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Thema: Meer ohne Wasser Fr März 25, 2022 10:01 am
„Bonjour, Monsieur d’Alsace,“ begrüßt mich unser Informant in Gabes. „Wie war die Reise?“
„Das Medi terranée war etwas unruhig,“ gebe ich zurück, während sich der Hausherr mir gegenüber niederlässt. „Haben Sie etwas zu essen?“
„Aber natürlich! Was wünschen Sie?“ fragt mich Dimitrios Samos, der hier in Hafennähe eine Taverne betreibt, und schiebt mir die Speisekarte über den Tisch.
Ich lege meine Hand flach auf die Karte und schaue meinem Gegenüber in die Augen.
„Einmal Gyros komplett!“ ordere ich.
„Sofort,“ antwortet Monsieur Samos, und schnippt mit den erhobenen Fingern.
Sofort eilt ein Junge herbei, dem er meine Bestellung in Arabisch weitergibt. Wenig später habe ich einen übervollen tiefen Teller vor mir stehen. Der Junge platziert ein Gläschen Ouzo daneben und verbeugt sich, bevor er sich zurückzieht.
Ich lächele den Hausherrn an und dieser erwidert mein Lächeln, wobei er eine Zahnlücke präsentiert.
„Auf das Haus!“ sagt er.
Ich nicke und beginne zu essen. Nach wenigen Minuten steht Samos auf und entfernt sich in Richtung eines anderen Tisches, an dem ein Mann aus der Stadt sitzt.
Gabes ist eine tunesische Hafenstadt. Eigentlich ist es unüblich, dass marode Fischerboote von hier in Richtung Sizilien starten. Die überwiegende Zahl sticht in Libyen in See. Dort herrscht Chaos und Anarchie.
Die europäische Küstenwache hat jedoch vor zwei Wochen ein kieloben treibendes Fischerboot aufgebracht mit hunderten Leichen. Wir haben festgestellt, dass das marode Holzboot eindeutig von hier stammt. Ich will der Sache nachgehen.
Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie Samos auf den Mann einredet. Beide gestikulieren leidenschaftlich, aber sie sind nicht zu hören. Schließlich erheben sich beide und Samos führt den Mann an meinen Tisch.
Er nimmt einen leeren Stuhl vom Nachbartisch, damit sich der andere Mann hinzusetzen kann, dann spricht mich Samos an.
„Das ist Omar Ibn Hassan, ein Salzhändler aus dem Basar,“ stellt mir Samos den Mann vor.
Ich nicke ihm zu und der Mann erwidert die Geste. Die Unterhaltung wird von dem Jungen gestört, der auch mich bedient hat. Er stellt ein Glas Tee vor den anderen Gast und ist schon wieder verschwunden.
Das Salz, das hier gehandelt wird, stammt von den Salzpfannen des Chott el Djerid in der Sahara, die von den Einheimischen As-sahra al-kubra - die große Wüste – oder Bahr bila ma - Meer ohne Wasser – genannt wird. Es gelangt in schweren Blöcken auf dem Rücken von Kamelen hierher.
„Omar hat im letzten Monat etwas Ungewöhnliches erfahren,“ sagt Samos. „Er sprach darüber mit einem Fischer im Basar und der gab die Information an mich weiter.“
Ich tauche meine Finger in die Schale Wasser neben meinem Teller und ziehe das weiche Tuch darunter hervor. Damit trockne ich meine Finger und erfasse dann, mich leicht verbeugend, mit meiner rechten Hand meine linke.
„Es freut mich, die Bekanntschaft eines Mannes zu machen, der mit Monsieur Samos befreundet ist,“ beginnt Omar Ibn Hassan.
„Mögen deine Wasserbeutel niemals leer sein. Auf dass du immer Wasser hast.“
„Mögen deine Wasserbeutel niemals leer sein,“ erwidere ich seinen Gruß. „Auf dass du immer Wasser hast.“
„Wenn es dir recht ist, verehrter Omar Ibn Hassan,“ sagt Samos nun, „möchte ich dich bitten, meinem Freund zu erzählen, was du im Basar erfahren hast.“
„Es handelt sich um eine Geschichte, die von einem Jungen erzählt wurde, einem Kamelpfleger. Seine Karawane war nur klein. Sie geriet in einen Sturm. Eines der Kamele, wild geworden durch Sturm und Sand, sprengte ihre Fußfessel und verschwand in der Dunkelheit. Törichterweise folgte der Junge dem Tier, das Wasser geladen hatte. Am nächsten Morgen war der Sturm vorbei. Der Junge grub sich einen Schutzgraben, während man vom Lager aus eine umfassende Suche organisierte.“
Der Tunesier macht eine Pause.
„Gegen Mittag wurde der Junge gefunden. Er hörte die Glöckchen eines Kamels, kam aus seinem Versteck und wurde gerettet. Natürlich erhielt er eine Tracht Prügel, weil er die Karawane verlassen hatte. Das Kamel kehrte später zurück, weil es hungrig war.“
„Was hatte der Junge zu berichten?“ frage ich.
„Als er das Kamel verfolgte, fand er folgendes,“ fährt Omar Ibn Hassan fort. „Er stieß auf einen Felsen, auf dem einige Worte eingekratzt waren: ‚Vorsicht vor El Qued‘.“
Monsieur Samos schaut mich an. Ich ziehe die Augenbrauen hoch, schaue von Einem zum Anderen und frage:
„Wer ist El Qued?“
„Es ist eine Oase, südlich vom Chott el Djerid,“ erklärt mir Samos.
„Im Windschatten des Felsens lag ein Mann, tot, von der Sonne geschwärzt und ausgetrocknet, kaum noch so schwer wie ein Kind. Er hatte sich die Kleidung vom Körper gerissen und Sand getrunken.“
„Ein schrecklicher Tod. Die Sonne muss seinen Verstand getrübt haben,“ antworte ich.
„Die Warnung vor der Oase… Was kann sie bedeuten?“
In diesem Moment betritt eine junge Frau im Gewand der Beduinen die Taverne. Sie hat dunkle Haut wie eine Schwarzafrikanerin und schaut sich suchend um. Als ihr Blick unseren Tisch schweift, leuchten ihre Augen. Sie kommt auf uns zu und kauert sich stumm vor Samos auf den Boden.
„Wer bist du?“ spricht er sie an.
„Ein Botenmädchen,“ antwortet sie, ohne den Kopf zu heben. Samos erhebt sich.
„Kommt mit, verehrte Freunde,“ sagt er, und so erheben auch wir uns.
„Steh auf und folge mir!“ befiehlt Samos der jungen Frau.
Sie erhebt sich und folgt Samos in ein Hinterzimmer. Wir bilden den Abschluss.
Dort angekommen dreht sich Samos zu der jungen Frau um.
„Entblöße dein Haupt!“ befiehlt er ihr.
Sie nimmt den Sandschleier ab. Samos nimmt eine Schere, Rasierschaum und ein Rasiermesser. Er rasiert ihr das Kraushaar aus dem Nacken.
„Zu wem gehörst du?“ fragt er.
„Zu dir, Sihdi.“
„Zu wem hast du gehört?“
„Ich weiß es nicht, Sihdi. Ich wurde aus meiner Familie geraubt. Nie habe ich einen der Entführer zu Gesicht bekommen.“
hermann-jpmt Forenmogul
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Sa März 26, 2022 9:11 am
„Man hat dich hierher geführt und dir mich gezeigt, als ich einmal das Haus verlassen hatte?“
„Ja, Sihdi.“
In ihrem Nacken wird eine Tätowierung sichtbar. Es ist eine Zeile in arabischer Schrift.
„Was heißt es?“ frage ich.
„Vorsicht vor Abdul,“ liest Samos vor.
Das ist alles. Ich schaue Samos an. Er wirkt ratlos. Omar Ibn Hassans Gesicht bleibt ausdruckslos. Samos betätigt eine Klingel. Ein anderer Junge kommt herein.
„Gib ihr angemessene Kleidung und zeige ihr ihren neuen Arbeitsplatz in der Küche,“ sagt er.
Beide jungen Leute verlassen daraufhin das Zimmer.
*
Eine junge Frau – für europäische Verhältnisse ein Mädchen noch – wird in dieser Welt benutzt, um eine Nachricht zu übermitteln, die niemand sonst erreichen soll. Dazu wird sie dem Mädchen in die Kopfhaut tätowiert, wo man kein Tattoo erwarten würde. Außerdem handelt es sich um eine weibliche Person, die sich vor Männern nur verschleiert zeigen darf. Sie kennt den Absender nicht, wurde aus ihrer Familie genommen und tausende Kilometer weiter quasi ‚ausgesetzt‘. Sie ist also darauf angewiesen, dass der Empfänger der Nachricht sich ihrer annimmt.
Was für eine barbarische Vorgehensweise, für europäische Vorstellungen! Aber ich bin hier in einer männerdominierten Kultur, an die ich keine europäischen Maßstäbe setzen darf. Naive Gemüter neigen gerne dazu, anzunehmen dass die Menschen sich in allen Kulturen annähernd ähnlich verhalten. Doch das ist natürlich ein gewaltiger Irrtum. Jede Kultur hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten und Verhaltensweisen. Das haben schon die Amerikaner feststellen müssen, als sie in den Irak einmarschiert sind. Die einfache ‚Bleib-weg‘-Geste, die erhobene Hand mit zum Gegenüber offenen Handfläche, bedeutet in diesem Raum ‚Willkommen‘, also das genaue Gegenteil.
Das bedeutet für mich: unvoreingenommen beobachten und ständig hinzulernen!
Ohne all die vielen technischen Hilfsmittel der modernen Zivilisation, die den Frauen in den islamischen Städten auch zur Verfügung stehen und dort allmählich kleine Revolutionen hervorrufen in Sachen Emanzipation, sind die Frauen in der archaischen Welt auf die Männer angewiesen. Sie ordnen sich wie selbstverständlich unter und genießen einen Schutz und die Geborgenheit, den Frauen in emanzipierten Gesellschaften nicht mehr kennen. Die Lage der Frauen im Maghreb, Sahara und Sahel, ist der Natur geschuldet, in der die Menschen leben. Über Jahrtausende hat es sich bewährt, dass Männer und Frauen eine Arbeitsteilung eingegangen sind. Die Frauen kümmern sich um Haushalt und Erziehung. Untereinander helfen sie sich bei Geburt und Gesundheitsvorsorge. Die Männer kümmern sich um den Lebensunterhalt und die Sicherheit der Gemeinschaft. Die Lage der Frauen hier steht also voll und ganz im Einklang mit der unerbittlichen Natur.
Hier gelten andere Standards, als ich sie aus der westlichen Welt kenne. Das sieht man schon am Umgang mit der Natur. Für die Menschen ist die Natur etwas Großes, Schützenswertes. Man lebt in und mit der Natur.
In der westlichen Welt wähnt man sich als Herr über sie, und manipuliert sie im Hinblick auf den größtmöglichen Profit. So kommt es, dass zum Beispiel die industriell erzeugten Lebensmittel Spuren von Gift enthalten, um sie haltbarer zu machen. In ihrem Egoismus und Größenwahn sind die Menschen auf dem Wege, den Planeten zugrunde zu richten.
Den Leuten in dieser und anderen archaischen Kulturen bedeutet die Natur schlichtweg so viel, dass sie niemals auf die Idee kämen ihre Umwelt über das Maß normalen Ackerbaus hinaus zu manipulieren.
Natürlich lauern wie in der westlichen Welt auch hier gewisse Risiken. Die Menschen hier leben mit diesen Risiken trotzdem gesünder als in der westlichen Welt.
Zurück zu den Frauen in dieser Kultur. Es scheint zwei Arten von dieser Spezies zu geben. Zum Einen die sogenannten Freien Frauen. Man trifft sie überall auf den Straßen. Sie gehen wie selbstverständlich ihren täglichen Geschäften nach, und sind darin den Frauen in der westlichen Welt nicht unähnlich, obwohl es große Unterschiede gibt. Und dann die sogenannten Unfreien Frauen. Auf der Straße begegnet man ihnen zumeist in Begleitung der Freien, um deren Lasten zu tragen, zum Beispiel beim Einkauf im Basar. Ansonsten sind sie unsichtbar, denn sie sind die dienstbaren Geister in den Häusern der Reichen.
*
Als wir alleine sind, wende ich mich an Samos.
„Wer ist Abdul?“ frage ich.
„Ich weiß es nicht,“ antwortet dieser.
„Die ganze Sache scheint nicht recht zusammen zu passen,“ meine ich. „Da du aber anscheinend der Adressat beider Informationen bist, muss es eine Verbindung geben. Zum Einen wird vor einer Oase gewarnt und dann vor einem bestimmten Mann…“
Ich mache eine Pause und schaue von Einem zum anderen.
„Ich reise morgen früh ab,“ sage ich mit fester Stimme.
„Darf ich das so verstehen«, wirft Omar Ibn Hassan ein, „dass dich dein Weg in die große Wüste führt?«
„Ja.“
„Ich habe denselben Weg,“ eröffnet uns Ibn Hassan da. „Vielleicht können wir zusammen reisen.“
„Gut,“ stimme ich zu.
Omar Ibn Hassan sagt: „Mögen eure Wasserbeutel niemals leer sein. Auf dass ihr immer Wasser habt.“
Ich erwidere den Gruß, woraufhin er sich verbeugt und den Raum verlässt.
*
Am nächsten Tag schließe ich mich einer Karawane an, die Salz aus dem Chott el Djerid gebracht hat. Auf dem Rückweg transportieren die Kamele nun Wasser und Früchte.
Nach einer Woche erreichen wir das Lager der Salzarbeiter. Während Omar Ibn Hassan zu dem Chef geht, sicher um über weitere Lieferungen zu vielleicht veränderten Preisen zu verhandeln, hat ein kleines einmotoriges Flugzeug mein Interesse geweckt.
Ich frage den italienischen Piloten, ob er mich nach Algerien bringen kann. Ich will die Oase El Qued nicht auf direktem Weg aufsuchen, mich aber auch von Omar Ibn Hassan unabhängig machen. So ganz traue ich dem Mann nicht über den Weg. Nach kurzer Verhandlung werden wir handelseinig. Ich zahle den Treibstoff, um das Flugzeug voll zu tanken, dann sind wir auch schon in der Luft.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser So März 27, 2022 10:48 am
Gegen Abend erreichen wir Biskra und ich bezahle dem Piloten auch die Übernachtung. Am nächsten Tag trennen sich unsere Wege. Der Pilot fliegt zum Chott el Djerid zurück und ich schaue mir den Basar an.
Als ich durch das Tor die Kasbah betrete, die historische Altstadt, höre ich als erstes einen Mann „Wasser! Wasser!“ rufen.
Ich bleibe stehen und sage: „Wasser.“
Er nähert sich, einen Beutel aus Ziegenleder auf dem Rücken, ein Dutzend klappernder Messingbecher an Gürtel und Schultergurt.
Seine linke Schulter ist benetzt. Der Beutel sondert Flüssigkeit ab. Ohne den Beutel von der Schulter zu nehmen, füllt er mir einen Becher. Er trägt einen Turban zum Schutz gegen die Sonne, der zugleich eine freie Luftzirkulation zulässt, wie es bei den Wüstenbewohnern üblich ist. Darunter ein weites Gewand. Europäisch gekleidet, wie ich, sind hier nur wenige.
Ich nehme den Becher und gebe dem Mann den geforderten Preis. Er grinst und verbeugt sich tief. Ich trinke langsam und mit Genuss. Die Sonne steht schon hoch am Himmel.
Blinzelnd schaue ich mich im grellen Licht der Sonne um. Ich muss mir schleunigst passende Kleidung zulegen. In einer solchen Stadt falle ich zu sehr auf. Ich mache mich auf den Weg zum Basar.
Der Basar ist eine weitläufige Halle, dessen Dach von vielen Säulen getragen wird, zwischen denen sich Kuppeln erheben. Ringsum nehme ich die Gewürzdüfte und Schweißgerüche Biskras wahr.
Biskra ist der wichtigste Versorgungsstandort für die verstreut lebenden Oasengemeinden dieser trockenen Leere, die man geradezu einen Kontinent aus Felsgestein, Hitze, Wind und Sand nennen könnte. Diese Gemeinden, die je nach Wasservorrat bis zu mehrere tausend Köpfe zählen, liegen oft viele Tagesreisen auseinander. Sie leben vom Salzabbau, sofern sie in der Nähe des Chott el Djerids liegen und von den Karawanen, die Richtung Süden ziehen, oder von dort – aus dem Sahel - kommen. Tuareg verdingen sich zumeist als Karawanenführer. Es kommt aber auch vor, dass einzelne Gruppen dieser kriegerischen Stämme Karawanen überfallen und ausrauben.
Karawanen sind für die Versorgung der Oasen unentbehrlich. Im Gegenzug exportieren die Karawanen die Erzeugnisse der Wüste. Das sind in erster Linie Datteln. Aber auch Kamele werden in den Oasen gezüchtet. Genügsame Schafe liefern den Oasenbewohnern Milch und Fleisch.
Als ich den Basar betrete umfängt mich ein starker Geräuschpegel. Vor mir erhebt sich lautes Geschrei. Ich reihe mich ein in den Strom der Basarbesucher, vorbei an Aprikosen- und Gewürzhändlern.
„Komm mit in die Teestube des goldenen Löwen,“ fordert mich ein Junge auf und zupft an meinem Ärmel.
Ich ignoriere ihn. Vorsichtig dränge ich mich weiter durch die Menge.
Die Verkäufer verlassen ihre Dörfer in der Umgebung der Stadt noch bei Dunkelheit, damit sie frühzeitig auf dem Markt eintreffen und eine günstige Stelle für ihre Waren finden, vorzugsweise in der Nähe der Markttore. Zwei Männer in Djellabas, den weiten Gewändern der Wüstenstämme, stoßen mich zur Seite. Fast wäre ich in einen Korb mit Pflaumen getreten. Ohne aufzublicken, versetzt mir eine Frau mit ihrem Stock einen Schlag, um ihre Früchte zu schützen.
„Kauft Melonen!“ ruft ein Bursche neben ihr.
Daneben verkauft eine Frau Datteln, dahinter sitzt wiederum ein Seifenhändler. Infolge sehe ich einen Teppichhändler.
Die Teppiche Nordafrikas sind von bester Qualität. Ich nehme mir etwas Zeit mehrere Exemplare anzuschauen, die zum Verkauf aushängen. An manchen Teppichen müssen fünf Frauen über ein Jahr lang arbeiten. Die Muster werden in den Familien weitervererbt.
Es folgen der Laden eines Silberschmieds und Verkaufsstände voller Körbe, die zum Teil eine erstaunliche Größe haben. Ein Stück weiter hängen gegerbte Lederhäute, frisch in den verschiedensten Farben gefärbt. Daneben werden die Männerkleider der Wüstenbewohner, die Djellabas, angeboten.
Ich komme an einem weiteren Stand vorbei, in dem Matten verkauft werden. Es gibt verschiedene Verwendungsmöglichkeiten für diese Matten, manchmal senkrecht stehend als Trennwände für die Nomadenzelte, doch meistens waagerecht als Unterlage zum Sitzen oder Schlafen. Die Matten lassen sich fest zusammenrollen und nehmen in dieser Form nur wenig Platz ein.
Ich entdecke Halstücher, Bauchbinden und Schleier. Die Tuchhändler bieten eine große Auswahl. Parfümhändler bieten die unterschiedlichsten Düfte, die in der Nähe ihrer Stände schwer in der Luft liegen. Ein Flacon erinnert mich an das Parfüm für das Wasser, in der ich meine Ess-Hand reinige.
Ich komme an einem Stand vorbei, wo hohe leichte Kamelsättel verkauft werden. Außerdem hat der Händler Satteldecken, Peitschen, Glocken und Kamelzügel im Verkauf. Der Kamelzügel ist ein einzelner Strang, der aus verschiedenen Lederstreifen zusammengeflochten ist. Der Zügel wird in einem Loch befestigt, das in die rechte Nüster des Kamels gebohrt worden ist. Von dort führt der Zügel vor dem Hals des Tieres herum nach links. Will man das Tier nach links lenken, zieht man den Zügel nach links. Soll es nach rechts gehen, bewegt man den geflochtenen Strang, der am Hals des Tiers entlangführt und übt gleichzeitig mit dem Fuß einen nach rechts gerichteten Druck aus.
Da und dort mache ich kleine Einkäufe und nehme mir die Zeit, mit den Händlern zu feilschen.
Ich erkundige mich, wo ich Waffen und Kamele kaufen kann. Ein zerlumpter Junge, dem ich eine Münze schenke, gibt mir Auskunft. Die Straße der Waffenschmiede schließt sich an den Basar an, während sich die Kamelgehege vor dem Südtor der Kasbah befinden.
Ein Mann, der in der Wüste auf seine Beine angewiesen ist, gilt als toter Mann. Ich habe mich also schlau gemacht, auf was zu achten ist, wenn man ein Kamel erwirbt.
*
Zehn Tage lang trainieren wir nun schon, drei Stunden am Tag. Ich will alle Finessen kennen lernen, um als Reiter mit dem Kamel professionell umgehen zu können.
Vor einigen Tagen habe ich im Teehaus nahe meiner Wohnung erfahren, dass der Händler und Karawanenführer Farouk al Masoud vor der Stadt lagert. Elektrisiert erinnere ich mich an die Erzählung des Salzhändlers Omar Ibn Hassan aus Gabes.
Ich wende also meine Schritte durch das Südtor vor die Kasbah und frage mich durch, bis ich die Karawane des Farouk finde.
„Selam alejkum.“
Ich berühre mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger Stirn, Mund und Herz, während ich mich verbeuge. Farouk al Masoud erwidert den Gruß.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Mo März 28, 2022 10:22 am
"Sihdi -Herr-," spreche ich ihn an. "Ich hörte, dass dich dein Weg an der Oase El Qued vorbeigeführt hat. Ich möchte dorthin. Kann ich mit dir reisen, wenn dein Weg dich wieder von Biskra nach Süden führt?"
"Das ist eine sehr strapaziöse Reise für Europäer ohne die Annehmlichkeiten ihrer Zivilisation," versetzt der Mann und schaut mir prüfend ins Gesicht.
"Ich werde mich in Kleidung und Verhalten nach euch richten, mich während der Reise deinen Anweisungen beugen," versichere ich ihm.
"Du wirst ein Kamel reiten müssen!"
"Ich weiß, Sihdi! Hättest du Zeit, mich beim Kauf eines Kamels zu beraten, und mir danach das Reiten dieses Tieres zu lehren?"
"Das wird nicht billig sein," sagt er mit lauernder Miene.
"Ich habe ein kleines Sümmchen auf der Banque Algerienne hier in Biskra," erwähne ich lächelnd. "Wir werden uns sicher einig."
Wir haben uns mittlerweile vor seinem Zelt niedergelassen und Achmed, sein Sohn, serviert uns Tee.
In der Folge erwerbe ich eine schlanke, schnelle Kamelstute. Ich verblüffe Farouk mit meinem - angelesenen - Wissen und aus freundlicher Reserve wird allmählich Sympathie. In der Folge überlasse ich Achmed die Pflege meines Kamels, was diesen ebenfalls für mich einnimmt.
Achmed ist es gewesen, der vor einigen Monaten die Felseninschrift 'Vorsicht vor El Qued' entdeckt hat.
Am zehnten Tag meines Reittrainings ruft Farouk Achmed zu sich, während er sein Kamel zum Niederknien veranlasst.
"Bring uns Salz!" sagt er.
Achmed macht kehrt und kommt kurz darauf mit einem kleinen Messingbehälter zurück. Er reicht das Gefäß seinem Vater.
"Ich kann dir nichts mehr beibringen," sagt Farouk, zu mir gewandt. "Möge Salz zwischen uns sein."
"Möge Salz zwischen uns sein," erwidere ich.
Er lässt eine Prise Salz auf seinen rechten Handrücken rieseln. Dann schaut er mich an.
Die Augen des Jungen leuchten.
"Ich habe so etwas noch nicht erlebt," sagt Farouk. "Wer bist du?"
Ich streue nun meinerseits eine Prise Salz auf meinen rechten Handrücken.
"Ein Mann, der Salz mit dir teilt," erwidere ich.
Mit der Zunge berühre ich das Salz im Schweiß seiner rechten Hand und er macht das gleiche bei mir.
"Wir haben Salz geteilt," sagt er.
Im nächsten Augenblick umfasst er meine Schultern und drückt mich herzlich an sich. Achmed bringt die Kamele zu den anderen Tieren und sattelt sie ab.
Farouk ist kurz in seinem Zelt verschwunden. Als er wieder herauskommt, hat er zwei Gläser und eine Karaffe mit Tee in der Hand. Wir lassen uns vor dem Zelt nieder und trinken Tee miteinander. Dabei erfahre ich, dass er schon am nächsten Morgen aufbricht. Seine Waren sind verkauft und er hat dafür neue Waren erstanden für seinen Weg nach Süden.
In aller Frühe, die Sonne färbt gerade den nächtlichen Himmel am Horizont, trifft mich Achmed am Südtor und führt mich zu der inzwischen reisefertigen Karawane seines Vaters.
Meine Absicht ist es, die Oase El Qued aufzusuchen, und dort Augen und Ohren offenzuhalten. Irgendetwas muss dort vorgehen. Außerdem muss ich wissen, was es mit diesem geheimnisvollen Abdul auf sich hat. Ich darf nur nicht aktiv nach dem Mann fragen, um mich nicht zu enttarnen. Irgendjemand wird aber über ihn sprechen, wenn es einen Mann dieses Namens in maßgeblicher Position gibt.
Auch nehme ich nicht an, dass der Mann, der vor Monaten die Buchstaben in den Stein geritzt hat, Fieberträumen im Sterben erlegen ist. Irgendetwas hat den Mann durch die Wüste getrieben; Angst vor Erlebtem und der Wunsch, eine Information weiterzugeben.
*
Die Karawane zieht gemächlich durch die Sahara. Ich reite mit Farouk an der Spitze. Nun drehe ich mein Kamel herum, treibe es an und galoppiere an der langen Kette beladener Tiere entlang zurück. Das Ende der Karawane liegt vielleicht einen halben Kilometer hinter uns. Langsam und anmutig zieht sich die Kette der Tiere zwischen den Hügeln hindurch.
Farouk hat drei Kameltreiber angestellt. Außerdem wird er von seinem etwa zwölfjährigen Sohn Achmed begleitet und seiner - für europäische Begriffe - halbwüchsigen Tochter Djamila. Die Sechzehnjährige sitzt in einem Aufbau auf dem Rücken ihres Kamels, das durch eine Leine mit dem vorderen Kamel verbunden ist. Der Aufbau ist wie eine kleine Kabine gearbeitet, mit dicht gewebten Stoffvorhängen ringsum. Das macht es dem Kamel schwer, bei starkem Wind die Richtung zu halten. Achmed, ihr Bruder, bildet den Abschluss der Karawane.
Die in Nordafrika verwendeten Dromedare haben ein unglaubliches Durchhaltevermögen. Sie trinken unglaubliche Mengen Wasser, so dass sie eine Woche ohne zu trinken aushalten können. Im Sandmeer können sie ungefähr fünfzig Kilometer am Tag zurücklegen.
Nach ein paar freundlichen Worten zu Achmed kehre ich an meinen Platz in der Karawane zurück. In der Sahara weht ein ständiger Wind - ein heißer Wind, der den Nomaden trotzdem willkommen ist. Ohne diesen Luftzug wäre die Wüste völlig unerträglich, auch wenn man genügend Wasser hätte oder sich im Schatten aufhielte. In der Mittagshitze kann es in der Sonne bis knapp fünfzig Grad heiß werden. Die weiten Gewänder ermöglichen das Verdunsten des Schweißes, und damit eine gewisse Wärmeregulierung. Wenn es nicht unbedingt erforderlich ist, strengen sich die Menschen in der Hitze nicht an. Die Kleidung ist fast immer weiß. Diese Farbe reflektiert die Sonnenstrahlen.
Ich lausche dem Klang der Karawanenglocken, während mein Tier stoisch neben Farouks Kamel her trottet. Es ist ein angenehmes Geräusch.
Wir ziehen durch ein hügeliges Gebiet mit trockenem dornigem Gebüsch. Zahlreiche große Felsbrocken liegen herum. Gegen Abend lenkt Farouk die Karawane in eine Felsenspalte. Bald erweitert sie sich. Hier ist es kühl und windgeschützt. Dann stellt er sich im Sattel auf, hebt den Arm, und lässt sein Dromedar sich hinknien. Wir machen es ihm nach und steigen ab. Seine Männer beginnen nun das Nachtlager aufzubauen. Ich helfe ihnen.
Wie schon bei der Rast heute Mittag in der größten Hitze, wird heißer Tee über einem kleinen Feuer gekocht. Ein Dreibein wird aufgestellt und eine hochbordige Pfanne daran gehängt. Nachdem darunter Feuer brennt, kocht Djamila für alle Männer getrocknetes Fleisch in einem aromatischen Sud.
Später teilt Farouk uns sechs Männer in drei Nachtwachen ein. Je ein Mann an einem der Ausgänge der Felsspalte. Ich habe mit Achmed die dritte Nachtwache am frühen Morgen und ziehe mich hinter die Matte in Farouks Zelt zurück.
Am Morgen werde ich von dem Mann mit frischem Tee geweckt, dessen Wache ich übernehmen soll. Ich erklettere die steile Sandsteinwand und begebe mich auf meinen Posten. Bald bietet sich mir der grandiose Anblick des Sonnenaufgangs in der Wüste. Auffälliges kann ich nicht entdecken, und bald weist Farouk seine Leute an aufzubrechen.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Di März 29, 2022 10:32 am
Heute führt er seine Karawane einen Abhang hinunter in eine Schlucht, die sich zu beiden Seiten öffnet. Er sammelt die Kamele und lässt sie die gesamte Breite der Schlucht einnehmen, damit die Karawane nicht hunderte Meter lang ist. Wenig später verlassen wir die Schlucht über einen Abhang auf der gegenüberliegenden Seite. Nun trotten die Kamele wieder hintereinander.
„Was war das für eine Schlucht vorhin?“ frage ich Farouk.
„Ein Wadi,“ antwortet er mir einsilbig.
„Ah,“ mache ich. „Wir mussten auf unserem Weg also auch ein Wadi queren…“
„Ja, in der Regenzeit fließt Wasser durch das Wadi in den Chott el Djerid.“
Ich nicke. Wadis sind ausgetrocknete Flußbetten durch die Wasser geflossen ist, als Europa noch unter einer dicken Eisschicht gelegen hat. Auch heute noch können sie manchmal Wasser führen. Es geht das Gerücht, dass in der Sahara mehr Menschen ertrinken als verdursten. Wenn unachtsame Menschen die Wadis als Straße benutzen oder darin lagern, sich also länger als nötig darin aufhalten, kann ich mir das schon vorstellen.
An diesem Abend lässt Farouk die Zelte im Windschatten eines Felsens in der Ebene aufschlagen. Jetzt teilt er die Nacht in sechs zweistündige Wachen ein. Es wird kühl in den Nächten der Sahara. Man braucht dafür eine dicke wollene Djellabah oder eine zusätzliche Decke. Außerdem wird aus getrocknetem Kameldung ein kleines Feuer entzündet, das die ganze Nacht hindurch glimmt. Draußen vor den Zelten nährt man die Flammen des kleinen Feuers über die ganze Nacht.
Tagsüber döse ich zumeist auf meinem Kamel. Es trottet seitlich schräg hinter dem führenden Reittier Farouks her.
Heute Nachmittag wollen wir in der Oase El Qued ankommen. Es ist Mittag. Die Sonne brennt fasst senkrecht vom Himmel. Entsprechend langsam bewegt sich die Karawane vorwärts, als ich hochschrecke. Ich vernehme die schnellen dumpfen Laute, die galoppierende Kamele auf dem trockenen Boden verursachen. Ich ziehe mein Kamel herum, in die Richtung aus der das Geräusch kommt. Dort verdunkelt eine Staubwolke den Horizont.
Farouk ist in seinem Sattel aufgestanden und hält sich die Hand über die Augen. Dann hebt er winkend den Arm und ruft:
„Reiter, Reiter!“
Seine Männer treiben die Kamele auf engstem Raum zusammen. Dann sind die Reiter, die auf einer Hügelkuppe zur Linken erschienen sind, auch schon heran. Ihre Djellabahs wehen im Wind. Ich blicke in die Runde, doch in den anderen Richtungen tut sich nichts.
„Es sind Tuareg!“ ruft einer unserer Männer.
Farouk ist den Neuankömmlingen entgegen geritten. Ich sehe, dass er sich mit einem der Männer unterhält. Dann kommt er in Begleitung der Männer zurück zu uns.
„Die Männer geleiten uns in die Oase,“ erklärt er mir. „Abdul, der Anführer dieser Tuareg, kontrolliert diese Gegend hier.“
Bei Nennung des Namens horche ich auf. Ein Unbekannter hat vor ein paar Wochen unserem Informanten Omar Ibn Hassan ein Botenmädchen geschickt mit der Nachricht ‚Vorsicht vor Abdul‘. Es ist nicht gesagt, dass dieser Jemand damit den Anführer der Tuareg hier gemeint hat. Aber ich will trotzdem wachsam sein. Die Reiter, etwa zwanzig Mann, verteilen sich über die ganze Länge der Karawane und erwecken so den Eindruck dazu zu gehören.
Am Nachmittag führt Farouk die Karawane planmäßig an den See in der Senke neben den Lehmhäusern. Dann lässt er die Kamele abladen und umzäunt eine größere Fläche mit spärlichem Grün. Unsere Kameltreiber führen die Kamele hinein und lassen sie grasen. In der Zwischenzeit haben sich Leute bei Farouks Waren eingefunden. Sie dürfen sich aussuchen, was sie gebrauchen können. Dafür haben Farouks Kamele Wasser trinken dürfen und grasen nun das spärliche Grün. Aber Farouk erweist sich als wirklicher Kaufmann. Er feilscht um jedes Teil. Die Oasenbewohner bringen ihm auch säckeweise Datteln aus ihrer Plantage. Zum Sonnenuntergang sind beide Seiten zufrieden und es wird ein Fest gefeiert, das sich erst gegen Mitternacht auflöst.
Abduls Männer haben sich nur halbherzig daran beteiligt.
Am nächsten Tag verabschiede ich mich herzlich von Farouk und Achmed. Er schenkt mir zum Abschied eins seiner Lastentiere. Ich habe in der Oase ein Haus gemietet und gebe mich hier als Dattelhändler aus. Nachdem Farouks Karawane am Horizont verschwunden ist, wandere ich durch die Plantage von Dattelpalmen. Feisal, ein Junge aus dem Dorf, führt mich. Ich spare nicht mit Lob über die Eigenschaften der Datteln von El Qued.
Nach drei Tagen, in denen in der Oase nichts Auffälliges geschehen ist, mache ich mich schon mit dem Gedanken vertraut, mich für die Rückreise nach Biskra auszurüsten. Da trifft ein Militärtransporter in der Oase ein. Eine Gruppe Afrikaner von südlich der Sahara sitzt ab und wird von einem Teil von Abduls Männern in eine Lehmhütte geführt, die direkt an die Sandsteinfelswand gebaut ist. Ich wundere mich, dass so viele Personen, Männer, Frauen und Kinder, in der kleinen Hütte Platz finden können.
Der größte Teil von Abduls Leuten ist kurz nach Farouk aufgebrochen. Wahrscheinlich patrouillieren sie wieder in der Umgebung der Oase. Am Nachmittag dieses Tages erreicht eine weitere Karawane El Qued. Die Männer schlagen in der Nähe des Sees ihr Lager auf. Komischerweise nähert sich keiner der Oasenbewohner der Karawane zum Feilschen. Ich warte die Dunkelheit ab und schleiche mich von hinten an das größte Zelt heran.
Auf dem Platz zwischen den Zelten lodert ein großes Feuer. Es beleuchtet die Szenerie. Ich sehe Abduls Tuareg im Kreis auf dem Boden sitzen. Zwischen den sitzenden Männern steht einer von ihnen mit einer Peitsche in der Hand. Damit treibt er eine Tänzerin an. Mir stockt der Atem. Ich erkenne Djamilla! Die Männer klatschen, lachen und singen. Ich bleibe ruhig in der Deckung und warte ab. Bald haben die Männer genug. Djamilla wird in das Zelt geführt. Abdul erhebt sich. Jetzt erkenne ich ihn. Er betritt das Zelt, während der Mann mit der Peitsche wieder herauskommt. Kurz darauf höre ich eindeutige Laute hinter dem Stoff der Zeltwand.
Ich öffne die Zeltwand mit meinem Dolch gerade so weit, dass ich hineinschlüpfen kann. Abdul liegt am Boden auf Djamilla. Reflexartig stößt mein Messer zu. Ich rolle den Mann von Djamilla hinunter, die mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrt. Seinen Dolch stecke ich mir ein.
Ich ziehe sie hoch und werfe eine weiße Djellabah über sie. Nun könnte man sie für einen Mann halten. Dann schneide ich zwei Löcher in die Bodenmatte und weise sie an, sich zu setzen. So ziehe ich sie auf der Bodenmatte aus dem Zelt und verwische rückwärtsgehend auf diese Weise auch meine Spuren. Bald erreichen wir einen Weg und ich weise sie an mir auf ihren eigenen Füßen zu folgen. Bei so vielen Fußspuren fallen unsere nicht auf.
In meinem Haus angekommen, lasse ich sie erst einmal in Ruhe schlafen. Dafür soll sie sich in die Matte einrollen. Ich binde die Matte locker zusammen. Kaum habe ich mich schlafen gelegt, wird es draußen laut. Die Tuareg suchen im Schein von Fackeln nach Djamilla, die sie für Abduls Tod verantwortlich machen. Auch mein Haus wird durchsucht. Dabei wird die Mattenrolle übersehen. Djamilla wird darin sicher tausend Tode sterben, die Luft anhalten und Stoßgebete zu Allah schicken.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Mi März 30, 2022 9:39 am
Am Morgen bereite ich meine Abreise vor. Meine Dromedare haben sich erholt. Das Lastenkamel mit einem Sack Datteln, in dem verschiedene Beutel von verschiedenen Bauern untergebracht sind und allem, was man für die Reise durch das Sandmeer braucht, beladen. Neben dem zusammengelegten Zelt binde ich oben drauf auch verschiedene aufgerollte Matten. Auf diese Art schmuggele ich auch Djamilla aus der Oase. Ich wende mich nach Süden und nach einigen Stunden lasse ich das Mädchen aus seinem Versteck. Ich setze sie hinter mich auf das Reitkamel. Da sie wie ein Mann gekleidet ist und den Gesichtsschleier trägt, der uns vor Sand und Staub in der Luft schützt, wird niemand Verdacht schöpfen.
Ich lasse mir den Ort des Überfalls zeigen. Am Abend des zweiten Tages erreichen wir ihn. Wir begraben Farouk und die drei Kameltreiber. Djamilla überlässt mir das meiste, bittet mich aber die Köpfe der Toten nach Sonnenaufgang auszurichten. Während der traurigen Arbeit höre ich Djamilla murmeln. Es ist die hundertzwölfte Sure des Korans, die sie rezitiert:
"Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Sprich: Gott ist der einzige und ewige Gott. Er zeugt nicht und ist nicht gezeugt, und kein Wesen ist ihm gleich. Der Mensch liebt das dahineilende Leben, und lässt das zukünftige unbeachtet. Deine Abreise aber ist gekommen, und nun wirst du hingetrieben zu deinem Herrn, der dich auferwecken wird zu neuem Leben. Möge dann die Zahl deiner Sünden klein sein und die Zahl deiner guten Taten so groß wie der Sand, auf dem du einschliefst in der Wüste!“
Die Leiche Achmeds ist nicht zu finden.
Plötzlich breitet sich ein großer Schmerz in mir aus und ich verliere das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir komme, liege ich im Schatten eines Felsens. Djamilla kniet über mir und kühlt meinen Kopf. Ich fasse dort hin und fühle die weiche Haut einer riesigen Beule. Es tut höllisch weh und ich habe Kopfschmerzen. Ein Junge ist bei ihr. Ich versuche besser hinzusehen und erkenne Achmed. Djamilla drückt mich sanft auf den Boden zurück, als ich mich aufsetzen will.
„Sihdi -Herr-, bitte bleib liegen. Morgen bist du wieder okay!“
„Was… Was war das?“ frage ich schwach.
Achmed kniet sich neben mich. Er wirkt ganz zerknirscht.
„Sihdi, ich habe dich nicht erkannt. Ich sah zwei Männer sich über meinen Vater beugen und habe meine Steinschleuder gegen den Größeren eingesetzt.“
„Achmed, mach dir keine Vorwürfe!“ sage ich und versuche zu lächeln. „Es ist ein Wunder, dass du noch lebst!“
„Ich habe mich versteckt und später hier vor der Sonne geschützt. Was beim Überfall verloren ging, hat mir über die Tage geholfen. Wenn Allah dich nicht geschickt hätte, wäre ich sicher bald tot gewesen!“
Er holt unsere Kamele in den Schatten des Felsens und versorgt sie. Djamilla entzündet ein Feuer und kocht den landesüblichen starken Pfefferminztee, um sich danach um unsere Mahlzeit zu kümmern. Ich habe mich hochgezogen und an die Felswand gelehnt. Von dieser Position aus schaue ich dem Treiben der Beiden zu.
Nach einiger Zeit und dem belebenden Becher Tee rappele ich mich auf und beginne das Zelt hier hinter dem Felsen aufzubauen. Schnell ist Achmed da und geht mir zur Hand. Als die kurze Dämmerung hereinbricht, hole ich etwas glimmenden Kameldung ins Zelt und wir kuscheln uns aneinander, um die Kälte der Wüstennacht zu überstehen.
Am nächsten Morgen brechen wir in Richtung der Oase El Qued auf. Wir müssen noch einmal in der Ödnis übernachten, dann weiche ich in einem weiten Bogen nach Osten aus. Ich möchte die Tuareg in der Wüste umgehen, aber trotzdem erfahren, was es mit den vielen ankommenden Menschen von südlich der Sahara auf sich hat. Die Oase El Qued hat diesbezüglich ihr Geheimnis noch nicht preisgegeben. Dann muss ich wohlbehalten in Gabes ankommen, um meine Auftraggeber auf Malta informieren zu können.
Während wir auf den Kamelen durch die Wüste reiten, Djamilla hinter mir auf dem Reitsattel und Achmed thronend auf den Vorräten und Gerätschaften auf meinem Lastenkamel, beginnt er eine Unterhaltung:
„Sihdi, du willst wirklich ein Ungläubiger bleiben?“
„Ja,“ antworte ich ihm, „schau, wirklich ungläubig bin ich gar nicht. Ich glaube nur anders an Allah.“
„Mein Vater,“ er berührt mit seiner rechten Hand sein Herz, Mund und Stirn, „hat mir zu Toleranz geraten. Er sagt, Geschäfte kann man mit allen Menschen machen…“
„Da hatte er sehr recht gehabt!“ bekräftige ich und nicke ihm zu.
„Aber wir haben keine Eltern mehr, Sihdi, und ich bin noch nicht alt genug, gegenüber meiner Schwester das Familienoberhaupt zu sein. Ich habe noch nicht genug Erfahrung. Ich wünschte mir daher sehr, dass du unser Vater wärst. Ich fühle, dass du der Richtige dafür bist. Aber du bist ein Ungläubiger!“
„Hm, Achmed. Ich fühle mich geehrt und würde deinen Antrag gerne annehmen – wenn du bereit wärst, darüber hinweg zu sehen, dass ich für dich ein Ungläubiger bin. Worin liegt, deiner Meinung nach, denn der Unterschied zwischen dem Glauben an Allah und an Gott?“
„Allah ist ein einiger Gott und Mohammed ist sein Prophet!“
„Das ist richtig, Achmed! Und was weißt du über den Gott der Christen?“
„Die Christen glauben an drei Götter!“
„Das ist nicht richtig!“ widerspreche ich. „Schau, da ist zum Einen Gott. Dann ist damals ein Mann aufgetreten, Isa Ben Marjam, der wohl gesagt hat ‚Ich bin der Sohn Gottes‘, aber an anderer Stelle hat er alle Menschen ‚Söhne und Töchter Gottes‘ genannt, weil Gott die Menschen erschaffen hat. Und den ‚Geist Gottes‘ kannst du auch nicht von Gott trennen und zu einem eigenständigen Gott machen! Sieh mal, wenn wir allen Menschen gegenüber Toleranz üben, weil sie unsere Brüder und Schwestern sind, da wir alle ‚Söhne und Töchter Gottes‘ sind, dann handeln wir im Geiste Gottes. Das ist damit gemeint! Du hast also eigentlich nur Gott und einen Mann, der die Menschen auf den Weg Gottes zurückführen wollte, genau wie siebenhundert Jahre später Mohammed…“
Achmed schaut mich während der Ausführungen mit großen Augen an.
„So habe ich das noch nicht gesehen,“ meint er, als ich geendet habe.
„Wenn ich euch als euer ‚Stiefvater‘ führe, werde ich euch euren Glauben nicht nehmen!“ versichere ich dem Jungen. „Du huldigst Allah weiter in dem Ritus, den dir dein ehrwürdiger Vater vorgelebt hat!“
Er reitet eine Weile still neben mir her. Gegen Mittag machen wir im Schatten eines anderen Felsens Rast. Wieder kümmert sich Achmed zuerst um die Kamele, während Djamilla das Mittagessen bereitet und neuen Tee kocht.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Do März 31, 2022 10:02 am
Achmed hat sich neben mich gesetzt. Er schaut prüfend zu mir auf und beginnt erneut: „Trotzdem ist es schade, dass du ein Ungläubiger bleiben willst. Du bist so gut, so anders als alle Sihdis, denen ich begegnet bin.“
Ich lächele breit und lege meinen Arm um seine Schultern.
„Weißt du, wie es den Ungläubigen nach ihrem Tod ergehen wird?“ beginnt er erneut, während er sich bei mir anlehnt.
„Aber ich bin ja nicht wirklich ungläubig. Das gilt nur für diejenigen, die den Glauben an Gott mit Füßen treten, darauf spucken und die Gläubigen auslachen oder ihnen ein Leid antun…“
Ich lasse meine Worte einen Augenblick wirken, dann frage ich den Jungen: „Was passiert mit den Menschen nach ihrem Tod?“
„Sie kommen alle, ganz gleich, ob sie Muslim, Juden oder Christen sind, in den Barzach.“
„Das ist der Zustand zwischen Tod und Auferstehung,“ präzisiere ich. Ich denke, er verarbeitet gerade den Tod seines Vaters, und lasse mich deshalb auf das Thema ein.
„Ja, Sihdi. Aus ihm werden sie alle mit dem Schall der Posaunen aufgeweckt, wenn der jüngste Tag gekommen ist, an dem alles zugrunde geht, außer dem Thron Gottes, die Tafel und die Feder der göttlichen Vorherbestimmung.“
„Noch etwas bleibt bestehen,“ sage ich.
Er schaut zu mir auf, nachdem er bisher zu Boden geschaut hat, während er an meiner Seite lehnt.
„Das Paradies und die Hölle…“ helfe ich ihm weiter.
„Ja, das Paradies und die Hölle müssen auch bleiben, denn wohin sollen die Seligen und die Verdammten sonst kommen… Vorher aber müssen die Auferstandenen über die Brücke, die so scharf und schmal ist, wie die Schneide eines scharfen Messers.“
„Du hast noch etwas vergessen,“ sage ich mit sanfter Stimme. „Das Erscheinen des Dedjel…“
„Richtig, Sihdi. Du kennst den Koran und alle heiligen Bücher und willst kein Muslim werden? Also, vor dem Gericht wird sich der Dedjel zeigen, den die Christen den Antichrist nennen, nicht wahr, Sihdi?“
„Ja.“
„Dann wird über jeden das Buch des Lebens aufgeschlagen, in dem alle seine Taten verzeichnet sind. Danach beginnt das Abwägen aller menschlichen Taten und schließlich erfolgt das Urteil. Diejenigen mit den überwiegend guten Taten kommen in das Paradies, die anderen aber in die Hölle! Aber du sollst gerettet werden, Sihdi!“
Den letzten Satz bringt er mit einer solchen Inbrunst, dass ich ihn fester an mich drücke.
„Weißt du auch, was dich im Paradies erwartet?“ fragt er jetzt.
„Beschreibe es mir!“ fordere ich den Jungen auf.
„Das Paradies liegt über den sieben Himmeln und hat acht Tore. Zuerst kommst du an einen großen Brunnen, aus dem hunderttausende Selige zugleich trinken können. Dann kommst du an Orte, wo die Seligen auf golddurchwirkten Kissen ruhen. Sie erhalten von unsterblichen Jünglingen köstliche Speisen und Getränke. Ihr Ohr wird ohne Aufhören von himmlischen Gesängen entzückt. Dann steht da der Baum der Glückseligkeit, dessen Stamm im Palast des Propheten wurzelt und dessen Äste in die Wohnungen der Seligen reichen. An ihnen hängt alles, was zur Seligkeit erforderlich ist. Aus den Wurzeln des Baumes der Glückseligkeit entspringen alle Flüsse des Paradieses, in denen Milch, Wein, Kaffee und Honig strömt. Jungfrauen erfreuen die Seligen allezeit.“
„Dein Vater ist uns voraus gegangen, Achmed. Er hat es jetzt besser als wir…“ sage ich, um ihn in die Gegenwart zurück zu holen, und streich ihm sanft durch sein Haar. „Deine Mutter ist nun bei ihm, dann braucht er keine Jungfrauen!“
Er stutzt und bleibt eine Weile ruhig. Man spürt, dass es in ihm rumort. Dann sagt er: „Meine Mutter ist in einem der Himmel, die für Frauen eingerichtet sind.“
„Oh,“ mache ich.
Er rückt ein wenig von mir ab und rezitiert: „Der Prophet sagt: ‚Des Weibes Stimme ist wie der Gesang der Nachtigall, aber ihre Zunge ist voll Gift wie die Zunge der Natter.‘“
„Hm,“ mache ich nun. „Der christliche Gott akzeptiert Männer und Frauen als seine Söhne und Töchter. Er macht keinen Unterschied. Du liebst doch deine Mutter wie deinen Vater? Du fühlst doch sicher innige Zuneigung gegenüber deiner Schwester? Du würdest sie sicher gegen Feinde verteidigen und im Alltag verantwortungsvoll behüten?“
„Ja, das ist richtig!“ sagt er im Brustton der Überzeugung.
Er schaut mich unsicher an.
„Keine Angst, mein Junge! Ich will dir deinen Glauben nicht nehmen! Bete ruhig weiterhin zu Allah. Sage ‚La illaha illa Allah, we mohammed rasuhl Allah‘. Er hört das mit dem gleichen Wohlwollen wie mein ‚Abana aldhai, fi al samawat‘. Ich respektiere deinen Glauben. Wenn du den meinen ebenso respektierst, kann uns niemand auseinanderbringen!“
Wir hängen nach dem Mittagessen unseren Gedanken nach. Es dauert nicht lange bis ich eingedöst bin. Irgendwann werde ich wach, als mich jemand rüttelt. Ich öffne die Augen und erblicke Achmed.
„Sihdi, wir müssen weiter!“
Mich aufsetzend, nicke ich ihm zu und antworte: „Du hast recht. Beladen wir die Kamele!“
Bald darauf reiten wir wieder durch die trockene felsige Landschaft. Die Sonne bewirkt, dass wir zu dösen beginnen. Plötzlich bin ich hellwach.
„Schau, Achmed. Hier sind Reifenspuren!“
Er thront in den letzten Tagen auf den Gerätschaften, die wir dem Lastenkamel aufgebürdet haben. Ich führe das Lastenkamel an einer langen Leine. Jetzt treibt Achmed sein Tier an, bis es neben meinem steht. Er schaut sich die Spur an und dreht sich dann zu mir.
„Was hat das zu bedeuten, Sihdi?“
„Die Spur führt in nordöstlicher, beziehungsweise südwestlicher Richtung. Der eine Endpunkt dürfte El Qued sein, der andere Endpunkt der Chott el Djerid…“
„Und was machen wir jetzt, Sihdi?“ Seine Stimme vibriert unsicher.
„Die Oase ist für uns nicht sicher…“ resümiere ich. „Kennst du genügend Wasserlöcher auf dem Weg zum großen Salzsee?"
„In den Wadis, die im Chott el Djerid münden, findet man immer wieder Wasser, wenn man etwas gräbt!“
„Aber im Wadi zu reiten, kann gefährlich werden! Wir werden einem Wadi folgen und hinabsteigen, wenn du mir sagst ‚Hier finden wir Wasser‘! Nebenbei sollten wir die Reifenspuren im Auge behalten und den Horizont!“
Ich erinnere mich an den Militärlaster, der in der Oase El Qued eine große Gruppe Schwarzafrikaner ausgespuckt hat. Wenn man die Leute zum Chott el Djerid und von dort weiter zur Küste bringt, hätte ich eine Spur.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Fr Apr 01, 2022 9:31 am
Nach wenigen Stunden führen die Spuren in ein Wadi hinein. Wir folgen dem Wadi oben am Rand des Felsabbruches bis Achmed mich auf eine Felsnische am Grund des Wadis aufmerksam macht. Dort liegt der sandige Grund im Schatten.
„Sihdi, dort unten brauchen wir nicht tief graben, um an Wasser zu kommen.“
Ich stoppe mein Kamel und lasse es sich hinlegen. Achmed tut das Gleiche. An den Rand tretend, schaue ich mir die Wand an. Es sind schätzungsweise nur zehn Meter bis zum Grund des ausgetrockneten Flussbettes. Inzwischen hat Achmed ein Seil am Sattelknauf seines Kamels festgemacht und einen Wassersack aus Leder in die Hand genommen.
„Ich klettere hinunter, Sihdi,“ meint er. „Bleib du bei Djamilla.“
Ich lächele, lege meine Hand auf seine Schulter und sage: „Du kannst dich auf mich verlassen!“
Achmed lässt das Seil in den Geländeeinschnitt hinab und klettert daran hinunter. Unten gräbt er mit den Händen eine kleine Kuhle in den Sand, die sich bald mit Wasser füllt. Dort hinein legt er den Wassersack. Nach einigen Minuten hebt er ihn mit Mühe hinaus und bindet ihn an das Seil.
Ich ziehe ihn mit Mühe hoch und denke mir dabei: „Der Schlingel. Er hätte Mühe gehabt, den Wassersack hochzuziehen!“
Oben lasse ich ein Kamel trinken. Bald darauf ist der Sack leer. Ich trete wieder an den Rand des Wadis und werfe ihm den Ledersack wieder hinunter. Als das zweite Kamel auch seinen Durst gestillt hat und wir ebenso, mache ich den vollen Wassersack wieder an seinem Platz fest und helfe Achmed wieder die Wand hoch.
In einiger Entfernung sehen wir mehrere große Vögel am Himmel kreisen. Sie stoßen herab und sind damit unseren Blicken entschwunden.
„Bartgeier,“ sagt Achmed. „Wo sie sind, ist ein Aas nicht weit.“
Als wir zu der Stelle kommen, sehe ich sie sich neben den Reifenspuren im Wadi über einem frisch aufgebrochenen Körper um die besten Brocken Fleisch streiten.
„Inschallah!“ ruft Achmed überrascht aus. „In Gottes Namen! Ist das nicht ein Mensch, Sihdi?“
Ich nicke und lasse die Kamele sich wieder niederknien. Das Seil verhilft nun mir dazu, ins Wadi zu kommen. Erschauernd nähere ich mich den Vögeln, die nun auffliegen und über mir ihre Kreise drehen. Fetzen tiefbrauner Haut und breite Beckenknochen lassen mich auf eine Frau aus Schwarzafrika tippen. In beiden Schläfen kann ich Löcher erkennen, die nicht von den Schnäbeln der gefiederten Totengräber stammen können. Ich klettere wieder hinauf und sage zu Achmed:
„Wir sollten uns einen schattigen Ort suchen und etwas ruhen.“
Die schaukelnden Bewegungen der Kamele hätten meinen Magen bestimmt veranlasst, sich zu entleeren. Ich muss mich erst beruhigen. Wir gehen eine Weile, die Kamele an ihren Leinen hinter uns her ziehend, bis wir einen Felsen erreichen, wo wir uns niederlassen. Achmed ist die ganze Zeit still. Djamilla redet sowieso kaum im Tageslauf. Man muss sie schon direkt ansprechen.
Als wir uns niedergelassen haben, kann er allerdings nicht mehr an sich halten: „Was hast du gesehen, Sihdi?“
„Eine ermordete Frau,“ antworte ich ihm kurz angebunden und schließe die Augen fast völlig.
Er lässt mich nun in Ruhe und dringt nicht weiter in mich. Ich döse eine Weile vor mich hin und rekapituliere meine Erlebnisse, seit ich in Gabes an Land gegangen bin.
Dort habe ich zum ersten Mal von Achmed gehört. Ein Salzhändler hat die Information am Chott el Djerid, dem großen Salzsee, aufgeschnappt. Dann schickt jemand eine junge Schwarzafrikanerin in den Gewändern einer jungen Araberin zu uns mit der Warnung vor einem gewissen Abdul. Über das Motiv des Mannes oder dieser Leute, die sie zu Samos geführt haben, bin ich mir noch nicht klar. Geschah die Warnung aus Sorge oder wollte da jemand uns in eine Falle locken um damit ein Hindernis für seine Pläne aus dem Weg zu räumen?
Auf dem Gebiet der Oase El Qued habe ich dann einen gewissen Abdul kennengelernt. Er ist der Anführer einer Gruppe Tuareg gewesen, die dort dunkle Geschäfte verfolgt hat – oder immer noch verfolgt. Abdul hat versucht Djamilla zu vergewaltigen und seine Absicht mit dem Leben bezahlt. Man sollte meinen, dass das die dunklen Geschäfte seiner Tuareg empfindlich stört, aber anscheinend gehen sie unvermindert weiter. Die Gruppe scheint gut durchorganisiert. Was für Geschäfte mögen das sein? Alle Anzeichen sprechen für Menschenhandel.
Leises Brummen lässt mich aufhorchen. Ich setze mich auf. Aus dem Wadi kommt das Geräusch nicht.
„Sihdi, schau!“ ruft Achmed.
Er ist auf den Felsen geklettert. Seine Djellabah flattert im Wüstenwind. Die Hand weist an den Horizont. Ich gehe um eine Ecke des Felsens und sehe eine Staubfahne am Horizont.
„Ein großer Lkw,“ erklärt Achmed mir fachmännisch. „Richtung Sonnenaufgang!“
‚Was liegt östlich von El Qued?‘ frage ich mich, und blitzartig kommt mir Gabes in den Sinn.
Ich muss mich jetzt entscheiden. Der Lkw könnte Waren befördern oder auch Menschen, um sie auf ein schrottreifes Fischerboot zu setzen. Ich habe hier leider keine Handyverbindung, um Samos in Gabes zu informieren oder gleich die Leitstelle auf Malta.
Andererseits ist da das Fahrzeug, das dem Wadi folgt in Richtung Chott el Djerid. Möglicherweise ist dieser Transport schon an seinem Ziel angelangt. Warum hat man die Frau unterwegs erschossen und aus dem Wagen gestoßen?
Ich entscheide mich für den Chott el Djerid als Ziel. Wir brechen auf und erreichen gegen Abend den großen Salzsee. In einiger Entfernung erkenne ich das Leuchten von Feuerstellen.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Sa Apr 02, 2022 9:59 am
„Wir lagern hinter den Felsen hinter uns,“ entscheide ich.
Wir ziehen uns also wieder zurück und beginnen das Zelt zu errichten. Nach dem Abendessen warte ich bis die Kinder schlafen. Dann nehme ich meine Taschenlampe und umwickele sie mit einem Tuch, bevor ich sie einschalte. Ich gehe in einiger Entfernung parallel zum Ufer des Chott el Djerid in die Richtung, in der ich bei der Ankunft die Ansiedlung der Salzarbeiter gesehen habe.
Ich erkenne bald den schwachen Schein glimmender Feuerstellen. Zwischen den Brettern einer der größeren Hütten leuchtet elektrisches Licht hervor. Bald erreiche ich die Außenwand und versuche etwas durch die Ritzen zu erkennen.
Es ist ein Lager mit Salzblöcken. Von irgendwoher ertönt arabische Musik. Die Männer feiern ausgelassen. Ich kann tanzende Schwarzafrikanerinnen in durchsichtigen Röcken erkennen. Dazwischen werden andere Schwarzafrikanerinnen herumgeführt. Sie werden an Leinen gehalten und müssen auf allen Vieren gehen. Sträuben sie sich, spüren sie die Peitsche. Jeder Schlag wird vom Grölen der Umstehenden begleitet. Andere müssen den Salzarbeitern zu willen sein. Dafür wurden Tücher und Teppiche auf den Salzblöcken ausgebreitet.
Als Einzelperson, der auch noch auf zwei Kinder achten muss, kann ich den Frauen leider nicht helfen. Ich ziehe mich zurück. Dabei erkenne ich die Umrisse des Lkws vor dem Nachthimmel. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schaue ich ihn mir aus der Nähe an. Seine ausladende Motorhaube vor dem Führerhaus ist mit Hartgummiriegeln befestigt. Ich öffne eine Seite, lasse die Klappe über meinen Kopf herunter und leuchte mit der Taschenlampe hinein. Schnell finde ich die Schläuche, die zum Kühler führen. Daran ziehend, entferne ich sie. Dann schließe ich die Motorhaube wieder und entferne mich leise, meine Spuren verwischend zu unserem Lager.
Am Morgen des nächsten Tages ziehe ich, einem Impuls folgend, mein Handy aus der Tasche und prüfe die Verbindung. Tatsächlich, hier in der Nähe der Siedlung der Salzarbeiter habe ich Kontakt. Ich wähle Samos‘ Nummer.
„Selam.“
„Selam alejkum, Monsieur Samos,“ melde ich mich. „Ich bin Monsieur d‘Alsace…“
„Ah, Monseur d’Alsace, wie geht es Ihnen?“
„Hm, den Umständen entsprechend,“ antworte ich, gequält lächelnd. „Ist bei Ihnen in der Nähe wieder ein Boot Flüchtlinge gestartet?“
„Ja, vergangene Nacht, woher wissen Sie…“
„Ist Ihnen an der Gruppe etwas aufgefallen?“ dringe ich weiter in ihn.
„Es sind Schwarzafrikaner, mittleren Alters. Auch einige junge Männer waren darunter und Frauen mit Babys und Kleinkindern. Nein, eigentlich alles so wie üblich…“
„Hm, also keine jungen kinderlosen Frauen darunter?“
„Nein, für diese Gruppe ist die Flucht aus der Armut in ihrer Heimat zu stressig, denke ich!“
„Oh,“ mache ich da. „Aber für junge Frauen mit kleinen Kindern ist die Reise durch die Wüste und über das Wasser nicht zu stressig?“
„Nun ja,“ meint Samos. „Ich denke, sie haben ihre Männer dabei und reisen als Familie!“
„Das kann sein,“ gebe ich ihm Recht. „Was sagen Sie aber, wenn Menschenhändler Flüchtlingsgruppen separieren? Also junge Frauen herausfiltern und sie zur Prostitution freigeben, und auf diese Weise ein paar schnelle Dinar nebenbei verdienen.“
„Haben Sie Anhaltspunkte dafür?“
„Ich habe es selbst gesehen! Die Separation erfolgt in der Oase El Qued und zur Prostitution gezwungen werden die Frauen bei den Salzarbeitern am Rande des Chott el Djerid. Man behandelt die Frauen wie Tiere!“
„Das kann man so oder so verstehen…“ sagt Samos zurückhaltend. „Entweder man behandelt sie wie der letzte Dreck, oder geht liebevoll mit ihnen um, weil man Verantwortung für sie trägt!“
„Eher das Erstere! Ich denke, für die Männer hier haben die jungen Frauen wenig wert. Sie können ja jederzeit ersetzt werden!“
Samos ist für ein paar Atemzüge ruhig, dann fragt er: „Wo sind sie jetzt?“
„Ich kann Ihnen keine genauen Daten liefern,“ antworte ich vorsichtig. Wer weiß, ob wir abgehört werden… „Ich habe Achmed und Djamilla in meiner Begleitung, die Kinder Farouks, des Kaufmanns. Seine Karawane wurde von diesem Abdul überfallen. Ich konnte die Kinder wenigstens retten.“
„So sind Sie nun doppelt gehandicapt: Sie müssen die Kinder schützen und haben nicht genug Männer gegen Abdul und seine Leute!“
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Thema: Re: Meer ohne Wasser So Apr 03, 2022 11:10 am
„So ist es.“
„Farouk entstammt den Tuareg. Allerdings war er nie am schnellen Geld interessiert wie Abdul. Ich werde jemanden informieren, der seinerseits Farouks Clan informiert. Wie können die Leute Sie erreichen?“
„Ich werde mich weiter vom Chott el Djerid zurückziehen. Wenn die Leute dem Wadi folgen von El Qued zum Chott el Djerid und des Nachts ein Kamel laut brüllen hören, werden sie uns finden.“
„Okay, Monsieur d’Alsace. Ich werde das weitergeben.“
„Wann rechnen Sie mit dem Zusammentreffen? Ich möchte nicht jemanden anlocken, den ich nicht zu treffen wünsche!“
„Das weiß ich auch nicht,“ meint er. „In spätestens einer Woche müssten Farouks Leute bei Ihnen sein…“
„Okay, Tuareg wissen, wo man Leute am ehesten findet…“ resümiere ich.
„Viel Glück!“ wünscht mir Samos.
„Danke Ihnen,“ sage ich und unterbreche die Verbindung.
Achmed und Djamilla sind während des Gesprächs wach geworden, haben sich aufgesetzt und gelauscht. Nun fragt mich Achmed:
„Sihdi, was machen wir jetzt?“
„Es ist noch früh am Tag,“ stelle ich fest. „Wir werden dem Wadi folgen, bis zur letzten Wasserstelle. Dazu gehen wir über die Kämme der Dünen, damit der Wind unsere Spuren verweht. Dann lagern wir im Schatten eines Felsens, etwa eine halbe Stunde Wegstrecke querab.“
Wir machen unsere beiden Kamele reisefertig und haben am Nachmittag den von mir beschriebenen Ort erreicht. Dort schlagen wir unser Lager auf. Während Djamilla im Lager bleibt, machen wir uns mit den Wasserhäuten auf zum Wadi.
*
Als ich erwache, brummt mir der Schädel beinahe so wie damals, als Achmed mich mit der Steinschleuder am Grab seines Vaters attackiert hat. Ich öffne die Augen und sehe mich in einem Beduinenzelt liegen. Soweit scheint alles in Ordnung, wenn nur die Kopfschmerzen nicht wären.
Ich setze mich auf und rutsche auf dem Teppich, auf dem ich gelegen habe, zu einer der Zeltstangen um mich daran zu lehnen. Dabei gerät die Zeltplane etwas in Bewegung. Kurz darauf schlägt jemand die Stoffbahn zur Seite, die den Eingang verschließt, bückt sich etwas und kommt herein. In seinem Gürtel trägt er die kunstvoll verzierte Scheide eines Beduinendolches. Ein Tuareg!
„Selam alejkum,“ grüßt er und entblößt ein lückenhaftes Gebiß. „Ich bin Hassan, der Clanführer dieser Tuareg. Achmed sagte mir, dass du dich wie ein Vater um ihn und seine Schwester gekümmert hast. Ich hörte ebenso, dass du Djamilla aus der Hand Abduls gerettet und ihre Jungfräulichkeit bewahrt hast. Farouk war mein Bruder. Nun kann ich keine Blutrache üben gegen Abdul…“
„Abdul hat von Allah die Strafe auf dem Fuße erhalten…“ entgegne ich vorsichtig. „Aber sein Clan macht unter Führung eines Anderen in ihrem schändlichen Tun weiter!“
„Hussein wird nun den Clan führen…“ resümiert mein Gegenüber.
Der Beduine hat sich mir gegenüber im Schneidersitz niedergelassen. Nach einer kurzen Gedankenpause, während der er mich prüfend mustert, klatscht er in die Hände.
Kurz darauf wird die Stoffbahn von hilfreichen Händen wieder zur Seite geschlagen und ein Mädchen betritt das Zelt in gebückter Haltung. Sie trägt mit beiden Händen ein Tablett mit Lebensmitteln, dass sie zwischen uns abstellt und rückwärts das Zelt wieder verlässt. Hassan, mein Gegenüber, hat schon eine dunkle Hautfarbe. Das Mädchen ist noch um einiges dunkler. Sie ist in einem grauen, groben Stoff gekleidet. Da sie keinen Schleier trägt, erkenne ich ihre negroiden Gesichtszüge. Der einzige Schmuck, den sie trägt, ist ein silbrig schimmernder Halsreif.
„Du kannst sie heute Abend haben, wenn du willst“, sagt Hassan, der das Mädchen kaum zu bemerken scheint.
Ich lehne höflich ab. Hassans Stirn zeigt bedrohliche Falten. Er hat gerade nach den Speisen gegriffen und hält nun inne, mich anschauend. Sofort revidiere ich meine Entscheidung. Das Angebot seines Gastgebers abzulehnen, ist wohl ein Affront. Er lächelt, und nun speisen wir gemeinsam.
Nach einer Weile fragt er mich: „Wo liegt dein Heimstein?“
Ich stutze. Das Wort habe ich noch nie gehört. Verständnislos schaue ich ihn an.
„Unser Clan führt einen besonderen Stein mit sich. Überall, wo wir unser Lager aufschlagen, um dort unsere Herden zu weiden, pflanzen wir den Stein in die Mitte des Lagers und errichten darüber das Zelt des Clanchefs. Schau hier…“
Er schlägt einen kleinen Teppich zur Seite und darunter kommt ein zweifarbiger Stein zum Vorschein, der wohl aus zwei verschiedenen Mineralen zu bestehen scheint.
„Der Islam hat seinen heiligen Stein, in der Kaaba in Mekka,“ erklärt er. „Das Judentum hatte seinen auf dem Tempelberg in Yerushalom. Ihr Christen kennt das nicht?“
„Leider nein,“ antworte ich spontan.
„Die Tuareg sind ein Jahrtausende altes Volk. Wir haben jeder unseren Stein, Clan für Clan!“ meint er. „Für uns genießt er die gleiche Verehrung wie ihr Europäer eure Flaggen verehrt.“
Er fügt die Fingerspitzen von Daumen, Zeige- und Mittelfinger zusammen und berührt damit seine Stirn, Mund und Brust, dann verdeckt er den Stein wieder mit dem Teppich.
Ich fasse Vertrauen und beginne, Hassan über mich und meine Mission hier in Nordafrika zu erzählen. Er hört interessiert zu und lächelt, als ich ihm von der Sabotage des Lkws erzähle. Als wir Beide satt sind, klatscht er wieder in die Hände und die junge Frau räumt das Tablett wieder fort. Hassan steht auf und fordert mich auf, ihn zu begleiten. Als wir vor sein Zelt treten, sehe ich Achmed draußen neben dem Eingang sitzen. Er erhebt sich und sagt „Sihdi“, dann nimmt er meine Hand, wir lächeln uns an und er drückt meine Hand kurz an seine Stirn, bevor er sie loslässt. Dann verschwindet er im Zelt des Clanchefs.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Mo Apr 04, 2022 8:57 am
Hassan führt mich durch das Lager und zeigt mir ein Zelt an dessen Rand, das mir an einigen Details bekannt vorkommt. Es ist meins!
„Wir haben dein Zelt hier errichtet,“ sagt Hassan. „Deine Tiere werden von Achmed betreut.“
„Hab vielen Dank,“ sage ich und mache nun auch die Geste der drei Finger, mit denen ich Stirn, Mund und Herz berühre.
Hassan macht einen Schritt auf mich zu und legt kurz seine Arme um mich.
„Ich habe dir viel zu verdanken,“ meint er. „Du hast dich im Bahr bila ma -Meer ohne Wasser- um meines Bruders Kinder gekümmert.“
Dann dreht er sich um und geht zu seinem Zelt zurück. Ich schlage die Stoffbahn meines Zelteingangs zur Seite und bücke mich, um ins Innere zu gelangen.
Drinnen hockt eine kleine Gestalt in grauem grobem Stoff auf dem Teppich, den braunen schwarzgelockten Kopf gesenkt, als erwarte sie irgendetwas oder irgendwen. Ich erkenne das Mädchen, das uns in Hassans Zelt bedient hat.
„Wie heißt du?“ frage ich.
„Alyena, wenn es dem Sihdi gefällt,“ antwortet sie, mit weiterhin gesenktem Haupt.
„Aber ja, Alyena,“ antworte ich lächelnd, lasse mich vor ihr in den Schneidersitz nieder und fasse sie am Kinn. Ich hebe ihren Kopf, dass sie mich ansehen muss.
„Was ist deine Aufgabe?“
„Ich diene und hoffe, dem Sihdi zu gefallen.“
Ich nicke und antworte ihr: „Ich denke, das ist nicht allzu schwer. Welche Sehnsüchte treiben dich?“
„Alyena hat nur einen Wunsch: dem Sihdi mit meinem Dienst zu gefallen! Ich werde jede deiner Anweisungen nach besten Kräften ausführen!“
„Alyena,“ sage ich. „Du hast doch sicher Träume oder Sehnsüchte in Bezug auf dein Leben oder was deinen Sihdi betrifft: welche seiner Eigenschaften würden dich glücklich machen?“
„Sihdi, ich bin glücklich, wenn mein Dienst dein Gefallen findet!“
Ich schaue in ein gequält lächelndes Gesicht.
„Okay,“ sage ich, „ich will nicht weiter in dich dringen. Ich möchte dir stattdessen meinen Standpunkt darlegen: In meiner Heimat sind Frauen und Männer rechtlich gleichgestellt. Dennoch gibt es Ungleichheiten – auf beiden Seiten. Es gibt Männer, die sich von Frauen führen lassen und ihnen dienen, genauso wie es Frauen gibt, denen die Gleichberechtigung nichts sagt. Sie dienen lieber und lassen sich im Alltag führen. Daneben gibt es führende Männer und Frauen, denen es gefällt bedient zu werden. Die Meisten schauen egoistisch auf ihr Wohl. Das Wohl der dienenden Frauen und Männer ist ihnen egal. Dann gibt es natürlich auch egoistische dienende Männer und Frauen, denen es gefällt zu dienen – das Wohl der führenden Männer und Frauen ist ihnen egal.“
Ich bemerke ihren zunehmend verständnisloseren Gesichtsausdruck bei meinen Ausführungen, und unterbreche meine Erklärung hier.
„Alyena, ein Teil deines Dienstes ist es sicher, dem Sihdi des Nachts zu gefallen. Was ich eben ausführte bezog sich darauf. Dein Dienst im Alltag, wie heute im Zelt des Clanchefs, ist selten Aufgabe der dienenden Männer und Frauen in meiner Heimat. Ihnen geht es meist nur um den Dienst auf der Lagerstatt. Da gibt es bei Beiden - bei den Führenden und bei den Dienenden - Egoisten, die nur auf ihr Wohl schauen und denen das Wohl ihres Gegenübers egal ist.“
Alyena zieht einen weinerlichen Gesichtsausdruck, beugt sich nach vorne, kreuzt ihre Handgelenke, legt mir ihre Hände in den Schoß und drückt ihr Gesicht gegen den Teppich, auf dem wir sitzen. Die rituelle Bedeutung dieser Geste entgeht mir nicht. Sie bietet mir ihre Handgelenke dar, als sollte ich sie fesseln.
„Sihdi, dein Wohl ist mein Lebensinhalt! Ich gehöre dir! Tu mit mir wie dir beliebt!“
„Das werde ich!“ verspreche ich ihr. „Dein Wohl liegt mir ebenso am Herzen! Ich führe dich mit Verantwortungsbewusstsein, als wärest du meine Tochter: Ich schütze und stütze dich. Ich habe jederzeit ein offenes Ohr für deine Sorgen. Ich versorge dich und kümmere mich um dein Wohl. Du wirst allerdings feststellen, dass du mich nicht um deine Finger wickeln kannst, wie so viele Frauen in meiner Heimat ihre Männer und Väter! Ich verlange Gehorsam, denn nur so ist Führung wirklich möglich! Allerdings werde ich dich niemals körperlich strafen. Missfällt mir dein Dienst irgendwann einmal, werde ich dir erklären, was mir missfällt und dir so Gelegenheit zur Korrektur geben. Wendest du dich von mir ab und verweigerst mir den Gehorsam entziehe ich dir meine Hand, die dich schützt!“
Sie hat sich wieder aufgerichtet, während ich geredet habe. Nun drückt sie ihre Stirn noch einmal auf den Teppich und flüstert:
„Sihdi, du bist die Erfüllung meiner Träume. Ich werde dich niemals enttäuschen!“
„Ich denke mal: Da du noch nie einem Europäer wie mir gedient hast, werde ich dir anfangs des Öfteren erklären, dass ich etwas in anderer Art von dir erwarte, als du es tust. Du wirst sicher schnell lernen,“ resümiere ich.
Während wir uns gegenseitig erklärt haben, ist draußen Kamelgetrappel zu hören gewesen. Da mir das Gespräch mit Alyena zu wichtig gewesen ist, es zu unterbrechen, stehe ich nun auf und trete vor das Zelt. Keine größere Aktivität ist zu sehen. Also gehe ich quer durch das Lager, dorthin wo die Dromedare grasen. Ich hoffe, Achmed unter den Hirtenjungen zu finden. Achmed ist alleine dort und ich kann nur noch wenige Kamele entdecken.
„Selam, Achmed,“ sage ich also. „Was war das eben für ein Aufruhr im Lager?“
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Di Apr 05, 2022 10:07 am
„Selam, Sihdi,“ antwortet er und schüttelt den Kopf. „Aufruhr habe ich keinen festgestellt. Alles völlig normal! Die Männer sind losgeritten zum Chott el Djerid.“
„Zu der Gruppe des Hussein?“ frage ich, obwohl ich die Antwort schon kenne. Achmed nickt.
„Sie werden kurz vor Morgengrauen dort sein und die Männer noch im Schlaf überraschen,“ ist er überzeugt.
Ich beschließe, mich aus dem Clankrieg weitestgehend heraus zu halten. Hassan hat mich ja auch nicht mitgenommen. Das ist eine Sache, die nur ihn und Hussein etwas angeht. Ich beobachte nur.
Am Morgen des übernächsten Tages werde ich vom Getrappel der Kamele geweckt. Ich befreie mich aus Alyenas Armen und krieche unter der Rückwand des Zeltes ins Freie. Außerhalb der Zivilisation lernt man vorsichtig zu sein.
Es kommt jedoch niemand in das Zelt, um etwas zu stehlen oder der Magd etwas anzutun. Also spähe ich um die Ecke, was der Aufruhr am frühen Morgen zu bedeuten hat. Ich erkenne Hassan mit seinen Leuten. Die Kamele werden zur Weide gebracht und von den Jungs versorgt. Jeder der Männer hat eine der Frauen, die Hussein zur Prostitution gezwungen hat, auf seinem Kamel mitgebracht. Sie müssen alle in ein Zelt gehen und dürfen sich nicht herauswagen. Wachen patrouillieren um das Zelt.
Beim Frühstück im Zelt des Clanchefs mit all seinen Männern erfahre ich, dass er gedenkt, die Sahara nach Süden zu durchqueren. Er will die Frauen dorthin bringen, woher die Meisten stammen. Hassan stellt mir frei, ihn zu begleiten oder mich auf die Rückkehr zu machen.
„Der Clan des Hussein ist nicht besiegt, sagst du? Was ihr errungen habt, war nur ein Sieg in einer Schlacht?“
„So ist es,“ antwortet er mir.
„Farouk, dein Bruder, hat mir das Reiten eines Kamels beigebracht. Wir haben Salz geteilt. Weise mir bitte einen Lehrer unter deinen Leuten zu, der mir zeigt wie Tuaregs kämpfen!“ bitte ich ihn nun. „Ich möchte etwas Sinnvolles tun können und mich nicht verkriechen, wie ein Weib.“
*
Ohne Vorwarnung zieht Muhammad seinen Säbel und greift mich an. Hassan hat mich mit ihm bekannt gemacht. Gerade haben wir noch miteinander gescherzt. Schnell drehe ich mich zur Seite. Die Schneide reißt meine Djellabah auf und zieht eine blutige Furche über meine Haut. Hätte ich nicht diese Abwehrbewegung gemacht, hätte mich der Säbel schwer getroffen.
„Schnell genug ist er“, sagt Muhammad zu Hassan. „Ich nehme ihn.“
So hat meine erste Begegnung mit meinem Lehrer in der Kampfkunst der Tuareg begonnen. Er ist ein stolzer Mann ohne Arroganz; ein Mann, der seine Waffen beherrscht und scheinbar mit jedem Gegner fertig werden kann.
Im Laufe der nächsten Zeit freunde ich mich mit ihm an. Außer dem Gebrauch des Säbels lerne ich den Gebrauch der Steinschleuder kennen und die Flinte, die ich im vollen Kamelgalopp zielsicher schießen lernen soll.
Irgendwann fragt er mich: „Was ist, wenn du am rechten Arm verwundet bist? Was tust du dann?“
„Mich in Sicherheit bringen?“ frage ich spontan zurück.
„Nein!“ ruft Muhammad in gespielter Verzweiflung. „Du musst weiterkämpfen und sterben wie ein Krieger.“
Offensichtlich will er mir nun beibringen, auch mit links zu kämpfen. Verzweifelt mache ich mich an die Arbeit und entwickele zu meiner Überraschung nach einiger Zeit auch mit dem linken Arm eine gewisse Fertigkeit. In Muhammads Augen habe ich damit meine Überlebenschancen um einen unbestimmten Prozentsatz verbessert.
Wenn mich Muhammad während meiner Ausbildung verletzt, ruft er stets aus: „Du bist tot!“
Das ärgert mich und ich gebe mir Mühe seine Attacken zu parieren. Bald bekommen wir auch noch mehr und mehr Zuschauer, die natürlich nicht ruhig zusehen. Irgendwann gelingt es mir, seine Parade zu durchbrechen und ihm eine Schnittwunde beizubringen. Ich ziehe meinen Säbel zurück und lasse ihn an meinem Arm hängen. Die Zuschauer toben. Muhammad wirft seine Waffe klirrend zu Boden und reißt mich lachend an seine blutende Brust.
„Ich bin tot!“ brüllt er triumphierend.
Er boxt mich in die Seite, stolz wie ein Vater, der seinem Sohn das Schachspielen beigebracht hat und nun zum ersten Mal geschlagen wurde. Als meine Ausbildung zu Ende geht, lässt Muhammad Salz bringen. Das Ritual, das ich bei Farouk schon kennen gelernt habe, wiederholt sich.
„Wir gehen jetzt in das Zelt des Clanchefs“, sagt er.
Ich bemerke, dass keine Zuschauer mehr um uns herum stehen. Also folge ich ihm. In Hassans Zelt ist kaum noch Platz zu finden. Alle männlichen Clan-Mitglieder sitzen auf dem Boden. Im Hintergrund hat Hassan auf einem Hocker Platz genommen, neben dem kleinen kostbaren Teppich, unter dem der Heimstein des Clans verborgen gewesen ist. Jetzt liegt der Stein aus zwei unterschiedlichen Mineralen auf dem Teppich.
„Tritt vor, Pierre d‘Alsace,“ sagt Hassan, als ich mit Muhammad das Zelt betrete. Während Muhammad sich in der ersten Reihe niederlässt, bleibe ich vor Hassan stehen. Ich spüre die Blicke aller Anwesenden auf mir ruhen.
Muhammad ergreift das Wort: „Ich, Muhammad, gebe mein Wort, dass dieser Mann geeignet ist, Mitglied des Clans des Hassan aus dem Volk der Tuareg zu werden.“
Hassan antwortet ihm in blumigen Worten: „Das Wort Muhammads ist stärker als der heiße Atem der Wüste, stärker als die Flut in den Wadis während fern der Regen die Pflanzen sprießen lässt. Ich, Hassan aus dem Volke der Tuareg, akzeptiere sein Wort.“
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Mi Apr 06, 2022 9:43 am
Die anwesenden Männer lassen zustimmendes Gemurmel vernehmen. Hassan erhebt sich und lässt ein wenig Salz auf seinen Handrücken rieseln. Das Ritual des Salzteilens lässt mich zu einem Tuareg werden.
„Wirst du unseren Ehrenkodex stets einhalten?“ fragt Hassan nun.
„Ja, das will ich,“ bestätige ich ihm.
„Welches ist dein Heimstein?“ fragt er nun.
Ich antworte: „Mein Heimstein ist der Heimstein von Hassans Clan.“
Er gibt mir ein Glas Pfefferminztee. Ich lasse ein paar Tropfen auf den Stein fallen und leere dann das Glas in kleinen Schlucken. Die Männer haben sich inzwischen erhoben. Sie beginnen minutenlang zu jubeln.
Als der Jubel abebbt, sagt Hassan: „Wir werden das Lager des Clans von Hussein morgen angreifen! Dazu werden wir gegen Mitternacht aufbrechen.“
Als ich nun in mein Zelt zurückkehre, hat mich eine ungewisse Unruhe gepackt. Ich versuche zu schlafen, aber ich döse nur unruhig vor mich hin. Alyena spürt, dass etwas passieren wird, fragt aber nicht. Stattdessen drückt sie sich stumm an mich und versucht mich über körperliche Nähe zu beruhigen. Gegen halb zwölf in der Nacht packe ich meine Ausrüstung zusammen und verlasse das Zelt. Im Zelteingang drücke ich Alyena noch einmal an mich. Im Mondschein sehe ich ihre angstgeweiteten Augen. Ich küsse sie und streich ihr sanft über Stirn und Schläfe. Sie nimmt meine Hand und drückt einen Kuss auf den Handrücken, dann geht sie auf die Knie und beugt ihren Rücken. Ich lasse die Stoffbahn fallen, die das Zelt verschließt und gehe zur Weide.
Dort empfängt mich Achmed und übergibt mir mein Kamel, das ich mit seiner Hilfe sattele. Dann sitze ich auf und lasse es sich erheben. Um mich herum gehen die anderen Männer genauso vor. Dann hebt Hassan seine Flinte und gibt das Zeichen zum Aufbruch. Einige ältere Jungs folgen mit Lastenkamelen unseren Spuren. So haben wir genügen Wasser und Futter für die Kamele für einige Tage.
Gegen Mittag des folgenden Tages lässt Hassan seine kleine Armee im Schatten einer Felswand rasten. Nach vier Stunden am frühen Nachmittag gibt er das Zeichen zum Aufbruch. Immer wieder schickt er einzelne Männer voraus, die nach einiger Zeit wiederkommen und ihm berichten.
Nach Sonnenuntergang sehen wir Lagerfeuer voraus. Nun verteilt er seine Männer und lässt uns das Lager weiträumig umzingeln. Dann erreicht uns das Kommando langsam vorzurücken und in der Nähe der ersten Zelte innezuhalten, bis uns das Kommando zum Angriff erreicht. Als das Kommando kommt, überrennen wir das Lager. Eine kleine Gruppe überfällt die Weide und entführt die Kamele, als der Überfall des Lagers beginnt und die Hirten abgelenkt sind.
Husseins Männer laufen zu ihren Waffen und versuchen sich zu verteidigen. Auch Frauen laufen in Panik durch das Lager. Einige der Fußgänger werden von den Kamelen niedergetrampelt. Ich beuge mich hinab und ziehe eine der Frauen zu mir hoch. Sie wehrt sich verzweifelt. Ich muss kurz dem Kampfgeschehen weniger Aufmerksamkeit gönnen. Wir haben das Lager inzwischen durchquert.
Während die anderen Männer ihre Kamele wenden, fessele ich Hand- und Fußgelenke der Frau und befestige sie vor mir am hohen Sattel meines Kamels. Dann wende ich ebenfalls und versuche die Männer Hassans zu erreichen, während mehrere Fußgänger mich abzudrängen versuchen. Muhammads Training befähigt mich jedoch, die Männer abzuwehren, die auch Respekt vor den Tritten meines Kamels haben.
Schließlich regt sich nichts mehr, nachdem wir mehrfach gewendet und das Lager wieder und wieder durchquert haben. Hassan lässt absitzen und das Lager durchsuchen. Beduinen lassen nichts zurück, was ihnen irgendwie von Nutzen sein kann. Dann kommt das Kommando zum Aufbruch. In unserem Nachschublager versorgen wir gegenseitig unsere Wunden, während die jungen Männer die Kamele versorgen.
Dabei fällt einigen anderen Männern das Paket in meinem Sattel auf. Kurze Zeit später nähert sich Hassan neugierig, inspiziert das Paket und bricht in lautes Gelächter aus. Das Paket beginnt nun konvulsivisch zu zucken. Die Frau versucht, sich zu befreien und schimpft wie ein ‚Rohrspatz‘.
„Weißt du, wen du da an deinem Sattel festgebunden hast?“ fragt Hassan mich, als er sich wieder beruhigt hat.
„Neiiiiin,“ dehne ich mit erstauntem Gesicht.
„Das ist Raissa, Husseins Tochter. Viel Spaß mit ihr!“ klärt er mich auf.
*
Nachdem wir unsere Beute auf alle Kamele verteilt haben, teilt Hassan unsere Gruppe neu auf. Wir bekommen jeder ein Lastenkamel, das wir an einer langen Leine führen. Dann sollen wir uns zerstreuen und auf verschiedenen Wegen in unser Stammlager zurückkehren. Einer der jungen Männer aus Hassans Clan begleitet mich, damit ich mich nicht verirre.
Als wir einige Stunden allein unterwegs sind und die Sonne immer heißer brennt, wird das Paket im Sattel quer vor mir unruhig. Sie hat sich bis jetzt ruhig verhalten, nachdem sie am frühen Morgen im Nachschublager festgestellt hat, dass sie von allein nicht loskommt.
Ich entscheide, dass wir an dem Felsen rasten, den ich am Horizont ausmache. Dort angekommen, lasse ich die Kamele niederknien. Dann versorgen wir die Tiere und schließlich öffne ich die Fesseln, mit denen die Frau im Sattel festgebunden ist. Dann gebe ich auch ihr zu trinken und etwas Fladenbrot. Während wir uns im Sand sitzend stärken, steht sie auf und beginnt, vor uns hin und her zu gehen.
„Du wirst mich zu meinen Leuten zurückbringen!“ ist der einzige vernünftige Satz zwischen Schimpfkanonaden und Beleidigungen.
Mein junger Begleiter will aufstehen und sie zum Schweigen bringen, wie ich an seiner Miene erkennen kann. Aber ich lege meine Hand auf seinen Arm und schüttele den Kopf. Nach einer Weile wird sie ruhiger. Statt vor uns hin und her zu gehen, hat sie sich darauf verlegt, zwischen uns und den Kamelen hin und her zu gehen. Ich stehe auf und lehne mich an den Felsen, sie im Auge behaltend.
Und wirklich! Da ich die Augenlider halb geschlossen habe, scheint sie die Zeit für gekommen zu halten. Statt an ihrem Wendepunkt umzudrehen und sich uns wieder zu nähern, macht sie ein paar schnelle Schritte auf die Kamele zu. Sofort stoße ich mich vom Felsen ab und sprinte hinter ihr her, was auf dem Plateau relativ gut möglich ist.
Ich erreiche sie, als sie ihr Gewand hebt, um sich in den Sattel zu schwingen. Sie zur gegenüberliegenden Seite aus dem Sattel stoßend und hinterher hechtend, komme ich auf ihr zu liegen. Ich rolle mich zur Seite. Wir sind etwa gleichzeitig auf den Beinen. Bevor sie mir entweichen kann, fessele ich ihre Hände auf den Rücken und bringe sie zu unserem Rastplatz zurück.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Do Apr 07, 2022 11:12 am
Als die Sonne weniger stark vom Himmel brennt, machen wir die Kamele klar, um unseren Marsch fortzusetzen. Die Frau mache ich an einer langen Leine fest, die ich zwischen Ellbogen und Körper nach vorne führe und an meinem Kamel befestige. Wir sind erst wenige Minuten unterwegs, als sie sich aufs Weinen und Klagen verlegt. Schließlich fällt sie in den Sand – oder hat sich absichtlich hingeworfen. Bevor ich sie die ganze Strecke durch den Sand ziehe und ihre Kleidung nur noch in Fetzen am Körper hängt, schneide ich ihre Leine durch und sage ihr:
„Du bist frei!“
Sie blickt verblüfft zu mir auf und rappelt sich hoch. Dann sagt sie: „Es ist gut, dass du meiner Anweisung Folge leistest. Vielleicht lässt man dich dafür am Leben.“
„Wer könnte der Tochter eines Clanchefs etwas abschlagen?“ frage ich und füge hinzu: „Viel Glück in der Wüste.“
Sie erschauert. Ich wende mich ab und schnalze mit der Zunge. Mein Kamel setzt sich langsam in Bewegung.
„Wartet!“ ruft Husseins Tochter. „Ihr könnt mich nicht hier allein zurücklassen!“
Sie läuft uns nach, noch immer behindert durch die auf den Rücken gebundenen Hände. Da stürzt sie über die gekappte Leine.
„Nehmt mich mit,“ ruft sie.
Ich stoppe mein Kamel. Mein Begleiter kommt ein paar Meter vor mir zum Stehen.
Nun gleite ich vom Rücken meines Kamels, halte es an der Leine und nähere mich ihr. Ich hebe sie an und gebe meinem Kamel das Kommando, sich niederzuknien.
„Ich bitte dich, mich zu beschützen,“ sagt sie, während ich sie in den Sattel des Kamels setze und mich hinter sie schwinge. Ein flehender Unterton liegt in ihrer Stimme.
„Das kommt ganz auf dein Verhalten an!“ stelle ich fest.
Wir reiten nun in den Abend hinein, bis mein Führer mich auf eine kleine Wasserstelle in einiger Entfernung aufmerksam macht. Wir nehmen sie als Übernachtungspunkt. Dort angekommen, gräbt Tarek, mein Begleiter eine Handbreit Sand weg, bis die Mulde sich mit Wasser füllt. Dann führen wir die Kamele an die Tränke und schlagen unser Nachtlager auf. Raissa, Hassans Tochter, befreie ich von den Fesseln und wir lassen sie das Essen für uns bereiten.
Danach legen wir uns zwischen die Kamele mit den Füßen zu der Glut des herunter gebrannten Feuers – Nächte in der Wüste sind bitterkalt!
In dieser Nacht will es mir nicht gelingen, Schlaf zu finden. Plötzlich höre ich ein Rascheln neben mir und öffne die Augen – gerade noch rechtzeitig! Ich drehe mich blitzartig zur Seite, als sich ein Dolch in den Sand bohrt, wo ich gerade noch gelegen habe. Hastig greife ich ihr Handgelenk. Sie brüllt wütend auf, als ich ihr die Waffe abnehme. In dem Moment wacht Tarek auf.
„Du Tier!“ rufe ich aufgebracht aus. „Du schmutziges, stinkendes, undankbares Tier!“
Ich fühle mich versucht, ihr den Dolch in die Brust zu stoßen. Wütend stecke ich ihn schließlich in meinen Gürtel zurück, wo sie ihn vorhin vorsichtig herausgezogen hat.
„So behandelst du die Tochter des Clanchefs eines stolzen Volkes!“ schreit sie in die Nacht.
„Ich will dir zeigen, wie ich mit der heimtückischsten Frau in der ganzen Sahara umgehe!“ sage ich leise und fessele sie wieder.
Den Rest der Nacht verbringt sie an Händen und Füßen fixiert.
Am Morgen macht Tarek das Frühstück und ich gebe Raissa etwas ab. Dabei meint sie leise: „Ich kann meine Hände und Füße nicht mehr fühlen.“
Ich löse ihre Fesseln und sie beginnt sich die Gelenke zu massieren.
Einer Eingebung folgend frage ich sie: „Du bittest also um meinen Schutz…?“
Sie schaut zu mir auf und antwortet: „Ja, Fremder, ich, die Tochter des Hussein, bitte dich um deinen Schutz.“
Ein langes Schweigen tritt nun ein.
„Ich weiß, worauf du jetzt wartest“, sagt Raissa ruhig, unnatürlich ruhig, wie ich meine.
Sie zögert. Dann kniet die Tochter des Hussein vor mir nieder, senkt den Kopf und hebt die Arme, die Handgelenke über Kreuz.
Es ist die gleiche einfache Geste, die Alyena vor ein paar Wochen gemacht hat - die Unterwerfung einer gefangenen Frau. Ohne den Blick zu heben, sagt Raissa mit klarer Stimme:
„Ich unterwerfe mich.“
Ich nehme ihre Hände und sage: „Ich nehme deine Unterwerfung an.“
Dann ziehe ich sie sanft hoch.
„Nimm dich vor der Tochter Husseins in acht,“ meint Tarek nun.
„Sie hat sich unterworfen“, erwidere ich, zuversichtlich, dass sich die junge Frau an die Regeln halten würde.
Inzwischen sind wir reisefertig. Wieder setze ich Raissa vor mich in den Sattel. Gegen Mittag rasten wir und warten die Mittagshitze ab. Plötzlich läuft Raissa los. Ihr Ziel ist ein Felsen in der Nähe, von dem man einen guten Rundum-Blick hat. Um ihn zu erreichen, muss sie ein Stück sandigen Untergrund überwinden. Ich laufe hinter ihr her, um sie wieder einzufangen, als die junge Frau plötzlich aufschreit. Ich bremse meinen Lauf abrupt. Sie ist schon bis zu den Knien im Sand versunken - ein Treibsandloch! Sie schreit hysterisch. Vorsichtig versuche ich mich ihr zu nähern, doch da versinke auch ich bis zu den Knöcheln. Sofort lasse ich mich zurückfallen und rappele mich wieder auf. In der Zwischenzeit sind ihre Beine vollständig im Boden versunken. Die junge Frau versinkt immer tiefer im Untergrund. Sie schreit unbeherrscht. Angesichts des nahen Todes hat sie jede Beherrschung verloren.
„Nicht bewegen!“ versuche ich sie zu übertönen. Aber sie zuckt hysterisch und wühlt wie ein wild gewordenes Tier.
„Der Schleier!“ schreie ich. „Mach ihn los! Wirf ihn her!“
Sie hat mich verstanden! Ihre Finger lösen den Schleier. In ihrer Panik wirft sie ihn irgendwo hin. Tarek ist inzwischen heran gekommen. Er fängt den Stoff. Gemeinsam ziehen wir und schaffen es, ihren Oberkörper auf sicheren Untergrund zu bringen, als sie den Schleier loslässt. Ich springe vor und fasse ihr Handgelenk, ziehe sie ganz aus dem Treibsand und drehe sie auf den Rücken. Mit weit aufgerissenen Augen schaut sie zu mir auf. Ich fasse sie unter den Achseln und den Kniegelenken und trage sie zurück.
„Du hast mir wieder das Leben gerettet,“ flüstert die Tochter des Hussein in meinen Armen. Ich nicke und setze sie an unserem Lagerplatz ab.
„Was wolltest du denn bei dem Felsen?“ frage ich, nachdem ich mich neben sie niedergelassen habe.
Da geht ein Ruck durch ihren Körper. Sie richtet sich kerzengerade auf und sagt arrogant: „Du Ratte! Glaubst du etwa, dass sich die Tochter des Clanchefs Hussein, vom stolzen Volk der Tuareg, dir, einem Fremden, unterwerfen würde?“
Ich fasse ihr Handgelenk und drehe es ihr auf den Rücken, so dass ihr Oberkörper auf ihren Knien zu liegen kommt.
„Du hast dich unterworfen,“ sage ich mit Betonung.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Fr Apr 08, 2022 10:47 am
Sie verflucht mich und in ihren Augen funkelt der Hass, als sie den Kopf zur Seite dreht um mir ins Gesicht zu sehen. Ihr Gesicht ist dabei zur Fratze verzerrt. Konsequent fessele ich wieder ihre Handgelenke auf ihrem Rücken aneinander. Sie sitzt aufrecht mit gesenktem Kopf bei uns bis zum Ende der Rast.
"Du verstehst sicher, dass ich dir nicht mehr trauen kann," sage ich, als wir aufbrechen.
Sie schaut mit wütendem Blick auf.
"Dennoch habe ich unerklärlicherweise Mitleid mit dir. Du bist eine Frau..." ergänze ich, und setze sie vor mich in den Sattel.
*
Wir sind noch nicht lange unterwegs, als Tarik seinen Arm hebt und sein Kamel stoppt. Ich horche und mache neben dem ständigen Singen des Sandes das Stapfen eines Kamels im Sand aus.
"Ein Kundschafter," sagt er.
Gleich darauf kommt der Reiter in Sicht, ein Araber. Seine Djellabah weht im Wind. Er bringt sein Kamel, ein edles Tier mit hellem Fell, wenige Meter vor uns zum Stehen.
"Wer bist du?" fragt der Mann.
"Ich bin Pierre d’Alsace aus Europa," antworte ich.
"Ein Ungläubiger hier im As-sahra-al-kubra?" erwidert der Mann mitleidig lächelnd.
"Warum nicht? Ich bin Wissenschaftler, und dies ist mein Führer," sage ich und deute auf Tarek. "Und du?"
"Ich bin Mahmood, im Dienst des Kaufmanns Abd el Hammad."
Der Mann deutet auf Raissa.
"Wer ist das?" fragt er.
"Du brauchst ihren Namen oder ihre Herkunft nicht zu kennen," sage ich bestimmt.
Der Mann lacht und schlägt sich mit der freien Hand auf den Schenkel.
"Du willst mir wahrscheinlich einreden, dass sie von Hohem Blute ist," sagt er. "Sicher ist sie nur die Tochter eines Ziegenhüters."
"Scher dich zum Schejtan, Hundesohn! Der Blitz soll dich treffen! Die Djinn sollen dich mit Wundrose schlagen!" tönt es dumpf unter Raissas Schleier hervor.
"Ich habe sie nicht angesprochen," sagt mein Gegenüber. "Sie trägt ihre Fesseln wohl noch nicht lange."
"Welches ist dein Ziel?" frage ich.
"Ich begleite die Karawane des Abd el Hammad nach Norden," erwidert er.
"Hast du von Hussein, dem Tuareg, gehört?" fragt Raissa.
"Du solltest sie schlagen," sagt Mahmood. "Oder überlass sie mir!"
"Nein," erwidere ich ihm.
"Überlass sie mir, oder ich reite dich über den Haufen," droht er. "Oder soll ich dich erschießen?"
Drohend hebt er seine Flinte.
"Du kennst die Regeln," sage ich ruhig. "Wenn du sie willst, musst du mich herausfordern und mir die Wahl der Waffen überlassen."
Zornesfalten bilden sich über seiner Nasenwurzel. Einen Moment überlegt er. Dann lässt er die Flinte sinken, wirft den Kopf zurück und lacht. Seine Zähne schimmern hell durch seinen buschigen Bart.
"Einverstanden!" ruft er aus, schiebt seine Flinte in das Futteral am Sattel und lässt sein Kamel hinknien. "Ich fordere dich!"
"Säbel," sage ich, und übergebe Tarek die Leine meines Kamels.
"Gut," antwortet er.
Auch wir lassen unsere Kamele niederknien. Ich nehme meinen Säbel in die Hand und nähere mich meinem Gegner. Mahmood erweist sich als ein ausgezeichneter Säbelkämpfer, doch wir wissen beide bereits nach den ersten Sekunden, dass ich ihm überlegen bin; Muhammad, Hassans besten Kämpfer sei Dank. Mahmoods Gesicht wird bleich als er meinen wilden Angriff, nach Art der Tuaregs zu parieren versucht. Einmal trete ich zurück und senke die Säbelspitze zum Boden, die symbolische Gnadenbezeigung, falls er den Kampf abbrechen möchte. Aber das scheint ihn noch ärgerlicher zu machen, denn er nimmt seinen Angriff mit doppelter Kraft wieder auf.
Schließlich gelingt es mir nach einem besonders heftigen Schlagwechsel, ihm mit meiner Klinge eine Wunde in seiner Schulter zuzufügen, und als sein Waffenarm herabsinkt, schlage ich ihm die Waffe aus der Hand. Stolz aufgerichtet steht er nun vor mir und wartet auf den tödlichen Streich. Ich wende mich um und gehe zu unseren Kamelen zurück. Raissa stößt einen kleinen Freudenschrei aus. Dann fordert sie:
"Töte ihn!"
"Nein!" antworte ich.
Der Mann, der sich seine blutende Schulter hält, lächelt bitter.
"Sie war den Kampf wert," meint er und mustert Raissa. "Du solltest sie mal auspeitschen!"
Ich trenne einige Zentimeter Stoff von ihrem Gewand ab, was Raissa wütend über sich ergehen lässt. Kaum habe ich Mahmoods Wunde verbunden, als ich uns von bewaffneten Reitern umgeben sehe. Hinter ihnen wird eine lange Reihe beladener Kamele sichtbar.
"Das ist die Karawane Abd el Hammads," erklärt Mahmood.
Und zu den Männern gewendet, sagt er: "Tut ihm nichts! Er ist mein Bruder, Pierre d‘Alsace."
Mahmoods Bemerkung entspringt dem Kodex der Wüstenläufer: Männer, die das Blut ihres Gegners vergossen haben, werden 'Brüder', sofern nicht das Blut auf der Waffe verflucht wird. Das ist eine Regel, die nur die beiden beteiligten Kämpfer angeht.
Die Wand von Flinten teilt sich und lässt den Kaufmann Abd el Hammad durch. Er sitzt auf einem kostbaren Tier in einer Art Sänfte: Der kostbare Sattel hat vier Stäbe, die eine Art Himmel als Sonnenschutz tragen. Daran sind weitere Stoffbahnen befestigt, so dass man die Sänfte wie mit Gardinen verschließen kann. Zwei Seiten sind zugezogen und die beiden Anderen offen.
"So," sagt der Kaufmann mit schnellem Blick, "Mahmood hat also seinen Meister gefunden."
"Ich bin zuvor noch nie besiegt worden," erwidert der Angesprochene stolz.
"Wer bist du?" wendet sich der Karawanenbesitzer nun an mich.
"Pierre d‘Alsace," antworte ich.
Ich weise auf den jungen Mann in meiner Begleitung: "Das ist mein Führer Tarek, und das ist meine Frau, die ich durch das Recht des Stahls für mich beanspruche."
Abd el Hammad schließt kurz die Augen und wendet sich dann an seine Reiter, die uns umgeben.
"Möchte jemand aus meinen Diensten um die Frau des Pierre d‘Alsace kämpfen?" fragt er in die Runde.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Sa Apr 09, 2022 10:33 am
Die Krieger rutschen unruhig in den Sätteln hin und her. Der Kaufmann lacht verächtlich, dann verdüstert sich sein Gesicht.
„Monsieur d’Alsace,“ sagt er. „Du hast meinen besten Kämpfer außer Gefecht gesetzt. Du bist mir etwas schuldig. Kannst du den hohen Sold für einen solchen Kämpfer bezahlen?“
„Ich habe kein anderes Vermögen als diese junge Frau,“ erwidere ich bestimmt, „und sie gebe ich nicht auf!“
Abd el Hammad schnaubt. Er mustert Raissa eingehend, doch sein Blick bleibt nüchtern.
„Sie brächte nicht einmal die Hälfte des Geldes, das ich für einen Kämpfer wie Mahmood ausgeben müsste.“
Raissa fährt zusammen, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten.
„Dann kann ich nicht bezahlen, was ich dir schulde,“ stelle ich fest.
„Ich bin ein Kaufmann,“ meint mein Gegenüber von seinem hohen Sitzplatz herunter, „und es gehört zu meinen Prinzipien, dass ich alle Schulden eintreibe.“
Mir wird mulmig zumute angesichts der Überzahl, die uns gegenüber steht. Ich wappne mich, mein Leben teuer verkaufen zu müssen.
„Mahmood,“ wendet sich Abd el Hammad an den Mann, der bei mir steht. „Bist du einverstanden, den jetzt noch offenen Betrag deines Soldes Pierre d‘Alsace zu überlassen, wenn er an deiner Stelle in meine Dienste tritt?“
„Ja“, erwidert Mahmood frei heraus. „Er hat mir die Ehre erwiesen. Er ist mein Bruder.“
Der Kaufmann mustert mich befriedigt.
„Pierre d‘Alsace“, richtet er sich wieder an mich, „trittst du in meine Dienste?“
„Und wenn ich es nicht tue?“ frage ich, gespannt auf die Alternative.
„Dann gebe ich meinen Leuten den Befehl, dich zu töten,“ seufzt der Mann über mir, „und wir erleiden beide einen Verlust.“
„Oh, Oberster aller Kaufleute,“ sage ich, orientalisch verblümt, „ich würde doch nicht zulassen, dass deine Gewinne geschmälert werden.“
Abd el Hammad entspannt sich sichtlich.
„Und was ist mit der Frau? Wenn du willst, kaufe ich sie.“
„Sie ist nicht zu verkaufen. Sie muss mich begleiten,“ bleibe ich auf meinem Standpunkt.
„Zweitausend Dinar,“ sagt Abd el Hammad.
Ich lache. Mein Gegenüber auf dem Kamel lächelt auch.
„Viertausend,“ bietet er.
„Nein“, sage ich.
Der Kaufmann lächelt nicht mehr.
„Fünftausend“, sagt er gepresst.
„Kommt nicht in Frage.“
„Ist sie von Hohem Blut?“ fragt er interessiert.
„Ich bin die Tochter eines reichen Händlers“, verkündet Raissa stolz, „des reichsten im Sahel. Ich wurde von diesem Kämpfer entführt und er bringt mich zu seiner Familie, wo ich seine Frau werden soll.“
„ICH bin der reichste Kaufmann hier“, sagt Abd el Hammad leise.
Raissa zuckt zusammen.
„Wenn dein Vater ein Kaufmann ist, sag mir seinen Namen,“ fährt er fort. „Ich kenne ihn bestimmt.“
„Großer Abd el Hammad“, schalte ich mich ein, „vergib dieser weiblichen Schlange. Ihr Vater war ein Ziegenhüter in den Grassteppen am Rande der großen Wüste, und ich habe sie entführt. Sie soll in meiner Heimat meine Ziegen hüten.“
Die Bewaffneten brechen in Gelächter aus. Mahmood dröhnt am lautesten. Einen Augenblick lang habe ich befürchtet, Raissa würde uns in Gefahr bringen. Der Besitzer der Karawane lächelt amüsiert.
Er gibt Anweisung, den Marsch wieder fortzusetzen. Mahmood führt uns an der langen Karawane entlang. Nun werden wir zu einem Teil der langen Karawane Abd el Hammads. Jeden Tag lange vor Anbruch der Morgendämmerung brechen wir auf und wandern, bis die Sonne am höchsten steht. Dann wird ein riesiges Lager aufgeschlagen. Die Kamele erhalten zu trinken und zu fressen, Wachen ziehen auf, die Leute bauen ihre Zelte auf und kümmern sich um ihre Kochfeuer. Am Abend vergnügen sich die Männer mit Geschichten und Liedern und berichten von erfundenen und tatsächlichen Abenteuern.
Wie versprochen, überlässt mir Mahmood den Rest seines Solds. Ich muss ihn überreden, einen Teil dieses Betrags zu seinem eigenen Bedarf zu behalten. Immerhin bin ich nun sein Bruder. Wir wohnen mit Mahmood zusammen in einem Zelt. In Raissa geht während der Reise eine Verwandlung vor. Sie zeigt sich zu meiner Überraschung zunehmend aufgeschlossen und fröhlich. Sie interessiert sich für die Karawane und läuft stundenlang neben der langen Reihe der Kamele her, erbettelt hier und da eine Frucht oder eine Süßigkeit von ihnen. Sie unterhält sich angeregt mit den Leuten und scherzt mit ihnen. Unterwegs hebt sie Kameldung auf und sammelt ihn in den dafür vorgesehenen Behältern.
Sie wird zum Liebling der ganzen Karawane. Am Mittag, wenn das Lager aufgeschlagen wird, hilft sie uns beim Zeltbau. Sie kocht auch für uns, kniet neben dem Feuer, das Gesicht schweißüberströmt, den Blick starr auf das Stück Fleisch gerichtet, das dann zumeist doch noch anbrennt. Nach dem Essen säubert sie unsere Sachen, sitzt auf dem Zeltteppich zwischen uns und erzählt uns von den angenehmen Kleinigkeiten ihres Tagesablaufs.
„Das Leben hier bekommt ihr anscheinend gut,“ meine ich zu Mahmood.
„O nein, nicht das Leben in der Karawane,“ antwortet er lächelnd.
Ich weiß seine Bemerkung im Moment nicht zu deuten. Raissa errötet, senkt den Kopf und poliert mit heftigen Bewegungen meine Stiefel. Mahmood steht auf und gibt Tarek einen Wink.
„Wir wollen den Abend an den Feuern verbringen,“ sagt er noch. Dann verlassen beide das Zelt.
Das kleine Feuer in der Mitte des Zeltes ist inzwischen fast herunter gebrannt. Von draußen dringt Flötenmusik herein, dazu leises Trommeln. Ich bin in Gedanken versunken, als Raissa sich mir von seitlich hinten nähert und ihre Arme um meine Schultern legt. Ich schaue auf und sehe sie im Halbdunkel in einem durchsichtigen Seidentanzkleid. Sie hat ihre Lippen gerötet und mir wird schwindlig von dem kräftigen Duft eines Parfüms. An ihren Fußgelenken hängen kleine Glöckchen und an Daumen und Zeigefinger beider Hände sind winzige Fingerzimbeln befestigt.
Sie beugt ein wenig die Knie und hebt anmutig die Hände über den Kopf. Ihre Fingerzimbeln klingen auf und dann beginnt Raissa, die Tochter des Hussein, für mich zu tanzen. Sie bewegt die Hüften und vollführt eine langsame Drehung. Dann hält sie kurz inne und fragt:
„Gefalle ich dir, Sihdi?“
Ihre Stimme hat einen weichen Klang, das ironische und bestimmende fehlt.
„Ja,“ antworte ich einfach.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser So Apr 10, 2022 10:08 am
Sie nimmt ihren Tanz wieder auf, einen herrlichen Tanz voller Leidenschaft. Mehrere Minuten lang tanzt sie so vor mir. Mit einem letzten Klirren ihrer Fingerzimbeln fällt sie dann vor mir zu Boden, ihr Atem geht schnell und in ihren Augen steht Verlangen. Schon liege ich neben ihr und nehme sie in die Arme. Ihr Herz schlägt heftig gegen meine Brust. Sie schaut mir in die Augen, ihre Lippen zittern.
„Ich will dein sein, Sihdi,“ flüstert sie.
Sie presst sich erregt an mich.
„Ich bin dein,“ haucht sie. „Nimm mich.“
*
Einige Wochen später erreichen wir El Bayadh im Atlasgebirge, südlich des Chott el Djerid. Hier verabschiede ich mich von Abd el Hammad, der mir ein Gürtelsäckchen voll Edelsteinen schenkt. Er lässt mich nur ungern ziehen. Noch härter trifft es Mahmood, dass ich nun wieder meiner Wege ziehen will. So lässt er es sich nicht nehmen, mich beim Ausrüsten meiner kleinen Karawane zu begleiten. Ich erstehe zwei weitere Kamele, ein Zelt und mehrere wichtige Gebrauchsgegenstände.
Schließlich führt mich Mahmood in die Werkstatt eines Mannes, der Kamelsänften herstellt. Er erwirbt eine solche Haudaq und schenkt sie mir zum Abschied. Dann begleitet er mich mit einer Escorte von zehn Männern einige Stunden nach Westen. Nachdem er sich von mir verabschiedet hat, wende ich mich auf Tareks Geheiß nach Süden. Wir wollen endlich zu seinem Clan hinzu stoßen, der inzwischen auch zu meinem geworden ist.
Nach drei Tagen, etwa ein Tag bevor wir eine Oase als Zwischenziel erreichen, treffen wir auf einen Trupp Kamelreiter. Es sind Wächter der Oase auf Streifzug durch die Umgebung.
„Was wollt ihr dort,“ werden wir von dem Wortführer gefragt.
Die Oase liegt auf halbem Weg zu unserem Ziel, was wir jedoch nicht sagen. Seine Vorräte füllt jeder Durchreisende auf. Stattdessen sage ich:
„Ich möchte deinem Shejkh einige Edelsteine bringen und sie gegen Säcke von Datteln eintauschen.“
Der Mann nickt, deutet mit dem Säbel auf die Haudaq und fragt: „Was ist darin?“
„Eine junge Frau, die ich heimführen will, weiter nichts,“ antworte ich ihm.
Er lenkt sein Kamel neben die Haudaq und hebt den Krummsäbel, um damit den Vorhang zur Seite zu streifen. Doch schon bin ich heran, mein Säbel fährt hoch und versperrt ihm den Weg. Seine Männer erstarren. Flinten heben sich und zeigen auf uns.
„Vielleicht verbirgst du darin etwas!“ behauptet der Anführer der Gruppe.
Nun schiebe ich mit meinem Säbel den Vorhang zur Seite. Die junge Frau, die jetzt sichtbar wird, zuckt zurück.
Der Mann lächelt. Er mustert Raissa interessiert.
„Eine wohlgeformte Frau,“ sagt er leise, und sein Blick ruht wohlgefällig auf ihr. „Vielleicht kann sie heute Abend für uns tanzen.“
„Sie kann noch nicht tanzen,“ behaupte ich. „Vielleicht finde ich bald jemand, der es ihr beibringen kann.“
„Schade,“ sagt der Mann bedauernd.
„Eine hübsche Frau,“ sagt er noch einmal und dreht sein Kamel zur Seite, „du hast sicher nichts dagegen, von uns zur Oase geleitet zu werden.“
Ohne eine Antwort zu erwarten setzt er sich an die Spitze, während seine Männer sich rechts und links von uns postieren. Dann setzen wir unseren Weg fort.
„Bleib in der Haudaq!“ sage ich zu Raissa. „Und schaue nicht heraus!“
Mit zornigen Augen starrt sie mich an, während ich den Vorhang wieder fallen lasse. Wenn eine junge Frau allmählich beginnt zu erkennen, welches ihr Schicksal ist, in einer männerdominierten Gesellschaft, geht eine phantastische Veränderung in ihr vor. Die ersten Vorläufer dieser Umwandlung spüre ich bereits in Raissa.
Schon jetzt findet sie ihren Halsreif aufregend, den ich ihr in El Bayath gekauft und angelegt habe. Die Tatsache, dass sie nicht mehr eigenverantwortlich handeln braucht, fasziniert sie. Sie beginnt sich Gedanken über die Männer zu machen. Sie beginnt aus sich heraus zu gehen und ihre Scham zu verlieren, wie es einem Besitztum zukommt. Sie gibt sich bereits Gedanken und Träumen hin, die eine freie Frau entsetzt hätten, die aber für sie angemessen sind. Sie entdeckt in meinen Armen ihre Sinnlichkeit.
Raissa hat es noch nicht bewusst erkannt und hätte den Gedanken bestimmt entrüstet zurückgewiesen, wenn man sie darauf angesprochen hätte, doch sie ist auf dem besten Wege mit Hingabe zu dienen.
*
Vor Shejkh Hamid lagen nun fünf Steine: drei funkelnde Diamanten, zwei Opale und ein durchsichtiger Bernstein mit eingeschlossenem Insekt.
„Was möchtest du für dafür haben?“ fragt er.
„Hundert Lasten Dattelbarren,“ sage ich.
Eine ‚Last‘ ist das, was ein Kamel zu tragen vermag.
„Das ist zuviel.“
Natürlich verlange ich zuviel. Es geht bei unserem Handel darum, meine erste Forderung so hoch anzusetzen, dass zuletzt ein akzeptabler Preis herauskommt. Zugleich muss ich es vermeiden, einen Mann von Hamids Position und Intelligenz zu beleidigen. Den ersten Preis so hoch zu wählen, als hätte ich es mit einem Dummkopf zu tun, wäre sehr töricht und hätte unangenehme Folgen für mich haben können.
„Zwanzig Lasten Dattelbarren,“ bietet er.
„Das ist zuwenig,“ meine ich daraufhin.
Der Shejkh betrachtet die Steine. Er weiß selbst, dass der von ihm genannte Preis zu niedrig ist. Er ist ein Mann von Geschmack.
„Fünfundzwanzig Lasten Dattelbarren,“ sagt er dann.
„Neunzig,“ halte ich dagegen.
„Du verlangst zuviel,“ entscheidet er.
„Großer Pascha,“ schmeichele ich, „nach meiner Meinung ist dein Preis zu niedrig.“
Hamid ist ein Mann, vor dem man Respekt haben muss. Der tatsächliche Wert der Steine, die ich in El Bayath schätzen gelassen habe, liegt zwischen sechzig und achtzig Lasten Dattelbarren. Mit den erstandenen Dattelbarren will ich mich auf meinem weiteren Weg durch al Sahra zu Hassans Clan als Dattelkaufmann tarnen. Dort ist die süße getrocknete Frucht außerdem sehr willkommen.
„Siebzig Lasten Dattelbarren für die Steine,“ antwortet Shejkh Hammid lächelnd.
Der Preis ist fair. Auf seine Weise ist er großzügig. Vorhin hat er mit mir geschachert und auf diese Weise seine Rolle als Handelskönig der Wüste gespielt. Nun spricht er zu mir als Shejkh in dieser Oase und setzt den Preis fest. Ich weiß, dass an diesem Preis nicht mehr zu rütteln ist. Shejkh Hammid kürzt die langen Verhandlungen einfach ab.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Mo Apr 11, 2022 9:53 am
"Du hast mir deine Gastfreundschaft erwiesen," sage ich nun, "und es wäre mir eine Ehre, wenn Shejkh Hammid diese einfachen Steine für sechzig Lasten annähme."
Er beugt sich leicht vor und ruft einen Schreiber herbei.
"Gib diesem Juwelenhändler einen Anrechtschein," sagt er, "im Werte von achtzig Lasten Dattelbarren."
Ich senke den Kopf.
"Hammid Pascha ist sehr großzügig," sage ich schmeichelnd zu der Entscheidung.
Für den erworbenen Anrechtschein erwerbe ich 25 Lastenkamele und 25 Lasten Dattelbarren. Damit machen wir uns auf den weiteren Weg durch As-sahra-al-kubra.
*
Ich reite an der Spitze meiner Karawane, das Kamel mit Raissa an der Leine führend. Tarek bildet den Abschluss. So nähern wir uns dem Nomadenlager von Hassans Clan, dem ich nun auch angehöre.
Das große Sandmeer habe ich inzwischen in den verschiedensten Stimmungen erlebt. Seit zwanzig Tagen sind wir nun schon als Dattelhändler unterwegs. Einmal ist im Osten eine gewaltige dunkle Wolkenwand aufgestiegen, begleitet von prickelnden Staubwolken. Wir sind abgestiegen, haben unsere Kamele angebunden, abgeladen und dem Sturm den Rücken zugedreht. Aus unseren Vorratsbündeln haben wir einen Wall errichtet und uns dahinter niedergekauert, wobei wir die Djellabahs enger um den Leib gezogen haben. Raissa habe ich zu mir in eine Stoffbahn gewickelt.
Zwei Tage lang hat uns der Wind bestürmt und wir haben nach Tuaregmanier geduldig gewartet. Wir haben uns kaum gerührt und nur ab und zu einen Lederbeutel mit Wasser, Brot und getrocknete Datteln geteilt.
Der Wind hat sich dann so schnell gelegt wie er gekommen ist. Die Sonne kehrt an den Himmel zurück und bestrahlt uns in alter Stärke und Pracht. Tarek richtet sich als erster auf. Er schüttelt sich den Sand aus dem knöchellangen Gewand der Wüstenbewohner. Raissa kriecht unter der Stoffbahn hervor und reckt sich wie eine Löwin. Die Mauer aus Lastbeuteln ist halb vom Sand begraben.
"Ein schrecklicher Sturm," bemerke ich beiläufig.
Tarek lächelt.
"Du stammst nicht aus dem Bahr-bila-ma – Meer ohne Wasser-," antwortet er.
Ich wende mich an Raissa. "Mach uns Tee!"
"Jawohl, Sihdi."
Zwei Tage später hat es geregnet. Wir haben die Ausläufer des Hoggar-Gebirges erreicht, dessen höchster Gipfel im Westen von unserer derzeitigen Position, der Tahat, 2918 Meter hoch ist. Hier stauen sich die Wolken. Zuerst habe ich die dunklen Wolken willkommen geheißen. In wenigen Minuten ist die Temperatur um etwa die Hälfte gefallen. Tarek kommt zu mir nach vorne geritten und fordert mich nach einem Rundum-Blick auf, vom Weg abzuweichen. Wir suchen eine höher gelegene Stelle von felsigem Untergrund auf. In der Sahara gibt es naturgemäß wenig Regenerosion, was zur Folge hat, dass für den Abtransport des Wassers nur wenige natürliche Abflüsse zur Verfügung stehen. Wenn Regen fällt, dann oft in großen Mengen. Die Folgen im flachen Land, im lockeren Sand, sind leicht vorstellbar. Schließlich finden wir Schutz am Fuß einer Felsformation.
"Dies ist erst der vierte Regen in meinem Leben," sagt Tarek.
Innerhalb einer Stunde nach dem Ende des Regens brennt die Sonne wieder gnadenlos vom Himmel. Einen Tag später sind Fliegen aufgetaucht.
Zuerst habe ich den Schwarm für ein neues Unwetter gehalten, aber das ist ein Irrtum gewesen. Etwa vier Minuten lang wurde die Sonne von gewaltigen Insektenwolken verdunkelt. Wie ein trockener Regen haben uns die winzigen Tiere umschwirrt. Ich ziehe den Sandschleier vor das Gesicht. Trotzdem gelingt es einzelnen Fliegen an meine Haut zu kommen. Dann höre ich Raissa schreien. Die Hauptschwärme sind schnell vorbei. Obwohl wir, nach Tareks Meinung, nur den Rand des Insektenzuges mitbekommen, kriechen viele tausend schwarze Punkte über unsere Kleidung und über das Fell der Kamele.
Wir haben unseren Zug fortgesetzt. In der Nacht zeigt sich die Sahara für meinen Geschmack von ihrer schönsten Seite. Während des Tages kann man sie kaum richtig ansehen, denn die Hitze und die Luftspiegelungen verzerren viel. Am Tag wirkt die Wüste gefährlich, grellweiß, wabernd vor Hitze, blendend, brennend. Die Menschen müssen ihre Augen schützen.
Doch wenn der Abend heranrückt, wenn die Sonne untergeht, verändert sich der Eindruck. Das endlose, felsige, raue Terrain scheint zugänglicher und milder zu werden. In dieser Zeit schlagen wir täglich unser Lager auf.
Bei Sonnenuntergang malen sich Hügel, Sand und Himmel in vielen hundert Rottönen und mit dem Schwinden des Lichts verwandelt sich dieses Rot in tausend schimmernde Goldfärbungen, die langsam in Braun und Purpur übergehen, kurz bevor völlige Dunkelheit eintritt. Oft setze ich mich dann vor mein Zelt. Tarek setzt sich stumm hinzu und Raissa versieht ihre Aufgaben ohne Worte.
Wenn ihre Arbeit getan ist, rufe ich sie an meine Seite. Sie lehnt sich bei mir an oder legt ihren Kopf auf meinen Oberschenkel. Dann streichele ich ihr Haar oder ihre Wange. Nachdem die Sterne dann eine Zeitlang am Himmel gefunkelt haben, ziehen wir uns ins Zelt zurück, die Füße in der Nähe des herunter gebrannten kleinen Feuers, in der Nähe des glimmenden Kameldungs.
Am zwanzigsten Tag unserer Reise erreichen wir den Platz, an dem Tarek die Zelte seines Clans vermutet. Nach Art einer Karawane nähern wir uns in langer Reihe dem Ort. Ich habe Tarek die Führung überlassen und reite mit Raissa als Schlussmann. Die Tiere vor mir halten an. Ich reite vor zu Tarek, der gestoppt hat, obwohl weit und breit keine Zelte zu sehen sind.
"Wo ist Hassan?" frage ich ihn.
Er schaut zu mir und hebt die Schultern.
„Wir versorgen zuerst einmal die Tiere!“ entscheide ich.
Dazu lassen wir die Kamele niederknien und laden sie ab. Dann führen wir sie zum Wasserloch und lassen sie trinken. Hernach werden sie gefüttert. Dies alles übernehmen Tarek und Raissa, während ich das Wasserloch und den Lagerplatz im weiten Kreis umwandere. Dann schlagen wir unser Lager auf und übernachten hier. Bei Sonnenaufgang führe ich Tarek auf meinem abendlichen Weg rund um Lager und Wasserloch und zeige ihm, was ich gesehen habe. Ich will seine unvoreingenommene Meinung hören.
„Hier muss vor vielleicht einer Woche ein Überfall stattgefunden haben,“ schätzt er die Spuren ein. „Die Banditen haben nicht gesiegt, aber auch viele von unseren Leuten sind gefallen. Der Rest unserer Leute hat sich nach Süden gewandt, in den Sahel - wo sowieso unser Ziel lag, mit den Frauen, die wir Hussein abgenommen haben.“
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Di Apr 12, 2022 10:26 am
„Das heißt also, wir sollten dieser Spur hier folgen?“ frage ich. „Aber die Woche Vorsprung werden wir nie aufholen!“
„Ich kenne die Ruheplätze unseres Clans!“ beruhigt er mich. „Wir werden sie irgendwann treffen.“
*
Auf unserem Weg erreichen wir wieder eine kleine Oasenstadt.
„Wir suchen uns eine Schänke,“ sage ich.
Wir halten vor einem Karawanserail und steigen ab. Halbwüchsige Jungen kommen heraus geeilt und führen unsere Kamele in die Ställe. Sie werden abgeladen und die Lasten im Lager gestapelt. Wir beaufsichtigen ihr Tun. Die Haudaq –Kamelsänfte-, das Zelt und die Gerätschaften werden separat untergebracht. Unsere Sättel nehmen wir mit uns. Die Wasserbeutel, die wir mitgebracht haben, werden in die Zisterne des Karawanserail entleert. Beim Verlassen der Oase füllen wir unsere Wasserbeutel natürlich nicht im Haus, sondern am öffentlich zugänglichen Wasserloch.
„Wir wollen schnell weiterreisen,“ sage ich zum Wirt, der uns die Zimmer zeigt.
„Ich bin erschöpft,“ meint Tarek. „Ich gehe zu Bett.“
„Sind die Herren mit meinem Haus zufrieden?“ erkundigt sich der Wirt, bevor er uns alleine lässt.
„Ja,“ erwidere ich lächelnd und berühre mit den zusammen gelegten Fingerspitzen von Daumen, Zeige- und Mittelfinger meinen Mund und Herz.
Gegen Mitternacht werde ich durch Lärm geweckt. Unser Zimmer liegt zur Straße hin. Im Mondlicht sehe ich Raissa aufstehen und zur Fensteröffnung gehen.
„Geh nicht ans Fenster!“ rufe ich.
Doch schon hat sie die Fensteröffnung erreicht, um neugierig hinaus zu schauen. Ein Haken fliegt durch die Öffnung, wird zurückgezogen und verhakt sich in der Wand unterhalb des Fensters. Sie dreht sich mit schockgeweiteten Augen zu mir um. Ich greife meinen Säbel und springe aus dem Bett. Auf dem Weg zum Fenster stoße ich Raissa zur Seite, die dadurch aus ihrer Schockstarre erwacht. Am Fenster trenne ich das Seil vom Wurfhaken und schließe die Läden. Gleichzeitig höre ich einen dumpfen Aufprall auf der Straße. Schritte trappeln im Gang. Tarek öffnet die Zimmertür und ruft:
„Auf das Dach!“
Ich eile die Treppe hinauf, und ziehe Raissa hinter mir her. Zimmertüren fliegen auf. Andere Gäste des Karawanserail laufen nach unten. Eine Frau kreischt. Tarek steigt eine schmale Leiter hinauf und öffnet eine Falltür, die auf das Dach hinausführt. Ich ziehe Raissa an die Leiter und deute nach oben. Sie hastet die Leiter hinauf. Verfehlt dabei ein paarmal die Querhölzer. Ich bin hinter ihr und halte sie. Gleich darauf stehen wir unter dem Mond. Die Wüste schimmert hell. Unter uns in den Straßen hasten Menschen hin und her. Einige haben sich mit Bündeln und Wertgegenständen beladen.
„Zur Kasbah!“ ruft ein Mann. „Bringt euch in der Kasbah in Sicherheit!“
Die Kasbah ist ein befestigter Gebäudekomplex inmitten der Ansiedlung, wie eine mittelalterliche Burg. Zwischen den Fliehenden reiten Bewaffnete. Sie schlagen mit ihren Säbeln um sich und machen auf diese Weise einen Weg für ihre Tiere frei.
Tarek schaut mich düster an.
„Zum Stall,“ ruft er.
Wir hasten über das Dach zum Stall-Innenhof, der von Mauern und Gebäuden umschlossen ist. Unsere Sättel und andere persönliche Gegenstände tragen wir mit uns. Die Sättel werfen wir in den Innenhof und springen hinterher. Erst Tarek, dann schaue ich Raissa an, die mit schreckgeweiteten Augen den Kopf schüttelt. Also hebe ich sie in den Hüften an und werfe sie, nachdem ich Tarek aufmerksam gemacht habe. Er fängt sie auf, stürzt dabei um. Da bin ich auch schon unten und helfe den Beiden auf.
Wir eilen zu den Ställen. Gewehrschüsse sind zu hören. Auf der anderen Seite der Mauer brüllen zahlreiche Stimmen durcheinander. In Windeseile rüsten wir vier Kamele aus. Zwei satteln wir, eines bekommt die Haudaq aufgesetzt und das vierte wird mit Zelt und Gerätschaften beladen. Dann führen wir die Tiere zur hauseigenen Zisterne und füllen auch unsere ledernen Wasserbeutel.
Danach führen wir die Tiere zum Tor, ziehen die Quer-Balken heraus und ziehen es auf. Wir schwingen uns auf unsere Tiere und treiben sie an. Mit wilden Sätzen galoppieren die Kamele aus dem Stallhof auf die Straße. Wir hören lautes Geschrei. Zweimal umgehen wir kämpfende Männer. Dann haben wir den Rand der Oase erreicht und reiten in die Wüste hinein. Tarek führt uns auf felsigen Untergrund, wo wir keine deutlichen Spuren hinterlassen und wechselt die Richtung.
Nach vier Tagen haben wir die Ausläufer des südlichen Graslandes erreicht. Ein Mann steht hochaufgerichtet und auf einen Stab gestützt inmitten einer Herde von Ziegen, die das spärliche Gras abweiden.
„Ihr habt keine Glocken an eurem Kamelgeschirr!“ sagt der Mann und bedroht uns mit seiner Lanze.
„Wir kommen in friedlicher Absicht,“ erwidert Tarek beruhigend.
Er zieht sein Kamel zur Seite und reitet weiter, das Lastkamel an einer langen Leine hinterher ziehend. Ich folge ihm, das Kamel mit der Haudaq an der Leine führend. Der Hirte steht im Sand zwischen den Grasbüscheln, die Lanze wieder aufgestützt und blickt uns nach.
Der Mann hätte seine Herde bis auf den letzten Blutstropfen verteidigt. Aus ihrer Milch und Wolle beziehen er und seine Familie ihr Einkommen.
*
Ali Ibn Mehmed ist ein Mann, der seinem Gegenüber Respekt abverlangt. Wir befinden uns jetzt schon einen Monat lang in der Siedlung am Rande der Sahara und erst jetzt erklärt er sich bereit, mich zu empfangen. Etwa 2000 Menschen leben hier, zumeist Bauern und Handwerker mit ihren Familien. Während ich mich in der Oase umschaue, und ganz nach der Art eines Dattelhändlers die Qualität der hier wachsenden Früchte prüfe, erkundigt sich Tarek vorsichtig nach dem Verbleib seines Clans. Raissa ist auch nicht untätig. Ich habe jemand ausfindig gemacht, die ihr Tanzunterricht erteilt. Zwei Stunden pro Tag geht sie dorthin, neben ihrer Arbeit in dem Haus, dass ich gemietet habe.
Kurz nacheinander sind zwei Karawanen hier eingetroffen. Die Eine von Süden, die Andere von Norden kommend. Von Norden ist die Salzkarawane des Omar Ibn Hassan eingetroffen, des Kaufmanns, den ich bei Samos in Gabes kennengelernt habe. Von Süden hat uns die riesige Karawane des Abd el Hammad erreicht. Sie bildet eine große Zeltstadt am Rande der Oase, während Omar Ibn Hassan im Karawanserail neben dem Basar Quartier bezogen hat.
Ich wandere dorthin, um meinen Freund Mahmood zu besuchen. Es ist inzwischen Abend und ich denke, dass ich ihn bei den Feuern finden werde. Das ist eine Freude für ihn, mich wiederzusehen. Ich muss mich setzen und von meinen Erlebnissen erzählen. Man sieht ihm im Laufe meines Berichtes regelrecht an, wie er emotional mitgeht. Er lässt es sich nicht nehmen, mir einen Schlafplatz in seinem Zelt anzubieten. So bin ich erst am frühen Morgen nachhause gekommen. Da dieser Ort hier die letzte größere Oase vor dem Bahr-bila-ma ist, dem ‚Meer ohne Wasser‘, will Abd el Hammad einige Tage bleiben.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Mi Apr 13, 2022 10:15 am
Kurz nach der Ankunft Omar Ibn Hassans in der Oase habe ich nun die Audienz bei Shejk Ali Ibn Mehmed erhalten. Im Stillen frage ich mich, ob er womöglich auf Omar Ibn Hassan gewartet hat. Mit diesen Gedanken gehe ich zu Mahmood, um mich zu beraten. Er verspricht mir, Shejk Alis Kasbah im Auge zu behalten.
Nun sitze ich mit Shejk Ali Ibn Mehmed und Omar Ibn Hassan beim Tee, während Raissa für uns tanzt. Ich habe sie mitgenommen, um eine entspannte Atmosphäre für die Gespräche zu erzeugen, die ich zu führen gedenke. Mir geht es um die Militärlaster, die die Sahara durchqueren, um El Qued zu erreichen – und schließlich ihre menschliche Fracht am Ufer des Medi terranée zu entladen, um dort marode Boote zu besetzen. Wer sind die Schlepper, die damit Vermögen verdienen?
Die geringen Kosten des intensiven Tanzunterrichts sind in meinen Augen eine vorzügliche Investition gewesen. In erster Linie liegt es natürlich an Raissa selbst, die sich mit ungeheurem Fleiß in den Unterricht gestürzt hat. Stundenlang hat sie auch in ihrer freien Zeit jede Tanzbewegung geübt und sich erst zufrieden gegeben, wenn sie auch die kleinste Geste sicher beherrscht hat.
Als ihre Lehrerin habe ich die Cafe-Angestellte Selima gewinnen können. Gegen einen gewissen Obolus hat sich der Wirt einverstanden erklärt. Den Unterricht hat ein Flötist und ein Trommler begleitet. Selima hat sich erst gestern sehr zufrieden über die Fügsamkeit und Auffassungsgabe ihrer Schülerin geäußert und ich sehe nun, dass sie darin Recht gehabt hat.
Beim Tanzen dreht sich Raissa anmutig hin und her. Omar Ibn Hassan beobachtet sie und trink schlückchenweise von seinem heißen Tee. Ich kann spüren, dass er sich für sie interessiert. Sie bückt sich mit ausgestrecktem Bein, bewegt es anmutig, winkelt es im Takt der Musik an, fährt mit der Hand darüber hin. Man kann erkennen, dass tief in ihrem Inneren bereits ein gewisses Feuer lodert, auch wenn sie es selbst noch nicht wahrhaben will. Zuweilen schaut sie ihr Publikum an.
Ihre Augen verkünden: 'Ich tanze für euch, doch in Wirklichkeit bin ich keine Dienerin eurer Gelüste. Niemand hat mich bisher gezähmt. Das vermag niemand. Kein Mann vermag mich zu bändigen.'
Doch der Tag wird kommen, da sie die Wahrheit erkennt. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ich bin geduldig. Zwang ist mir fremd.
Raissa scheint, während sie tanzt, eine gewisse Aura zu spüren, die die Männer an meiner Seite umgibt. Der Salzkaufmann sitzt entspannt auf seinen Kissen und beobachtet sie. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Er schlürft seinen Tee. Raissa wirft sich vor ihm zu Boden und bewegt sich im Takt der Musik.
Vielleicht sieht sie in ihm einen reichen Mann, der ihr ein Leben mit Kornstampfen, Tuchweben, Buttermachen oder Wassertragen ersparen kann. Vielleicht will sie mich aber auch nur eifersüchtig machen.
*
Meine Fragen, bezüglich der Menschentransporte werden freundlich abgeblockt. Angeblich weiß hier niemand davon.
Auf einen Wink Omar Ibn Hassans hin hebt sich Raissa langsam von den blaugrünen Kacheln des Fußbodens an. Sie schaut ihn an und beugt sich plötzlich vor, als gehorche sie einem Impuls, als könne sie nichts dagegen tun. Dann küsst sie den Boden vor seinen Füßen und wirft ruckartig den Kopf hoch, dass die Haare fliegen. Sie schaut zu ihm auf.
Mit einer Fingerbewegung fordert er sie auf, sich zu erheben. Kühn schiebt sie das rechte Bein vor. Die Arme über den Kopf erhoben, steht sie langsam auf.
"Darf ich dein Mädchen entkleiden?" fragt Omar Ibn Hassan.
Es ist eine Frage aus Höflichkeit, die jedoch nur eine Antwort zulässt. Um des Friedens willen stimme ich zu.
Er nickt dem Mädchen zu. Im Takt der Musik öffnet sie ihr Top mit dem eingearbeiteten Büstenhalter aus gelber Seide und wirft es achtlos beiseite. Sein Interesse an ihr erregt sie. Das ist offenkundig. Raissa löst nun langsam die Tanzseide von ihren Hüften, ohne den Stoff ganz loszulassen. Geschickt bewegt sie die durchsichtigen Bahnen vor ihrem Körper hin und her. Sie fordert den ruhig dasitzenden Omar Ibn Hassan heraus.
Er verfolgt ihre Gestik mit dem Schleier. Sie stellt sich geschickt an. Die Musik wird schneller. Raissa lässt den Schleier fallen und wirbelt vor uns auf der kleinen Tanzfläche herum. Urplötzlich erstarrt sie. Die Musik verstummt. Im gleichen Augenblick verharrt sie reglos, mit zurück geneigtem Kopf. Ihr Körper glänzt schweißnass. Mit den letzten Takten der barbarischen Musik lässt sie sich vor Omar Ibn Hassan zu Boden fallen und bietet sich ihm dar. Sie atmet schwer.
Großmütig bedeutet ihr Omar Ibn Hassan aufzustehen. Sie gehorcht und bleibt einen Augenblick lang vor ihm stehen. Er schaut mich an und lächelt gepresst.
"Eine interessante junge Frau," sagt er.
"Möchtest du ein Angebot abgeben?" lächele ich zurück.
Omar Ibn Hassan deutet auf den Shejk, der höflich den Kopf neigt.
"Ich würde auf keinen Fall gegen einen Gast in meinem Haus bieten," sagt Ali Ibn Mehmed.
"Und ich," antwortet Omar Ibn Hassan, "halte es nicht für höflich, gegen den Mann zu bieten, in dessen Haus ich so großzügig willkommen geheißen werde."
"In meinem Garten," sagt der Shejk lächelnd, "habe ich zehn solch schöner Blumen."
"Ah," meint der Salzkaufmann und verneigt sich.
In der Ferne klingt in diesem Moment Lärm auf. Stimmen brüllen durcheinander. Omar Ibn Hassan und unser Gastgeber scheinen nicht darauf zu achten. Raissa steht mit erhobenem Kopf und streift mit der rechten Hand ihr Haar zurück. Die aufgeregten Stimmen werden lauter. Endlich wird der Shejk aufmerksam.
"Was geht hier vor?" fragt er laut und erhebt sich.
Raissa sieht sich um. In diesem Augenblick drängen Bewaffnete in den Saal und überrennen die Wächter. Ein verschleierter Mann in einer weiten Djellabah stürzt vor. Der Krummsäbel des Eindringlings zuckt aus der Scheide. Blutend weichen die Männer zurück und taumeln verwundet zu Boden. Dann fällt auch Ali Ibn Mehmed. Ich bin aufgesprungen, um Raissa aus dem Getümmel herauszuholen. Sie in einen Seitengang schiebend, drehe ich mich noch einmal zu dem Geschehen um. Da trifft mich ein Schlag.
*
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Do Apr 14, 2022 10:11 am
Ich hebe den Kopf. Viel ist nicht zu sehen. Ein schwerer Ring aus Metall liegt um meinen Hals, von dem links und rechts je eine kurze Kette ausgeht, die in Ringen an der Mauer endet. Meine Hände sind ebenfalls mit kurzen Ketten an der Mauer und meine Fußgelenke an einem Bodenring vor mir festgemacht. Auf Sandboden sitzend wende ich den Kopf. Ich blicke zur Tür. Sie besteht aus schweren Holzbalken mit Metallbeschlägen. Ein kleines vergittertes Fenster spendet ein wenig Licht.
Ich bewege die Nasenflügel, versuche mir über die Gerüche klar zu werden. Von draußen dringt der Duft nach Dattelpalmen herein. Ich höre ein Kamel vorbeitraben. Von der Tür erreicht mich der Geruch von Ziegenkäse und starkem Pfefferminztee. Ich höre, wie sich jemand auf einem Stuhl vor meiner Tür bewegt. Der Geruch seinee Schweißes dringt zu mir durch und das Rosenwasser, mit dem sich die Beduinen erfrischen.
Nun lehne ich mich gegen die Steine in meinem Rücken. Was ist passiert? Ich habe versucht, bei dem lokalen Mächtigen Schejk Ali etwas über die Schlepper zu erfahren, die die Menschen durch die Sahara bringen. Er hat mich wochenlang ignoriert. Erst mit der Ankunft des Salzkaufmanns Omar hat sich das Blatt gewendet. Ich habe die Audienz bekommen.
Nun kann man die Leute hier nicht mit der Nase auf ein Problem stoßen. Das würde mir als unhöflich angekreidet. Deshalb bin ich diplomatisch vorgegangen und habe Raissa mitgenommen, die in der Wartezeit tanzen gelernt hat. Ich habe eine gelockerte Atmosphäre geschaffen durch ihren Tanz und indirekte Fragen gestellt, bin damit aber auch nicht weiter gekommen.
Dann hat es einen Angriff gegeben – in den Privaträumen des Shejks! Seine Wachen sind überrumpelt worden, und ich bin durch einen Schlag bewusstlos geworden. Nun finde ich mich hier in einem Verlies. Es scheint noch zu der Kasbah Shejk Ali Ibn Mehmed zu gehören. Wo sich Raissa zurzeit befindet, weiß ich nicht.
Der Ring um meinen Hals erscheint mir unangenehm eng. Ich zerre ein wenig an meinen Handfesseln. Ein Schweißtropfen läuft an meinem linken Unterarm hinab. Ich kann mich kaum bewegen, bin gefangen. Was wirft man mir vor?
Dann höre ich, wie sich der Stuhl vor der Tür des Verließes bewegt. Der Mann draußen steht auf. Er geht ein wenig herum und kehrt zu seinem Stuhl zurück. Anschließend setzt er sich wieder.
In der Abenddämmerung flammen draußen vor meinem Fenster Feuer auf. Der Geruch von gebratenem Fleisch zieht durch die Gitterstäbe zu mir herein. Musik und Lachen mischt sich hinzu. Als es dunkel geworden ist, höre ich meinen Wächter vor der Tür aufstehen. Ob er an der Außenwand des Gebäudes lehnt und dem Treiben zuschaut? Einige Zeit später höre ich ein Scharren an der Tür. Dann richtet sich eine Gestalt dicht vor mir auf.
„Mahmood!“ entfährt es mir überrascht.
„Still!“ zischt er.
Ein heller Ton ist zu hören. Meine Metallfesseln vibrieren, dann fallen sie.
„Eine Akkubohrmaschine?“ frage ich erstaunt.
Mahmood grinst nur, dann zieht er mich zur Tür und bückt sich dort. Der Sandfußboden ist dort niedriger als er bei Tag noch war. Auch ich gehe auf die Knie und robbe dann in Bodennähe hinter ihm her unter der Tür hindurch. Dann gehen wir ohne große Eile lachend und scherzend an den Feuern vorbei bis wir auf der Gasse vor der Kasbah stehen. Drei Kamele knien dort im Sand, bewacht von einem Mann aus Mahmoods Mannschaft. Wir steigen auf und wenige Minuten später erreichen wir das Lager des Kaufmanns Abd el Hammad. Die Karawane ist im Aufbruch begriffen. Man will die kühlen Nachtstunden nutzen, um möglichst viel Strecke zu machen. Mit Tagesbeginn wird die Strecke immer kürzer, die die Karawane pro Stunde zurücklegt. Mit zunehmender Hitze muss man in der Wüste Anstrengungen vermeiden.
Unterwegs will ich Mahmood erzählen, was vorgefallen ist. Aber er lächelt nur und sagt: „Ich weiß, mein Bruder. Männer des Salzkaufmanns haben den Überfall durchgeführt. Der Salzkaufmann Omar Ibn Hassan ist nun auch der Shejk der Oase. Du wurdest beschuldigt, den tödlichen Streich gegen Ali Ibn Mehmed geführt zu haben…“
„Aber warum…“ frage ich mit verständnisloser Miene.
Statt einer Antwort fragt Mahmood: „Was führt dich in diese Gegend?“
„Zum Einen wollte ich meinen Führer Tarek zu seinem Clan zurückbringen, der fliehen musste. Und gleichzeitig will ich die Schlepper ausfindig machen, die Geschäfte damit machen, Menschen durch al Sahra el kubra zu schleusen und auf schlechten Schiffen dem Medi terranée zu überlassen.“
„Siehst du! Omar Ibn Hassan belieferte Ali Ibn Mehmed mit Gegenständen und Informationen aus dem Norden, um sein Schleppergeschäft zu führen. Nun ist verschiedenes passiert: Du hast mit deinen Nachforschungen beide nervös gemacht, und Omar Ibn Hassan hat Gefallen an Raissa gefunden.“
Ich horche auf. „Wo ist sie jetzt?“
„Wahrscheinlich im Garten des Ali Ibn Mehmed bei den anderen Frauen. Allerdings schätze ich, dass Omar Ibn Hassan einen Stellvertreter einsetzen wird und dann mit einer Karawane nach Norden zurückkehrt.“
„Wir müssen zurück in die Kasbah!“ sage ich.
„Bist du dir sicher?“ fragt er mich. „Du weißt, was das bedeutet!“
„Ich gehe nicht ohne Raissa!“ sage ich mit fester Stimme und richte mich im Sattel auf.
„Dann will ich dich begleiten!“ antwortet mir Mahmood.
Er informiert Abd el Hammad, der uns erst nach zähen Verhandlungen am nächsten Abend ziehen lässt. Wir reiten mit vier Kamelen zurück. Zwei davon sind mit Wasser und Vorräten beladen.
*
Eine Kasbah ist der höchste Gebäudekomplex eines Ortes. Sie bietet genug Platz für die Bewohner des Ortes, falls sie im Katastrophenfall ihre Häuser verlassen müssen. Darin ist sie den mittelalterlichen Burgen in Europa gleich. In Normalzeiten ist es der Wohnsitz der Mächtigen des Ortes. Darum bietet sie ebenso alle Annehmlichkeiten eines Palastes. Sie ist etwa drei bis vier Stockwerke hoch mit Zinnen außen am Flachdach, von wo sie gut verteidigt werden kann.
Außen ist die Kasbah schmuck- und fensterlos. Türen und Fenster der Gebäude öffnen sich nach innen. Im Innersten Bereich liegt ein orientalischer Garten mit bunten Pflanzen und Wasserspielen. Hier findet der Herrscher Ruhe im Kreise seiner Familie und Freunden. Die Wasserversorgung der Kasbah ist entweder durch ein Aquäduktsystem oder eine große Zisterne gesichert.
Wir erreichen den Ort am Nachmittag und machen Halt im Karawanserail in der Nähe der Kasbah. Das große Eingangstor zur Kasbah liegt an der gegenüberliegenden Seite. Nachdem wir unser Zimmer bezogen haben, spazieren wir durch den Ort. Ich möchte mich umschauen, ob Tarek noch im Ort ist, oder ob er sich inzwischen auf eigene Faust auf den Weg gemacht hat, seinen Clan zu finden.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Fr Apr 15, 2022 9:47 am
Es ist schon dunkel, als wir uns auf den Rückweg machen. Mahmood zieht mich in eine Teestube. Wir lassen uns einen Tee bringen. Ich lasse prüfend meinen Blick über die anwesenden Gäste schweifen. Eine der Gestalten mit dem Gesichtsschleier der Tuareg kommt mir bekannt vor. Ich nehme mein Glas und gehe zum Tisch, an dem der Mann alleine sitzt. Als ich mich ihm nähere schaut er auf.
Ich berühre meine Stirn, Mund und Herz und sage: „Selam alejkum.“
Er erkennt mich an den Bewegungen und der Stimme, denn er lächelt.
„Selam, Sihdi. Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.“
Ich drehe mich zu Mahmood um und hebe kurz die Hand. Mahmood kommt nun auch an Tareks Tisch.
„Keine Sorge,“ sage ich zu Tarek. „Das ist Mahmood, mein Säbelbruder. Wir haben noch etwas in der Kasbah zu erledigen, bevor wir weiter nach dem Verbleib unseres Clans forschen.“
Mahmood erklärt Tarek unseren Plan. Am folgenden Tag zieht er aus dem Haus, das ich vor Wochen für Tarek, Raissa und mich gemietet habe zu uns in das Karawanserail. Wieder warten wir die Nacht ab. Dann mache ich mich mit Mahmood auf den Weg, während Tarek auf unsere Sachen achtet. In dieser Nacht wollen wir die Örtlichkeiten auskundschaften. Ergibt sich die Gelegenheit, wollen wir Raissa sofort herausholen, ansonsten werden wir uns danach beraten, was weiter geschehen soll. Mahmood wirft das Seil mit dem Haken über die Zinnen und wir klettern mühsam die Außenmauer hinauf. Oben holen wir das Seil ein, das sich Mahmood aufgerollt quer über die Brust hängt.
*
Der Sihdi wird von einem schweren Holz am Kopf getroffen, das einer der Angreifer schwingt. Er sinkt zu Boden und weitere Männer drängen in den Gang. Sie übersteigen den Sihdi und ergreifen mich. Ich schreie auf, aber dann wird mir Stoff in den Mund gestopft und um den Kopf gewickelt. Irgendetwas spüre ich an meinem Fußgelenk. Man dreht mir einen Arm auf den Rücken und stößt mich vorwärts. Das Etwas an meinem Fußgelenk erklingt bei jedem Schritt mit hellem Ton. Man hat Glöckchen an mir befestigt wie an einem Kamel!
Als ich wieder sehen kann, befinde ich mich in einem Garten umgeben von einer hohen Mauer. Wunderschöne Heckenblumen wechseln ab mit Obstbäumen. Dazwischen erstreckt sich eine Blumenwiese, in der Mitte geteilt von einem kleinen Kanal, in dem Wasser um Steine herum fließen muss, was gurgelnde Geräusche in der sonst absoluten Ruhe verursacht. Hinter mir schließt sich eine schwere Holztür. Ich trete in den Garten und schaue mich fasziniert um. Im hinteren Teil erkenne ich zwei Springbrunnen.
Die Glöckchen reißen mich wieder aus meiner Betrachtung. Unfreie Frauen werden dadurch daran erinnert, was sie sind oder wozu sie gerade werden. Gleichzeitig können die Herren unsere Anwesenheit und Bewegungen problemlos wahrnehmen.
Ich gehe tiefer in den Garten hinein und nähere mich der rückwärtigen Mauer. Sie besteht innen aus glatt poliertem Marmor. Meine Finger an die Mauer gepresst, schaue ich nach oben. Sie muss fünfmal höher sein, als ich groß bin – unmöglich, sie zu überwinden. Die Bäume des Gartens stehen weit genug von der Mauer weg, als dass ich sie durch Hinaufklettern überwinden könnte.
Aus Richtung des Hauses erklingen männliche Stimmen. Hastig ziehe ich mich aus der Nähe der Mauer zurück. Jemand betritt in Begleitung Anderer den Garten. Ich wage nicht aufzuschauen, sondern versuche einen der beiden Brunnen zu erreichen.
„Halt!“ höre ich da die Stimme eines Mannes ganz in meiner Nähe.
Sofort bleibe ich stehen. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich drehe mich in die Richtung, aus der ich die Stimme vernommen habe und knie mich ins Gras. Nun beuge ich mich vor, platziere meine Hände neben meinem Kopf auf dem Boden und behalte ihn unten, denn man hat mir nicht erlaubt meinen Kopf zu heben. Noch immer trage ich die leichte, halb durchsichtige Tanzkleidung.
Wer ist dieser Mann?
Hat Shejk Ali, der Hausherr, nicht gesagt, er hätte zehn solcher Frauen – Blumen genannt – wie mich in seinem Garten? Sie müssen momentan in den Frauengemächern im Haus sein. Ist dieser Mann sein Verwalter und ich nun die Elfte? Aber dieser Salzkaufmann – Omar Ibn Hassan -, der sich so lässig benommen hat, hat während des Tanzes doch Interesse gezeigt. Kommt dieser Mann nun, um mich an den Kaufmann auszuliefern? Wo ist mein Sihdi? Was ist mit ihm passiert?
Bei diesem Gedanken schließt sich eine Klammer um mein Herz. Mir wird beklommen zumute. Was wird meine Zukunft sein?
Ich knie vor dem Mann, den Kopf und die Handflächen im Gras. Zwischen den Bäumen kann ich Vögel hören. Auch das Plätschern des Brunnens dringt an mein Ohr. Es erscheint mir eine Ewigkeit zu dauern, in der ich unbeweglich vor dem Mann in demütiger Haltung knie.
„Position!“ kommt sein nächster Befehl.
Sofort strecke ich meinen Rücken und knie aufrecht, den Kopf weiterhin gesenkt.
„Du darfst deinen Kopf heben!“ erlaubt er mir.
Ich schaue auf. Der Mann ist mir nicht bekannt. In seiner Begleitung erkenne ich den Salzkaufmann Omar Ibn Hassan und einen Bewaffneten.
„Ich bin der Hausherr hier,“ eröffnet er mir wie beiläufig, und deutet lässig auf Omar Ibn Hassan. „Dies ist dein neuer Herr. Du wirst in ein paar Tagen eine längere Reise antreten. Solange darfst du die Freuden des Gartens genießen.“
Die Blicke der Männer ruhen mit Wohlgefallen auf mir, während der Fremde spricht. Dann drehen sie sich um und gehen ins Haus zurück. Ich bin wieder allein. Nachdem die Männer im Haus verschwunden sind, wage ich aufzustehen. Ich bin einen Augenblick unschlüssig, wohin ich mich nun wenden soll, als ich helle Stimmen höre. Schnell trete ich hinter einen Busch und schaue durch das Geäst in die Richtung, aus der die Stimmen kommen.
Ich sehe drei Frauen durch den Garten schlendern. Sie tragen Gewänder aus durchsichtigem Stoff, und darüber eine schlichte undurchsichtige Stoffbahn. Die mittlere der Drei hat eine Kordel mehrfach um ihre Hüften gebunden, die seitlich in Quasten endet. Sie tragen – im Gegensatz zu mir – Armreifen und Halsketten. Die Mittlere hat ihre Haare hochgesteckt und mit Haarbändern fixiert. Wir alle tragen zusätzlich noch einen Halsreif. Auf Meinem ist der Name meines Sihdi eingraphiert. Er wird wohl bald ausgewechselt werden.
Sie kommen langsam näher. Schließlich müssen sie mich gesehen haben, denn sie schauen sich kurz an, dann trennen sie sich. Die beiden äußeren Frauen umrunden den Busch von jeweils der anderen Seite und halten mich fest, bis die Mittlere heran ist, die ihre Schritte nicht beschleunigt hat. Ich habe noch versucht, aufzuspringen und wegzulaufen - ein Impuls nur, der mir sowieso nichts genutzt hätte.
„Wer bist du?“ fragt die Mittlere streng.
Ich senke demütig den Kopf und sage: „Raissa, eine Tänzerin, die hierher gebracht wurde.“
„Du hast miterlebt, was geschehen ist?“
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Sa Apr 16, 2022 10:52 am
„Ja, Herrin.“
„Folge uns!“ antwortet sie und macht kehrt.
Wir gehen auf das Haus zu, die Herrin vorweg und ihre Begleiterinnen zu meinen beiden Seiten. Das Haus hat zum Garten hin eine überdachte Terrasse, auf die drei Torbögen führen. Die Herrin nimmt den linken Torbogen. Dahinter liegt ein Aufenthaltsraum mit Teppichen und Bodenkissen. An der linken und der hinteren Wand führen mehrere Türen in weitere Räume. Sie zeigt auf die zweite Türe an der linken Wand.
„Dort kannst du schlafen, wenn du nicht gerufen wirst,“ sagt sie. „Wieviel Wissen hast du inzwischen gewonnen über die Beziehung der Männer zu den – Blumen?“
Sie macht eine Pause vor dem letzten Wort und schaut mich in einer besonderen Art an.
„Ich weiß nicht…“ antworte ich. „Ich bin eine Tuareg!“
„Das habe ich mir gedacht,“ meint sie. „Die Frauen der Tuareg sind stolz. Du aber hast schon eine Ahnung davon, was die Aufgabe der Blumen ist!“
„Blumen sind wunderschön! Man pflegt sie, damit sie die Menschen erfreuen und milde stimmen können.“
Sie lacht. In der Zwischenzeit sind weitere Frauen aus den Nebenzimmern herbei gekommen.
„Wir sind die Blumen, die diesen Garten verschönern. Durch unsere Anwesenheit bereiten wir den Männern Entspannung. Du hast schon gelernt zu gehorchen. Du wirst noch mehr lernen, solange du dich hier aufhältst!“
„Ja, Herrin,“ flüstere ich.
Die Frauen der Tuareg sind durchweg frei. Es gibt kaum Unfreie unter uns. Sicher, durch die Händel der Männer kommt es vor, dass Frauen vorübergehend unfrei werden. Dann findet sich jedoch zumeist ein Mann, der sie aus dem Status der Unfreien hebt indem er sie zur Frau nimmt. Hier liegen die Verhältnisse ein wenig anders. Die Bewohner der Oasen, der Dörfer in der Steppe und die Bewohner der Städte unterhalten größere Haushalte, die viele dienstbare Geister erfordern. Hier kann es geschehen, dass Frauen den Status einer Unfreien über Jahrzehnte behalten.
Ich habe lernen müssen, einem Mann zu gehorchen. Aber zwischen uns hat sich ein zartes Band entwickelt, das mich hoffen gelassen hat, eines Tages an der Seite dieses Mannes den Status einer freien Frau zu erlangen. Nun hat ein reicher Mann aus einer arabischen Stadt Gefallen an mir gefunden. In dessen Haus werde ich immer die dienende Stellung behalten…
Die Erste hier zeigt mir einen Schlafraum, den ich mit einer anderen ‚Blume‘ teilen muss. Den Rest des Tages beschäftige ich mich mit den Frauen in den Gemächern und esse gemeinsam mit ihnen. Als es dunkel wird, werden wir in die Schlafräume geschickt. Weil ich noch zu aufgeregt bin, um schlafen zu können, sage ich in die Dunkelheit hinein:
„Ich heiße Raissa.“
Eine Weile bleibt es still. Dann flüstert es aus der anderen Ecke des Raumes: „Ich bin Hafza. Bitte, sei still! Wenn man uns hört, steckt man uns tiefer in die Unterwelt der Kasbah.“
In den Kellerräumen dieser großen Gebäude werden Vorräte gelagert. Auch eine große Zisterne befindet sich meist dort – und natürlich feuchte Zellen. Beeindruckt von der Vorstellung, dorthin verlegt zu werden, drehe ich mich zur Wand und schweige eine Zeitlang. Dann halte ich es jedoch nicht mehr aus und drehe mich zurück auf den Rücken. Ich frage flüsternd:
„Wie fühlt es sich an, von einem Mann berührt zu werden?“
Mein Sihdi, Pierre d’Alsace, ist der erste Mann in meinem Leben gewesen, der mich berührt hat. Es hat sich wunderschön angefühlt. Er ist so zärtlich gewesen und einfühlsam mit mir umgegangen, dass ich bald Gefühle für ihn in meinem Herzen entdeckt habe. Hier aber – da bin ich mir sicher – wird keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten einer unfreien Frau genommen. Wir sind Besitz und müssen funktionieren wie es die Männer wünschen.
„Es bewirkt, dass wir ihm gut dienen,“ antwortet Hafza flüsternd.
„Glaubst du, sie könnten auch mich dazu bringen, gut zu dienen?“ lasse ich nicht locker.
„Du bist dem hohen Gast versprochen,“ erinnert sie mich. „Kein anderer Mann wird dich berühren! Dieser aber wird dich ganz sicher dazu bringen, ihm gut zu dienen! - Du hast gar keine Wahl.“
„Meinst du, er mag mich?“
„Keine Ahnung,“ kommt die ehrliche Antwort. Es geht schließlich in erster Linie nicht um’s ‚Mögen‘. „Falls du dich darum bemühst, könnte es sein, dass er dich mag. Bedenke dabei aber immer, dass du dir damit die Eifersucht seiner ‚Ersten‘ zuziehen könntest!“
Ich bleibe stumm. In der Dunkelheit taste ich meinen Halsreif ab. Noch ist es der, den Pierre d’Alsace mir gekauft hat. Sein Name wurde hinein graphiert. Bald wird er wohl gegen einen anderen ausgetauscht.
Der Halsreif liegt locker um meinen Hals, aber man kann ihn natürlich nicht abstreifen. Ich werde den niedrigsten Status im Haushalt meines neuen Sihdi, Omar Ibn Hassan, bekleiden. Ängstlich kauere ich mich in der Dunkelheit auf meiner Liege zusammen. Ich ziehe die Knie an den Körper und bette den Kopf auf die Innenseite meiner Hand. Viel zu aufgeregt, um jetzt schlafen zu können, drehe ich mich mehrere Male auf der Liege. Ich verliere bald das Zeitgefühl. Bestimmt muss ich öfters weg gedöst sein, denn irgendwann wird es dämmerig im Raum. Ein löcheriges Ornament in Deckenhöhe an der Wand spendet ein wenig Licht und frische Luft.
Kurz darauf beginnt der Tag der Blumen. Die Erste ruft uns in den Aufenthaltsraum und teilt Jeder die Arbeit zu, die sie heute zu verrichten hat. Mich spart sie dabei überraschenderweise aus. Auch sie selbst bleibt zurück, als die anderen Blumen nach und nach den Aufenthaltsraum verlassen, sich verschleiern und die Frauengemächer verlassen. Schließlich bin ich mit ihr allein. Ich knie auf dem Teppich, der den Boden des Raumes bedeckt, und habe mich auf meine Fersen gesetzt. Ergeben habe ich den Kopf gesenkt und schaue auf den Boden vor mich.
Plötzlich bewegt sich der Vorhang, der den Aufenthaltsraum wohl von einem Vorraum trennt. Jemand betritt den Raum.
„Position,“ sagt eine männliche Stimme.
Ich korrigiere meine Haltung ein wenig. Gleichzeitig entnehme ich dem Rascheln, dass auch die Erste auf die Knie geht und die gleiche Haltung annimmt.
Aufzublicken wage ich mich nicht, denn man hat es mir nicht erlaubt. Ich muss meine Neugier vorerst bezwingen. Wer ist bloß dieser Mann? Wie mir die Erste gestern gesagt hat, wird ein Glöckchen geläutet, wenn ein Mann die Frauengemächer betritt. Dann müssen wir schnell unsere Schleier holen, damit unsere Gesichter verbergen und uns mit gesenktem Kopf hinknien. Doch jetzt sind wir beide nicht hinter einem Schleier vermummt. Wer kann dieser Mann nur sein?
„Ihr dürft aufschauen!“ höre ich endlich.
Ich hebe meinen Blick und erkenne den Mann, der sich mir gestern im Garten als der neue Hausherr der Kasbah vorgestellt hat. Sein Blick ruht auf mir. Sofort lasse ich mich nach vorne sinken bis ich mit der Stirn den Teppich berühre, rechts und links von meinen Händen abgestützt. Eine Sekunde später vollführt die Erste die gleiche Bewegung.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser So Apr 17, 2022 10:39 am
Ein Geräusch lässt mich den Kopf etwas zur Seite drehen. Ich sehe, dass der Mann seine Sandale einen halben Meter zur Seite gekickt haben muss, denn sie liegt etwas abseits. Auch die Erste schaut in Richtung Sandale.
„Aische!“ sagt er.
Sie schaut zu ihm auf aus ihrer Position. Er zeigt nur auf die Sandale und schnippt mit den Fingern. Einen Moment zögert sie mit einem ungläubigen Ausdruck im Gesicht. Dann bewegt sie sich doch nach vorn und kriecht auf allen Vieren zu der Sandale, nimmt sie mit den Zähnen auf und kriecht auf den Mann zu, um sie vor seinem Fuß fallen zu lassen. Dann schaut sie zu ihm auf. Er bedeutet ihr mit einer wedelnden Handbewegung, auf ihren Platz zurückzukehren. Sie senkt den Kopf und bewegt sich rückwärts zu ihrer vorigen Position, um dort wieder in kniende Position zu gehen.
Er hat die Erste genötigt, ihm die Sandale zu bringen, vor mir! Ich gelte hier im Haus als die niedrigste der Blumen. Eigentlich gebührt es mir, diese Tätigkeit vor den Augen der Ersten auszuführen! Eine völlig andere Sache ist es jedoch, wenn eine wie die Erste vor einer wie mir dazu gezwungen wird. Falls sie allein mit ihm gewesen wäre, glaube ich, dass sie herrlich unterwürfig um diesen Dienst gebettelt hätte.
Schlimm ist es nicht gewesen, dass sie als Erste dazu gebracht worden ist, sich wie die Geringste unter uns aufzuführen, sondern die Tatsache, dass sie danach wieder auf ihren Platz verwiesen wurde. Tränen laufen ihr über die Wangen.
Nun schaut er mich an. Seine Lider verengen sich leicht und sein rechter Zeigefinger stößt durch die Luft in Richtung der Sandale vor seinen Füßen. Er schnippt mit den Fingern.
Sofort beeile ich mich, auf allen Vieren zu ihm zu laufen und die Sandale aufzunehmen. Ich blicke kurz zu ihm auf, dann senke ich den Kopf und drücke meine Lippen auf das Leder. Dann stecke ich die Sandale auf den leicht angehobenen Fuß. Mein Dienst ist vollendet, indem ich seine Füße nacheinander küsse und mich dann zurückziehe, um auf den Knien auf weitere Anweisungen zu warten.
Die Erste schluchzt kurz auf. Das beunruhigt mich. Was kann ich dafür, dass er mir befohlen hat, ihm die Sandale anzuziehen? Ich habe mich bestimmt nicht bewusst hervorgetan, oder etwa doch? Natürlich gibt es Möglichkeiten für Frauen wie wir mittels Mimik und Gestik, etwa mit kaum merklichen Atembewegungen, schüchternste Blicke und das leichteste Zucken der Lippen. Habe ich mich unbewusst dazu hinreißen lassen? Für Frauen in unserer Situation wäre es nicht ungewöhnlich.
Mir ist, als will mich die Erste mit ihren Blicken durchbohren. Aber ich bin mir keiner Schuld bewusst. Die Erste hat in meinen Augen einen Tick zu lange gezögert, ehe sie sich ihm gegenüber unterwürfig gezeigt hat. So etwas bemerkt ein Mann in den meisten Fällen. Sofort ist sie bestraft worden.
„Du wirst sie zurecht machen, dass sie würdig ist als Geschenk für einen hohen Gast zu dienen!“ sagt er noch. Dann dreht er sich um und ist sogleich hinter dem Vorhang verschwunden.
Die Erste springt auf als sie sicher ist, dass wir beide alleine sind. Man kann erkennen, dass sie sich beherrschen muss. Ich habe plötzlich große Angst.
„Raissa war ungezogen!“ sagt sie.
„Nein,“ widerspreche ich.
„Was?“ fragt sie erstaunt.
„Ich war nicht ungezogen!“
„Du bist wohl völlig unschuldig in dieser Angelegenheit?“
„Ja,“ antworte ich.
„Du weißt, wie es sich anfühlt, bestraft zu werden?“
„Ja,“ erwidere ich.
Frauen, wie wir Blumen des Gartens, sind leicht erregbar. Prüdes Verhalten gestattet man uns nicht. Wir haben gelernt, was von uns erwartet wird, und wie wir uns verhalten müssen. Ich vermute auch, dass man uns im Hinblick auf ein gewisses Feuer aussucht. Diese Eigenschaft ist anscheinend wichtig.
„Denkst du, mir fällt nicht auf, wenn eine wie du lüstern ist?“
„Ich weiß es nicht.“
„Du Halsreifschlampe!“ schimpft sie.
Trägt sie nicht ebenfalls einen Halsreif? Vermittelt er an ihr nicht die gleiche Botschaft wie an mir? Besteht zwischen uns denn ein so großer Unterschied? Ist sie in ihrer Rolle wirklich so anders als ich? Gut möglich, dass sie Ähnlichkeiten in unseren Charakteren erkannt hat. Sie ist halt die Erste hier. Ihr obliegt es, für Ordnung zu sorgen und die Arbeiten zu verteilen, während ich die Neueste und auch die Geringfügigste aller Blumen in diesem Garten bin.
Ich antworte ihr nicht. Es entsteht eine längere Pause. Dann sagt sie: „Steh auf und komm mit!“
Ich erhebe mich und folge ihr in ein Bade- und Pflegeparadies, wie ich es noch nie gesehen habe.
„Du hast Glück, dass du uns morgen schon verlässt! Je lieblicher du duftest und je schöner dein Haar glänzt, desto besser für mich…“ sagt sie, während ich im Becken mit Rosenwasser liege, und sie sich um mein Haar kümmert.
Ganz plötzlich gefällt es mir, schön zu sein und dies auch zu zeigen. Warum soll man nicht stolz sein, wenn man gut aussieht und gut riecht. Selbst wenn es dazu dient, Männer zu erfreuen, oder der Herr sich stolz mit mir schmückt. Mittlerweile erfreue ich mich meiner Anmut. Auch wenn sie nur mein Herr zu Gesicht bekommen darf, es sei denn, er fordert von mir mich vor Anderen zu zeigen.
In unserer Kultur bleiben wir nicht lange im Unklaren darüber, ob ein Mann uns begehrt. Wir wissen, dass wir angreifbar sind und in großer Gefahr schweben, wenn uns nicht ein Mann vor den Anderen schützt. In diesem Moment taucht das Bild meines Sihdi vor meinem inneren Auge wieder auf, der Europäer, Pierre, der mich bei einem Überfall auf das Lager unseres Clans geraubt hat. Solange er in meiner Nähe gewesen ist, ist mir nie etwas passiert. Er hat mich vor den Gefahren der Wüste beschützt, genauso wie er mich vor dem Zugriff anderer Männer beschützt hat – bis wir dieses Haus betreten haben.
*
Geduckt schleichen wir, Mahmood und ich, Pierre d’Alsace, über das Flachdach und gelangen so in den hinteren Bereich der Kasbah, wo meine Audienz bei Sheijk Ali Ibn Mehmed stattgefunden hat. Dann aber taucht ein Problem auf. Der eigentliche Palast ist von den anderen Gebäuden durch eine mehrere Meter breite Gasse abgesetzt. Wir müssten mit dem Seil eine Verbindung zwischen den Dächern schaffen, was wegen der Zinnen eigentlich kein Problem ist. Wir müssten uns daran hinüber hangeln. Dann fehlt uns aber ein Seil, um in den Vergnügungsgarten zu gelangen. Wir müssten auf Anhieb die Frauengemächer finden und darinnen die Schlafstelle Raissas zweifelsfrei ausmachen. Jeder Fehler führt zu einem Alarm und zu unserer Verhaftung.
Mahmood schüttelt den Kopf.
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Thema: Re: Meer ohne Wasser Mo Apr 18, 2022 9:51 am
„Mein Bruder. Es wird einfacher sein, dein Ziel in der Wüste erreichen zu wollen,“ flüstert er. „Omar Ibn Hassan wird bald in den Norden aufbrechen. Wir werden seine Karawane in einiger Entfernung begleiten und im richtigen Moment zuschlagen!“
Ich nicke.
„Dein Plan ist der Bessere!“ gebe ich zu.
Wir schleichen zum Rand des Daches und werfen den metallenen Haken in die Gasse, die außen an der Kasbah vorbei führt. Es gibt ein metallisches Geräusch, als er den Boden berührt. Wir gehen zu einer Gebäudeecke und warten mehrere Minuten. Als wir sicher sind, dass niemand aufmerksam geworden ist, bindet Mahmood eine weite Schlaufe in das Seil, lässt sie über eine Zinne fallen und lässt es in die Gasse hinunter. Daran hangeln wir uns aus dem Gefahrenbereich der Kasbah. Schließlich schwingt er die Schlaufe mit Schlängelbewegungen des Seils über die Spitze der Zinne und rollt es auf.
Wir schlendern zum Haken, den ich aufhebe und spazieren zur Karawanserail zurück. Dort müssen wir noch zwei Tage warten. Dann endlich verlässt eine große Karawane die Kasbah und schlängelt sich durch die Gassen aus dem Ort. Wir beobachten sie vom Dach der Karawanserail aus.
Zwei Gruppen Bewaffneter reiten auf kostbaren Tieren vor und hinter den Lastkamelen. Vereinzelte Bewaffnete reiten nebenher und im vorderen Drittel befinden sich zwei Haudaq. Eine davon ist ähnlich kostbar verziert wie die des Kaufmanns Ab del Hammad. In der Anderen muss sich Raissa befinden. Etwa eine Stunde später brechen wir auf. Unsere kleine Gruppe besteht aus drei Reitkamelen und drei Lasttieren. Wir nehmen in Sichtweite des Ortes eine andere Richtung, um dann im neunzig-Grad-Winkel in die Richtung abzubiegen, die die Karawane des Omar Ibn Hassan genommen haben muss.
Wir überqueren die Spur, um einen Kilometer daneben in die Richtung einzuschwenken, die die Karawane auch genommen hat. Da diese durch unseren Haken nun einen größeren Vorsprung hat, treiben wir unsere Tiere an. Am Nachmittag sehen wir sie dann in der Ferne. Wir beeilen uns in den Schatten eines Felsmassivs zu kommen und übernachten dort.
In der Nacht vermeine ich Kampfgetümmel zu hören. Als wir am nächsten Morgen vorsichtig nachschauen, sehen wir ein niedergebranntes Lager mit einigen toten Kamelen und mehreren Grabhügeln aus gesammelten Steinen. Wir verharren einige Minuten schweigend, dann deutet Tarek auf eine reich verzierte Haudaq.
„Dies ist die Karawane des Omar Ibn Hassan gewesen.“
Die andere Haudaq ist verschwunden. Also muss Raissa noch leben! Wir umkreisen den Kampfplatz und finden zwei Spuren. Zwei verschiedene Gruppen müssen das Lager wohl verlassen haben. Bald verlaufen die beiden Spuren parallel. Die eine Gruppe wird wohl von der anderen verfolgt. In der Ferne sehe ich Felsen und Hügel aus dem Sand aufragen.
Ich berate mich mit den Anderen und wir entscheiden, so schnell die Kamele können den westlichen Rand der Landmarke erreichen zu wollen. Dort angekommen halten wir uns auf felsigem Untergrund, um keine Spuren zu erzeugen und schauen uns nach Spuren der einen oder anderen Gruppe um. Als wir eine kleine Karawane mit einer Haudaq bemerken, lassen wir die Kamele niederknien und ducken uns. Wir befinden uns auf einem steinigen Hügel.
Kaum sind wir in Deckung gegangen, klingen Schüsse auf. Die Kamele stürzen und begraben die Reiter unter sich, die es nicht geschafft haben rechtzeitig abzuspringen. Einer der Reiter greift sich das Führungsseil des Lasttieres mit der Haudaq auf dem Rücken und versucht zu entkommen. Eine Flintenkugel holt ihn jedoch aus dem Sattel. Dann kommen etwa ein Dutzend Männer aus ihren Verstecken. Sie schwingen sich in die Sättel und sammeln die entlaufenen Lastkamele ein, um dann mit ihrer Beute in südlicher Richtung den Schauplatz zu verlassen.
Drei weitere Männer kommen hinzu, begraben die Toten und folgen dann der Gruppe. Wir führen nun unsere Kamele vom Hügel herunter, besteigen sie unten und folgen dieser Gruppe. Gegen Mittag wird der Sand durch immer mehr Büschel von hohem Gras ersetzt. Wir haben den südlichen Rand der Sahara erreicht.
Als wir in der Ferne Zelte ausmachen können, umreiten wir den Lagerplatz. Wir sehen, dass mehrere Spuren vom Lager wegführen, aber nur eine hinein. Irgendjemand wird wohl bei den Tieren sein. Die anderen werden auf der Jagd sein, nehme ich an und auch Mahmood und Tarek stimmen mir zu. Also vereinbaren wir, dem Lager einen Besuch abzustatten, als Reisende getarnt. Wir reiten in das Lager hinein und finden die Lasttiere mit gefesselten Gelenken auf dem Boden knien. Die Lasten sind abgeladen und sicher in den Zelten versteckt.
Zuerst zeigt sich niemand. Dann tritt eine junge Frau im Gewand einer Beduinin aus einem Zelt. Sie zeigt sich eigentümlich zurückhaltend. Also probiere ich etwas aus.
„Auf alle Viere!“ sage ich.
Sofort kniet sie sich hin und beugt sich nach vorn, die Stirn auf den Boden gedrückt.
„Sihdi?“ tönt es leise aus ihrem Mund.
Sie schaut nicht auf.
„Du scheinst endlich deinen Spaß daran zu haben, von einem Mann beherrscht zu werden,“ sage ich nun, ohne auf ihre Frage einzugehen.
„Ich bin eine Frau,“ flüstert sie. „Ich habe Gefühle in mir entdeckt, von denen ich nichts ahnte. In den Armen eines starken, unnachgiebigen Mannes habe ich entdeckt, wie herrlich, wie überwältigend das sein kann.“
„Ich habe den Eindruck, als liege dir dein Herr am Herzen,“ meine ich, ohne darauf einzugehen, wen ich damit meine.
„Wenn er es mir nicht verboten hätte,“ sagt sie kühn, „würde ich ihm selbst den Staub von den Stiefeln lecken.“
„Position!“ befehle ich nun.
Sie kniet sich aufrecht mit gesenktem Kopf hin.
„Du darfst aufschauen,“ erlaube ich ihr.
Sie schaut mir mit einem undefinierbaren Ausdruck in die Augen. Dann schaut sie sich um und entdeckt eine Staubfahne am Himmel. Tarek und Mahmood, die unsere Tiere zu den anderen gebracht haben, verschwinden in einem Zelt, während ich bei Raissa bleibe. In ihren Augen steht plötzlich Angst.
„Du musst fliehen, Sihdi!“ fleht sie. „Sie töten dich vielleicht, wenn sie dich hier finden.“
Ich schüttele den Kopf und sage: „Mach mir Tee!“
Unsicher steht sie auf und verschwindet im Inneren des Zeltes. Ich folge ihr. Sie füllt ein Glas aus einer Metallkanne mit Tee.
„Hast... hast du die Absicht, meinem jetzigen Herrn zu schaden?“ fragt sie zweifelnd, als sie mir das Glas übergibt.
„Ich muss etwas mit ihm besprechen,“ antworte ich schlicht.
Ich habe mich inzwischen auf der Bodenmatte niedergelassen.
Sie weicht von mir zurück. Ich bücke mich und stelle den Tee in den Sand. Sie macht einen weiteren Schritt rückwärts. Ich strecke die Hand aus und greife nach einer zierlichen Kette, die dort liegt. Raissa macht mit einem Aufschrei kehrt, flieht aus dem Zelt und läuft auf die Staubwolke zu.