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BeitragThema: Re: Meer ohne Wasser   Meer ohne Wasser - Seite 2 Icon_minitime1Di Apr 19, 2022 9:28 am

Ich bin sofort hinter ihr her. Das Kettenstück wirbelt wie eine Bola aus meiner Hand und legt sich um ihre Fußgelenke. Während Mahmood und Tarek aus dem benachbarten Zelt kommen, stürzt Raissa mit ausgestreckten Händen in den Staub.

Gleich darauf knie ich auf ihr, die rechte Hand über ihren Mund gelegt. Ich hebe sie hoch und bringe sie ins Zelt zurück. Tarek folgt mir.

Er sagt: „Sihdi, dies ist das Lager einer Gruppe unseres Clans!“

Ich lächele.

„Wir werden warten und schauen, wer der Anführer hier ist,“ bestimme ich.

Raissa kniet zitternd im Hintergrund des Zeltes. Ich kehre zum Zelteingang zurück und mich davor auf. Zuerst erscheint der Anführer der Gruppe über dem Dünenkamm. Er entdeckt mich sofort und ruft seinen Männern eine Warnung zu.

Die Gruppe schwärmt aus, um mich zu umzingeln. Ich erblicke den erhobenen Krummsäbel in der Hand des Anführers. Das Kamel des Anführers geht in den Galopp. Ich erkenne, dass er die Absicht hat, mit seinem Tier durch das Zelt zu reiten, um auf diese Weise nahe genug an mich heranzukommen, auch wenn er damit seine Behausung zerstört. Ich greife hinter mich, hebe einen Wasserbeutel von seinem Haken und zeige ihn.

Einer der Männer stößt einen Wutschrei aus. Ich hebe den Beutel und trinke einen tiefen Schluck. Dann stecke ich den Stöpsel zurück, hänge den Beutel wieder an Ort und Stelle und wische mir mit dem Ärmel den Mund ab. Der Anführer steckt seinen Krummsäbel wieder ein, lässt sein Kamel vor mir niederknien und steigt leichtfüßig aus dem Sattel.

Nun kehre ich zu der Matte zurück, setze mich im Schneidersitz darauf und greife nach meinem Glas Tee, das ich noch nicht geleert habe. Gebeugt tritt er ein.

„Der Tee ist fertig,“ sage ich zu ihm und führe drei Finger meiner rechten Hand zu Stirn, Mund und Herz.

Er schaut Tarek und Mahmood an, dann mich und setzt sich lächelnd uns gegenüber.

„Serviere uns Tee!“ sagt er.

Raissa schaut ihn entsetzt an. Doch er ist nicht wütend auf sie. Sie beeilt sich, seinen Wunsch zu erfüllen. Auch Tarek und Mahmood erhalten ihr Glas Tee. Dabei zittert sie deutlich. Die Zeltbahn, die den Eingang verschließt, liegt festgebunden auf dem Dach. Die anderen Männer der Gruppe stehen vor dem Zelt und verfolgen die Szene mit gespannter Aufmerksamkeit.

„Der Tee ist ausgezeichnet,“ versichere ich ihm.

Indem ich das Wasser des Lagers getrunken habe, habe ich nach den Sitten der Tuareg um die Gastfreundschaft dieser Männer gebeten.

„Du kennst mich,“ sage ich, nachdem ich mein leeres Glas in den Sand vor mir gedrückt habe. „Wie geht es Hassan, meinem Bruder? Was macht Achmed, für den ich väterliche Gefühle hege? Wie lebt der Clan?“

„Es ist schreckliches geschehen, seit du nicht mehr bei uns weiltest…“ beginnt mein Gegenüber. „Hussejns Clan hat uns in der Nacht überrascht. Nur wenige konnten fliehen. Wir haben uns nach Süden gewandt, um im Sahel neu beginnen zu können. Hassan ist bei dem Kampf umgekommen.“

„Euch fehlt der Clanchef!“ konstatiere ich.

„Es gibt kein einheitliches Kommando mehr,“ bestätigt er. „Es haben sich drei Männer gefunden, für deren Ideen sich die anderen Männer erwärmt haben…“

„Ihr habt euch aufgespalten! Und du bestreitest deinen Lebensunterhalt mit Überfällen auf Karawanen…“ stelle ich fest.

„Ja, Sihdi,“ antwortet er einfach – und durch die Verwendung der Anrede Sihdi –Herr- doch so bedeutungsschwer.

„Weißt du was?“ frage ich ihn nun. „Kennst du den Herrn der Karawane, aus der ihr diese Frau geraubt habt?“

„Nein, Sihdi…“ antwortet er und schaut mich interessiert an.

„Es war der Salzkaufmann Omar Ibn Hassan, der Auftraggeber von Hussejns Clan und gleichzeitig Hintermann der Schlepper, die die Sahelbewohner durch al-Sahra-el-kubra schleusen, um sie dann in maroden Fischerbooten auf das nördliche Meer zu bringen, mit dem Versprechen, sie würden in Europa ihr Glück finden.“

Mein Gegenüber schaut mich ungläubig an. Ich fasse mit der rechten Hand meine Linke und verbeuge mich leicht.

„Ihr habt einen der größten Banditen zur Strecke gebracht! Vielleicht könnt ihr bald mit Hussejns Clan Frieden schließen und in Ruhe leben – euer Geld als Karawanenführer und durch Kamelzucht verdienen…“

Es entsteht eine lange Pause.

„Kennst du diese Frau?“ frage ich unvermittelt und deute auf Raissa.

„Sie gehörte dem Herrn der Karawane.“

„Er hat sie mir geraubt!“ sage ich. „Wir haben seine Karawane verfolgt, um sie wieder zurück zu nehmen. Da sahen wir, wie die Karawane in euren Hinterhalt geriet. Du weißt, was das bedeutet?“

Mein Gegenüber nickt.

„Ich beanspruche diese Frau!“ stelle ich fest.

Tarek und Mahmood spannen sich an.

„Du sagst, wir haben eine Wüstenhyäne zur Strecke gebracht, die dir dein Eigentum geraubt hat…“

Ich nicke lächelnd.

„Du gehörst zu unserem Clan, bist Hassans Bruder und hast bei Muhammad wie ein Tuareg kämpfen gelernt…“ resümiert er nachdenklich.

Es entsteht eine Pause.

„Was gedenkst du weiterhin zu tun?“ fragt er unvermittelt.

Er muss wohl zu einer Entscheidung gekommen sein.

„Ich will mit euch ziehen, wenn ihr euer jetziges Handwerk aufgebt und mich zu Achmed führt,“ sage ich. „Schicke außerdem Boten zu den anderen Gruppenführern aus eurem Clan, damit sich alle bei Achmed treffen und mir zuhören!“

„Du willst unseren Clan vereinen?“

„Das wäre mein Wunsch! Ob er gelingt, wird sich zeigen…“

„Wie willst du das anstellen?“

„Achmed ist der rechtmäßige Erbe des Clanchefs, aber er muss noch einiges lernen. Achmed soll nach außen hin als Clanchef auftreten – als Integrationsfigur. Ich berate ihn in seinen Entscheidungen und die drei Gruppenführer fungieren weiterhin als Führer ihrer Gruppen – in Beratungen mir gegenüber gleichberechtigt. Getan wird, was dem Clan als Ganzem wohltut!“

„Sihdi…“ hebt er an, dann wendet er sich an Raissa:

„Dies ist dein Herr!“ Er weist auf mich.

Raissa erhebt sich, läuft die drei Schritte und kniet vor mir nieder. Sie drückt ihre Stirn auf die Matte.
Zu seinen Leuten gewandt sagt er:

„Wir brechen morgen früh auf!“

Schnell haben wir zwei zusätzliche Zelte errichtet. Raissa verbringt die Nacht selig auf meiner Matte, habe ich den Eindruck.
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BeitragThema: Re: Meer ohne Wasser   Meer ohne Wasser - Seite 2 Icon_minitime1Mi Apr 20, 2022 10:08 am

Während unserer Reise in südlicher Richtung, die ich an der Seite Ibrahims, des Gruppenführers, reitend verbringe, sagt dieser beiläufig:

„Diese Frau“ – er deutet hinter uns, wo das Kamel mit der Haudaq läuft, von mir an der Führleine gehalten – „diese Frau ist sehr intelligent. Sie versucht mit Gehorsam weiterzukommen. Um Strafen zu vermeiden, hört sie wohl auf jedes Wort. Jedoch nur äußerlich. In ihrem Innern versucht sie eine Insel für sich zu behalten, ein Stückchen, das nur ihr selbst gehört. Wenn sie eines Tages ihren wahren Herrn gefunden hat, mag es an ihm liegen, ihr diese Insel zu nehmen, sie ganz zu seinem Geschöpf zu machen…“

Ich lächele. In jeder Frau steckt ein Tier. Viele haben Angst davor, es herauszulassen.

„Sie hat ihren Liebesherrn gefunden, den Mann, dem sie ganz gehören will. Sie ahnt es schon. Sie muss es sich nur noch eingestehen. Lange dauert das nicht mehr…“ resümiere ich.

Nach einer Woche erreichen wir ein kleines Lager, indem hauptsächlich Frauen und Kinder leben, sowie das Vieh und die Kamele des Clans.

Wir lassen unsere Kamele niederknien und steigen ab. Halbwüchsige Jungen kommen herbei gelaufen, um sich um unsere Tiere zu kümmern. Mir fällt sofort auf, dass das große Zelt fehlt, indem Hassan den Heimstein verwahrt hat. Ibrahim führt mich zu einem kleinen Zelt und ruft:

„Achmed?“

Nach einer kurzen Pause streckt jemand den Kopf aus dem Zelt. Es ist Djamilla.

„Achmed ist bei den Tieren,“ sagt sie.

Ich löse meinen Sandschleier, so dass mein Gesicht frei wird. In ihren Augen leuchtet die Erkenntnis auf. Mit einem schnellen Schritt kommt sie vor die Tür, um mich zu begrüßen. Tränen befeuchten ihre Augen.

„Allah akbar! Sihdi… Baba aleaziza…“

Ihre Knie versagen. Sie nimmt meine rechte Hand in ihre beiden zierlichen Hände und führt sie zu ihrem Mund, um sie zu küssen. Tränen befeuchten zusätzlich meinen Handrücken. Ich fasse sie unter der Achsel und ziehe sie vorsichtig wieder auf ihre Füße.

Wieder auf ihren Füßen stehend stimmt sie einen jauchzenden Triller an, den das ganze Lager zusammenlaufen lässt. Bruchstückhaft erklärt sie den Leuten den Grund ihrer Freude. Einige der Frauen beginnen nun ebenfalls zu trillern. Ibrahims Männer stehen feixend herum, bis er sie auffordert, sich um die Lasten zu kümmern, die wir mitgebracht haben.

Wenig später drängelt sich ein junger Mann durch die Menge. Ich erkenne ihn und gehe auf ihn zu. Wir fallen uns in die Arme und Achmed flüstert zwischen Freudentränen: „Allah akbar! Er hat unsere Gebete erhört! Baba, du bist wieder bei mir!“

„Wo ist das große Zelt?“ frage ich nach einer Weile. „Habt ihr den Heimstein gerettet?“

„Wir mussten alles zurücklassen und unser Leben retten!“ erwidert Achmed mit traurigen Augen.

„Sei nicht traurig! Wir werden heute ein Fest feiern, und morgen gehen wir beide alleine los und suchen einen Heimstein, mit dem der Clan neu ersteht!“

Man kann den Leuten ansehen, dass sie seit langem kein Freudenfest mehr gefeiert haben. So ausgelassen geben sie sich an den Feuern an diesem Abend.

*

Raissa und Djamilla bedienen uns, während wir mit den Anderen feiern. Neben mir sitzen Mahmood, Achmed und Tarek. Ibrahim hat sich zu seinen Männern gesetzt. Einer Eingebung folgend fordere ich Raissa auf:

„Tanze für uns!“

Wir haben keine Musiker, die speziell für Raissa aufspielen, jedoch ist das Lager von Musik und Gesang erfüllt. So orientiert sie sich an dem Takt der Geräusche um uns herum und improvisiert. Sie dreht sich, anmutig hüftwiegend, mal links-, mal rechtsherum. Ich trinke meinen Tee und beobachte sie über den Rand des Glases.

Jetzt streckt sie ein Bein vor und beugt sich nach vorn, um langsam mit der Hand darüber zu fahren, während sie mich anschaut. Ich schenke ihr ein Lächeln. Nun richtet sie sich auf, zieht ihr Bein zurück und vollführt mit wiegendem Oberkörper wieder eine volle Drehung. Als sie die Drehung vollendet hat, schaut sie mich unter ihren Augenlidern an und wirft sich vor uns in den Sand. Sie streckt mir ihre Hände entgegen. Verlangend schaut sie zu mir auf.

Ich stelle mein leeres Glas auf die Matte. Es fällt um, als ich mich jetzt erhebe und zu Raissa gehe, die mit immer noch im Takt zuckenden Hüften im Sand liegt. Sie an den Schultern fassend, ziehe ich sie auf ihre Füße. Zitternd steht sie nun neben mir, und ich lege meine Arme um ihre Schultern.

„‘Ana ‘ahabbuk –ich liebe dich-,“ sage ich nahe an ihrem Ohr.

Sie legt ihre Arme um meinen Brustkorb und schaut zu mir auf.

„Ich liebe dich,“ flüstert sie kaum hörbar.

Wir halten uns umschlungen.

Hinter uns hebt Mahmood zu einem gewaltigen Gelächter an. Ich drehe mich um und Raissa versteckt sich hinter meinem Rücken, als Mahmood sich nun erhebt und auf mich zu kommt. Er klopft mir grinsend auf die Schulter und sagt:

„Sie tanzt wirklich gut! Sie ist Deiner wert!“

Dann geht er zum nächstgelegenen Feuer, um sich persönlich ein Stück Ziegenfleisch zu sichern.
Raissa schaut zu mir auf.

„Was wirst du mit mir tun?“ fragt sie.

„Du achtest auf meine Habe und bedienst mich“, sage ich. „Wenn meine Mission hier beendet ist folgst du mir nach Europa.“

„Als deine Magd?“

Sie lächelt mich an.

„Wenn du einen Herrn wie mich haben willst.“

„Es ist nicht üblich, dass eine Frau gefragt wird, ob sie Eigentum eines Mannes werden will. Er nimmt sie sich einfach!“

„Um wieviel fester ist das Band zwischen Herrn und Magd, wenn sie ihr Leben freiwillig in seine Hände legt…“ resümiere ich.

Sicher, entweder die Frau dient ihrem Herrn, weil er sie sich genommen hat, oder sie lebt an seiner Seite, weil sich beide ihre Liebe zueinander eingestanden haben. Hier in einer traditionell männerbeherrschten Gesellschaft macht sie dennoch, was der Mann sagt. Was ich also von ihr verlange ist ein Mittelding, eine Mischung aus Beidem.

„Ich will dich, Pierre d‘Alsace“, antwortet Raissa mit fester Stimme. „als meinen Herrn und Gebieter.“
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BeitragThema: Re: Meer ohne Wasser   Meer ohne Wasser - Seite 2 Icon_minitime1Do Apr 21, 2022 9:46 am

Einer Eingebung folgend, hebe ich sie an und nehme sie auf meine Arme. Dann trage ich sie zu den Kamelen. Achmed ist aufgestanden und kommt mir nach.

„Sihdi, wo willst du hin?“

„Bringst du mir bitte meinen Sattel?“ bitte ich den Jungen, der umkehrt und kurz darauf das schwere Teil auf seiner Schulter trägt.

„Willst du uns verlassen?“ fragt er noch einmal.

Ich lächele ihn über meine Schulter an und antworte:
„Nein, Achmed. Keine Sorge. Es ist nur ein kleiner Ausritt für vielleicht eine Viertelstunde mit dieser Frau!“

Er schaut verständnislos, aber setzt bei den Kamelen den Sattel in den Sand, holt mein Kamel aus der Herde und sattelt es. Ich hebe Raissa in den Sattel. Sie lacht und versucht, die Führleine zu erhaschen. Ich halte ihr Handgelenk fest und biege den Unterarm auf ihren Rücken. So steige ich selbst in den Sattel und schnalze mit der Zunge. Das Kamel erhebt sich und trabt davon.

„Bist du ein richtiger Krieger?“ fragt sie nun lachend.

„Das werden wir sehen!“ erwidere ich grinsend.

Raissa sitzt vor mir und sträubt sich, windet sich hin und her, als sei dies hier eine Entführung. Ich lasse mich jedoch nicht beirren und fessele ihre Handgelenke, eine hilflose Gefangene aus Liebe und eigener Entscheidung. Die Männer sind aufmerksam geworden. Nacheinander folgen uns immer mehr Reiter, die lachen und trillern, Mahmood am lautesten.

„Es scheint, als gehöre ich dir, kühner Mann“, höre ich sie sagen. „Was willst du nun mit mir tun?“

Anstelle einer Antwort treibe ich das Kamel an und wende im großen Bogen, während sie sich bei mir anlehnt. Im Galopp geht es zum Lager zurück, wo ich die gefesselte Raissa in mein Zelt trage.

*

Am Morgen des nächsten Tages, es mag gerade um fünf Uhr sein als die Sonne aufgeht und ihre goldenen Arme über den Horizont erhebt, treffe ich mich mit Achmed zu einem wichtigen Spaziergang. Wir gehen der aufgehenden Sonne entgegen.

Hier befinden wir uns in einer Halbwüste. Einzelne Pflanzenbüschel stehen zwischen Sand und Steinen. Unsere Blicke konzentrieren sich auf den Boden vor unseren Füßen. Trotzdem lassen wir die Umgebung nicht aus den Augen.

Wir umrunden schweigsam einen trockenen Busch auf unterschiedlichen Seiten. Als wir uns dahinter fast wieder treffen, stolpert Achmed. Schnell fasse ich zu und stabilisiere ihn wieder. Dann schauen wir, ob er zufällig in den Eingang eines Nagetierbaues getreten ist oder was ihn straucheln gelassen hat.

Zwischen einigen kleineren Steinchen liegt dort ein größerer Brocken Sandstein. Ich drehe ihn um. Kein Tier hat darunter Zuflucht gesucht. Achmed hat sich inzwischen zu mir gekauert.

„Die Djinns eures Clans haben dir anscheinend euren neuen Heimstein gezeigt,“ sage ich lächelnd.

Er nickt und nimmt den Stein in beide Hände, dann richtet er sich auf.

„Wir können zurückgehen, denke ich,“ sage ich nun und lege meine Hand um seine Schultern.

Etwa eine Stunde später sind wir im Lager zurück. Ich habe den Stein unterwegs übernommen. Jetzt lässt sich Achmed es nicht nehmen, den Stein selbst ins Lager zu tragen.

Nach dem Frühstück beauftrage ich Djamilla und Raissa, unsere beiden Zelte zusammen zu nähen. So erhalten wir nach wenigen Tagen wieder ein großes Gemeinschaftszelt, worin sich die Männer des Clans zur Beratung treffen können.

Ich helfe Achmed, das Zeichen des Clans in den Stein zu ritzen. Wenn die drei Gruppen beisammen sind, in die sich der Clan aufgespalten hat, wollen wir die Zeremonie abhalten mit der der Stein geweiht wird und unser neuer Heimstein sein wird.

*

Während ich, Raissa, mich mit Djamilla um das neue Männerzelt kümmere, reden wir sehr freizügig miteinander. Wir nähen zwei normale Zelte aneinander und fügen noch eine Stoffbahn für das Mittelteil hinzu. Später kommen die Männer hier zu Beratungen zusammen. Sie trinken Tee und führen Zeremonien in der Nähe unseres neuen Heimsteins durch.

„Der Sihdi ist ein außergewöhnlicher Mann,“ sagt Djamilla unvermittelt.

Sie hat mir eine Weile still zugearbeitet und dabei ihren Gedanken freien Lauf gelassen, wie mir scheint.

„Oh ja, das ist er!“ pflichte ich ihr bei.

Nach einer weiteren Gedankenpause sagt sie:
„Er ist mir wie ein liebender Vater –baba aleaziza-. Er hat mich mehrfach beschützt und mir - aber auch Achmed – gezeigt, was man wissen muss, um im Leben zu bestehen…“

„Mir ist er ein liebender Sihdi –Herr- und Mann. Aber natürlich ist er kein Übermensch. Auch er kann in eine Falle geraten, die man ihm stellt…“ antworte ich ihr.

„Erzählst du mir mehr?“ drängt sie mich nun.
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BeitragThema: Re: Meer ohne Wasser   Meer ohne Wasser - Seite 2 Icon_minitime1Fr Apr 22, 2022 10:22 am

„Hm,“ mache ich. „Auf weiten Strecken erzähle ich dir bestimmt nichts Neues. Trotzdem kann es sein, dass du andere Seiten von ihm kennengelernt hast als ich. Also:
Ich habe den Sihdi als Fremden, Feind, kennengelernt, den es zu bekämpfen galt. Du weißt, dass Tuareg-Frauen stolz sind, denn du bist selbst eine. Wir lassen uns nicht so leicht unterwerfen. Er musste sich einer ganzen Reihe Attacken von mir erwehren, aber er hat mich trotzdem vor allen Gefahren in der Natur und durch andere Männer bewahrt. Mir gegenüber zeigte er eine unendliche Geduld. Er war stets einfühlsam und sanft zu mir. Das ließ in mir mit der Zeit Gefühle zu ihm keimen und wachsen.
Weißt du: Obwohl uns Frauen die Schönheit eines Mannes sicher nicht kalt lässt, lassen wir uns weniger stark davon beeindrucken, als die Männer die Schönheit der Frauen beeindruckt. Uns kann dagegen ein durchschnittlicher Mann mit Macken imponieren, der Intelligenz, Macht und Körperkraft beweist, gepaart mit Geduld und Empathie. Wir sehnen uns sozusagen nach dem Sultan mit Harem, während wir die einzige Dame darin sein möchten. Vor unserem inneren Auge sehen wir einen Mann, zu dessen Füßen liegend wir das Gefühl haben, zu Recht auf die Knie gegangen zu sein – als seine Frau und Magd. Wir streben innerlich keine Gleichheit an, denn sie genügt uns nicht! Wir brauchen mehr… einen Herrn. Er soll uns beschützen, über uns wachen und verfügen. Er soll uns glauben lassen, es sei das Wichtigste auf der Welt, von ihm als selbstverständlich wahrgenommen zu werden.“

Ich mache einen tiefen Atemzug und schaue Djamilla an. Sie hat aufgehört zu nähen und schaut mich mit großen Augen unverwandt an. In unserer Kultur bestimmen die Männer und die Frauen tun wie ihnen geheißen. Das ist schon immer so gewesen und wird nicht hinterfragt. Dennoch scheinen ihr meine Worte revolutionär vorzukommen.

Nach einer Weile rede ich weiter:
„Eine der grausamsten Bestrafungen besteht darin, uns zu ignorieren und gleichgültig zu behandeln. Der wirkliche Herr schenkt uns eine Menge Aufmerksamkeit, vielleicht sogar mehr als uns manchmal lieb ist. Er ist neugierig auf unsere Gedankengänge, er begehrt uns und zeigt uns, dass wir sein sind, indem er stets nach unserem Wohl trachtet. Darum bin ich seine Frau und trage trotzdem und mit Stolz seinen Halsreif!“

Ich nehme die Arbeit wieder auf und nach einer Weile, in der es in Djamillas Seele arbeiten muss, folgt sie meinem Beispiel.
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