel der äthiopischen Hauptstadt übernachten. Am folgenden Tag fahren wir mit Landrovern in den Norden des Landes.

Dort hat vor einiger Zeit ein verheerender Bürgerkrieg gewütet. Neben den Dürren und Überschwemmungen ist das ein weiterer Aspekt, der zur Armut und Landflucht führt. Meine Stimmung ist melancholisch.

Zwei Tage später erreichen wir das Dorf, aus dem meine Eltern mit mir als Kleinkind aufgebrochen sind. Ich selbst habe keine Erinnerung mehr. Als Mama das Fahrzeug verlässt, wird sie nach kurzer Zeit von einheimischen Frauen bestürmt. Alle scheinen durcheinander zu reden. Ich verstehe kein Wort.

Die UN-Mitarbeiterin im Auto hat mit ein weißes Tuch um die Schultern geschlungen und ein Mikrofon darin festgemacht. Ein Kabel führt zu einem Funkgerät am Gürtel. Danach verlässt sie den Wagen und geht auf einen älteren Mann zu. Sie grüßt ihn nach Landessitte und weist danach auf mich.

Ich bin ihr gefolgt und stehe nun hinter ihr. Sie macht einen Schritt zur Seite und nun kommt der Älteste des Dorfes auf mich zu. Er begrüßt mich ehrenvoll und auch ich zeige mich respektvoll ihm gegenüber. Inzwischen ist das zweite Fahrzeug mit dem Filmteam angekommen und die Leute steigen aus. Ich schaue nach Mama und nähere mich ihr. Sie sieht mich kommen und macht die Leute um sich herum auf mich aufmerksam.

Nach der Begrüßung führt Mama mich zu einer der Hütten. Sie stellt mich den dort stehenden Leuten vor. Es sind ihre und meine Verwandten. Mama dolmetscht, da ich meiner Heimatsprache nicht mehr mächtig bin. Es kommt zu tränenrührigen Momenten.
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Mo Mai 08, 2023 9:18 am

Mein Großvater ist inzwischen verstorben. Nun führt mein ältester Onkel die Sippe. Er bietet an, dass Mama, Cavi und ich in seiner Hütte wohnen, während wir uns in meinem Heimatort aufhalten. Das Filmteam und die UN-Mitarbeiterin nächtigen in schnell errichteten Zelten bei den Fahrzeugen.

Wir lassen uns im Dorf und über die Felder führen, ständig von einer Kamera verfolgt. Unterwegs kommen mir aus unerfindlichen Gründen die Tränen. Allmählich realisiere ich wohl, dass ich mich hier in der Heimat unter Verwandten von Papa bewege. Meinem wirklichen Papa, den ich bei der Überfahrt auf dem Mittelmeer verloren habe!

Wir bleiben eine ganze Woche in meinem Heimatdorf, in der ich mich über den Kaffeeanbau informiere. Ich habe die Büsche überall im Umkreis des Dorfes gesehen. Man erklärt mir, dass die Bauern Verträge mit großen Lebensmittelkonzernen haben, die eine bestimmte Abgabemenge vorsehen, sonst müssen die Bauern Vertragsstrafen bezahlen oder bekommen im günstigsten Fall gar kein Geld.

Mama hat mir in der Vergangenheit erzählt, dass sie mit Papa und mir während einer schlimmen Dürre das Land verlassen hat. Papas Feld hat keinen Ertrag mehr gebracht. Deshalb hat sich Papa auf dem Markt als Tagelöhner verdingen wollen. Aber das hat nur selten geklappt.

Nach Ende des Marktes ist Mama mit mir auf ihrem Rücken zum Markt gegangen und hat mit anderen armen Menschen heruntergefallene Lebensmittel aufgesammelt. Schließlich ist Papa mit seiner kleinen Familie nach Europa aufgebrochen.

In den Jahren seither hat die Regierung ein Staudamm-Programm verwirklicht, um Wasser aus den Regenzeiten für Dürrezeiten zurückhalten zu können. Aber was ist bei mehrjährigen Dürren? Ich mache mir Notizen.

Dann drängt die UN-Mitarbeiterin zum Aufbruch. Es gibt noch viel mehr Dörfer hier in der Gegend, wo sich die UN-Organisation zeigen möchte. Die Menschen sollen sehen, dass sie von der Weltgemeinschaft nicht vergessen werden.

Kurz vor der Abreise erklärt Mama mir:
„Fahr du nur, mein Engel! Ich bleibe mit Cavi hier im Dorf zurück. Ob du auf deinen Reisen als UN-Botschafterin und als Model nun immer wieder nach Deutschland zurückkommst oder nach Äthiopien reist, bleibt sich gleich.“

Insgeheim gebe ich ihr Recht. Also verabschiede ich mich von Mama und Cavi. Wir können unsere Gefühle nicht zurückhalten. Wieder fließen Tränen. Dann fahren die Fahrzeuge ab und ich lasse meine Familie hier zurück.

*
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Di Mai 09, 2023 9:09 am

Nach der Rückkehr in Deutschland gehe ich zur Universität und höre Vorlesungen zur Nutzung der Kaffeepflanzen. Ich erkenne, dass die großen Lebensmittelkonzerne nur an den Kernen der Kaffeekirschen interessiert sind. Die Kaffeebohnen werden weiterverarbeitet und das Fruchtfleisch der Kirschen lässt man als Abfall verrotten. Im günstigsten Fall wird der Abfall als Dünger unter die Erde gebracht.

Deshalb informiere ich mich nun, was man aus dem Fruchtfleisch noch alles herstellen kann und bin überrascht. Einer der Dozenten nennt das Fruchtfleisch ein Superfood. Man hat ihm den Namen ‚Cascara‘ gegeben. Daraus lässt sich ein süßer Brotaufstrich herstellen und wenn man es trocknet, kann man daraus Tee kochen, der eine ähnlich belebende Wirkung wie Kaffee hat.

Mahlt man das getrocknete Fruchtfleisch zu Mehl, lässt sich daraus unser landestypisches Fladenbrot backen. Will man ‚Cascara‘ exportieren, müsste es allerdings noch viele bürokratische Hürden nehmen. In der Europäischen Union ist es noch nicht als Lebensmittel zugelassen und wird deshalb dort nicht verkauft.

Ich denke mir: ‚Wenn das Fruchtfleisch so wertvoll ist, warum lässt man es in den Herkunftsländern verrotten? Wenn Europa nur an der Kaffeebohne interessiert ist, sollte das Fruchtfleisch in den Herkunftsländern doch in der Ernährung Verwendung finden können!‘

Also lasse ich mir alles über die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten des Fruchtfleisches genau erklären. In meinem Kopf formt sich ein Gedanke, wie man die Armut in meiner Heimat bekämpfen kann. Darüber spreche ich mit dem UN-Büro, für das ich Vortragsreisen mache. Ich entwickele vor den Mitarbeitern meinen Plan. Sie sind interessiert. Zusammen erstellen wir ein Papier, mit dem wir bei der UNO in New York Gelder beantragen wollen.

Schließlich sitze ich wieder in einem Flugzeug, das mich nach Addis Abeba bringt. Auch diesmal ist wieder ein Filmteam dabei. Sie wollen mich bei der Arbeit filmen. Diesmal soll daraus ein Movie werden, mit dem die Organisation Spendengelder generieren kann.

Andererseits würde es mich freuen, wenn meine Arbeit zu Ergebnissen führt, die den Menschen in ihrem harten Alltag helfen. Natürlich bedeutet das für mich, dass ich Verantwortung übernehmen muss. Aber das mache ich gerne!
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BeitragThema: Re: Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê?   Meine Schuld, Mama? Yenê t’ifati Imayê? Icon_minitime1Mi Mai 10, 2023 9:14 am

Ich beginne meine Arbeit im Heimatdorf meiner Mama. Sie hilft mir, alle Frauen des Dorfes auf dem Marktplatz zu versammeln. Dort fordere ich die Frauen auf, das Fruchtfleisch und die Schalen der Kaffeekirschen nicht mehr wegzuwerfen. Sie sollen es sammeln, sorgfältig trennen und in der Sonne trocknen. Danach soll unter ihrer Aufsicht die Weiterverarbeitung erfolgen.

Dafür sollen sie eine Handvoll Frauen auswählen, die von mir instruiert werden und anschließend die Verarbeitung des Fruchtfleisches überwachen. Dazu habe ich mit Hilfe der UNO in Äthiopien den Verein ‚cascaraWomen‘ gegründet. Der Verein soll anschließend für die Verteilung der Endprodukte in Äthiopien zuständig sein und die Frauen fair für ihre Arbeit bezahlen.

Frauen, deren Familie hungern, vermittele ich Mikrokredite, mit denen sie mechanische Nähmaschinen kaufen können und anderes Gerät, mit denen sie auf dem Markt Einkünfte erzielen können. Auch Kaffeebüsche werden auf diese Weise angeschafft und die Ernte über die dörfliche Kooperative meines Vereins ‚cascaraWomen‘ verkauft.

Das klappt wunderbar. Ich hoffe, dass durch die Aufmerksamkeit der Medien in anderen Weltgegenden ähnliche Projekte ins Leben gerufen werden. Um einmal zu verdeutlichen, um was es geht, habe ich ein paar Zahlen gesammelt: An einem Kaffeestrauch wachsen 2,5 bis 10 kg Kirschen. Wenn wir von einem Mittelwert von 6 kg ausgehen bedeutet das, dass 3,6 kg Kaffeebohnen geerntet werden können, aus denen etwa 500g Pulverkaffee hergestellt werden.

Ungefähr 2,4 kg Fruchtfleisch hat man bisher als Abfall betrachtet. Nach dem Trocknen entsteht daraus etwa 800g ‚Cascara‘ für Tee oder Mehl zum Backen.

Äthiopien exportiert jedes Jahr 190.000 Tonnen Kaffeebohnen. Etwa 120.000 Tonnen Fruchtfleisch werden weggeworfen. Gleichzeitig importiert das Land 400.000 Tonnen Weizen zur Ernährung der Bevölkerung. Ein Zehntel davon könnte mindestens eingespart werden, wenn man ‚Cascara‘ für die Ernährung gewinnt!
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