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 Kaede, die Samurai

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BeitragThema: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Sa Jul 10, 2021 9:30 am

Zehnter Mond im Jahr des Drachen, Meiji

Bei Kerzenlicht in ein Buch vertieft, sitze ich im Seiza -Kniesitz- neben dem Kohlebecken im Washitsu -Hauptraum- des Hauses. Bald wird das Bangohan, das Abendessen, fertig sein. Außer mir befinden sich nur noch Bara -Rose-, meine Köchin, und Kuro -9.Sohn-, der Dienstbote im Haus. Beide sind damals bei meiner Hochzeit aus dem Haus meiner ehrenwerten Eltern mit mir in das Haus meiner Schwiegereltern gekommen.

Mein Herr und Ehemann ist zu den Waffen gerufen worden. Mit ihm sind alle Knechte in blauen Uniformen gegangen. Dieses Haus steht in Edo und ist die Residenz des Daimyo von Kano. Außer dieser Residenz befinden sich noch 260 weitere in der Stadt, der größten Stadt der Welt, wie man sagt.

Mein Herr hat sich zum Abschied vor seinem Vater verneigt.

„Ich bin stolz auf dich, mein Sohn,“ hat der alte Mann gesagt und ihn gesegnet.

Niemand kann sich erinnern, dass die Stadt jemals bedroht gewesen ist. Nun steht das feindliche Heer vor den Toren. Die halbe Bevölkerung ist geflohen. Auf der Straße vor dem Haus ist es ruhig. Nur noch das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Zweige im Wind ist zu hören.

Einige Monde später hat der Schwiegervater mich zu sich gerufen. Der Daimyo hat einen Brief auf seinem Schoß, als ich eingetreten bin. Ich habe mich ehrfurchtsvoll verbeugt. Auf seinem Gesicht hat ein niedergeschlagenes Lächeln gelegen.

„Uns ist befohlen worden, in unser Shogunat, nach Kano, heimzukehren,“ eröffnet er mir. „Du musst hierbleiben. Du gehörst in dieses Haus. Wenn unser Sohn eines Tages zurückkehrt, musst du anwesend sein und ihn begrüßen!“

Ich habe genickt, mich verbeugt und rückwärtsgehend zurückgezogen. Die Dienstboten haben gepackt und seitdem bin ich mit Bara und Kuro alleine in der Residenz. Normalerweise bin ich Teil eines großen Haushaltes. Jetzt sitze ich hier und verbringe meine Zeit mit Lesen, während die hölzernen Regentüren, die als Wände dienen, rundum verriegelt und die Tore verschlossen sind.

Von Kano haben uns immer wieder nur schlechte Nachrichten erreicht. Einen Mond nach der Abreise sind uns grausige Nachrichten über Hinrichtungen in Kano zu Ohren gekommen. Tagelang habe ich getrauert und mich dabei innerlich verhärtet.

Plötzlich vernehme ich das Getrappel vieler Sandalen von der Straße her. Dann folgt ein lauter Schlag, als will man das Haupttor mit einer Ramme aufstoßen. Ich versuche die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Zwar hat mir der Herr eine Handfeuerwaffe für den Ernstfall zurückgelassen, doch ich bin ungeübt im Gebrauch.

‚Meine Naginata -Schwertlanze- wird mir bessere Dienste leisten!‘ bin ich überzeugt.

Die Naginata ist etwa 2,5 Meter lang und hat eine Klinge, die ein Drittel der Länge ausmacht. Sie ist etwa dreimal so lang wie ein Samurai-Schwert. Daher habe ich gegenüber einem Krieger einen Vorteil, den ich schnell nutzen muss. Mir bleibt gerade genug Zeit, einen Streich gegen die Waden des Gegners zu führen, bevor dieser sein Katana -Samurai-Schwert- einsetzen kann. Schwertkämpfer konzentrieren sich meist auf Kopf, Kehle und Brustkorb und schützen sich dementsprechend. Ein Streich gegen ihre Waden überrascht sie immer wieder.

Seit meiner Kindheit habe ich mit der Naginata geübt und bin darin der Stolz meines Vaters, eines kampferprobten Samurai gewesen. Wenn ich die Schwertlanze schwinge, ist sie wie ein Teil meines Körpers.

Ich springe auf, lasse das Buch fallen und eile in die Eingangshalle. Dort hebe ich die Naginata aus ihrer Halterung an der Wand. Das Gewicht der Waffe in meinen Händen, fasse ich neuen Mut. Achtsam ziehe ich die lackierte Scheide ab. Die lange Klinge ist scharf wie ein Rasiermesser, denn ich habe sie stets geölt und poliert gehalten.

Das Hämmern am Tor ist mittlerweile lauter geworden. Immer wieder erzittert es von den dumpfen Schlägen einer Ramme. Bara kommt aus der Küche gelaufen. Sie hält das Santoku in der Hand, ein Allzweckmesser mit einer breiten langen Klinge. Ihre Augen sind vor Schreck und Entschlossenheit weit. Der Geruch von Angebranntem weht hinter ihr her. Kuro, der getreue Dienstbote, hat den Schürhaken aus dem Feuer gezogen. Dessen Spitze glüht rot und er hält ihn wie ein Schwertkämpfer vor sich.
Während ich mein Gewand mithilfe des Gürtels hochbinde, wird draußen vor dem Tor gerufen:

„Öffnet das Tor oder wir brechen es auf!“

Die Schwertlanze lässt sich kaum im Innern des Hauses schwingen. Also muss ich vor das Haus treten. Ich schiebe die Eingangstür auf. Eisige Luft strömt herein. Das plötzliche Tageslicht blendet mich. Ich blinzele und trete hinaus auf den Platz zwischen Haus und Ummauerung. Vor dem Tor gehe ich in Stellung. Ich setze einen Fuß vor den anderen, den Schaft der Schwertlanze entschlossen haltend.

„Öffnet das Tor! Wir wissen, dass ihr da seid!“ ruft jemand.

Sandalen scharren draußen. An der Außenmauer sind kratzende Geräusche zu hören. Dann schaut ein Mann über die Mauer. Sein Atem kondensiert zu feinem Nebel in der kalten Luft.

„Niemand da! Nur zwei Mädchen und ein Dienstbote,“ ruft er nach unten.

Von der anderen Seite ertönt abfälliges Lachen.

Ich versuche mich zu beruhigen und atme tief durch. Danach richte ich die Spitze der Naginata auf den Mann, der inzwischen auf der Mauerkrone sitzt. Die Griffe der beiden Samurai-Schwerter ragen über seine Schulter. Zitternd rufe ich mir ins Gedächtnis, dass ich eine Samurai bin und das Haus verteidigen muss.

„Bleib, wo du bist!“ sage ich. „Ich weiß, wie man damit umgeht und werde die Lanze einsetzen, wenn du mir keine Wahl lässt.“

Der Mann zeigt mir ein höhnisches Grinsen, zieht sein Katana und springt in den Hof herab. Gleichzeitig wird das Tor wieder mit dumpfen Schlägen bearbeitet. Bevor der Mann seinen festen Stand findet, schwinge ich die Schwertlanze mit aller Kraft. Die Klinge fährt durch die Luft und entwickelt eine große Schwungkraft.

Bebend vor Entsetzen stolpere ich zurück, denn in der Brust des Mannes klafft ein langer Riss und Blut spritzt in hohem Bogen heraus. Eigentlich habe ich erwartet Widerstand zu spüren. Aber da ist keiner gewesen. Die Klinge ist mit solcher Leichtigkeit durch Fleisch und Knochen gefahren, als wäre es Wasser.

Der Mann fällt vornüber. Bara und Kuro laufen zu ihm und nehmen ihm das Katana -Langschwert- und das Wakizachi -Kurzschwert- ab. Weitere Männer erscheinen auf der Mauerkrone. Ich stoße mit der Lanze nach dem Nächsten, verdrehe die Klinge und ziehe sie zurück. Inzwischen sind die Anderen in den Hof gesprungen. Bara und Kuro verteidigen sich beidhändig mit den erbeuteten Waffen.

Bara erwischt den Mann, der sie bedrängt, am Oberschenkel. Der Mann stolpert zurück und hält sich sein Bein, während ich die Schwerthand des Mannes, der Kuro bedrängt, mit der Naginata -Schwertlanze- durchtrenne. Sofort schießt ein dicker Strahl Blut aus dem Stumpf hervor.

Immer mehr Männer klettern auf die Mauer.

„Schnell!“ rufe ich. „Wir müssen wieder hinein und das Haus verbarrikadieren!“

Wir ziehen uns zurück und verriegeln die Eingangstür.

„Die sind hinter Ihnen her, Okyaku-Sama -Herrin-! Sie müssen fort!“

„Und euch zurücklassen? Niemals!“ rufe ich aus, immer noch voller Adrenalin.

„Wir sind nur Dienstboten! Uns werden sie nichts tun. Wir bleiben hier und halten sie auf!“

Bara hält den Kopf schräg und hält den Finger an die Lippen. Draußen sind Schritte zu hören. Das Tor hat nicht mehr standgehalten. Die Männer sind im Hof. Mit wild klopfendem Herzen greife ich mir eine wattierte Jacke, schlinge mir einen Schal um den Kopf, und renne durch einen Raum nach dem Anderen. Am Hinterausgang greife ich mir ein bereitliegendes Bündel. Ein letztes Mal drehe ich mich um und präge mir das Bild ein. Ich werde wohl nie mehr zurückkehren.

Nun laufe ich durch den Park der Residenz zum Tor an der rückwärtigen Mauer. Ich drücke es auf und verschließe es hinter mir wieder. Dann laufe ich ein Stück die Mauer entlang und in eine schmale Gasse hinein. Keuchend renne ich weiter und wage nicht, stehen zu bleiben.

Erst als ich den Fluss erreiche, stoppe ich und atme tief durch. Die frostige Luft schmerzt in der Lunge. Ich taste nach dem im Obi -Gürtelschärpe- verborgenen Dolch und versuche mich zu erinnern, was mir mein Herr vor Monden gesagt hat. Die Fähre! Die Fähre wird mich übersetzen! Ich laufe den Treidelpfad gegen die Strömung entlang. Zunehmende Dunkelheit des fortschreitenden Abends umfängt mich.

Ich ziehe das Tuch noch ein wenig fester um den Kopf, auch wenn es meiner Frisur nicht gut bekommt. Heute Morgen hat mir Bara das letzte Mal geholfen, meine langen Haare im Marumage-Stil zu frisieren. Endlich erreiche ich die Brücke, die hier zum Stadttor führt und betrete sie. Mein Herz klopft. Am Tor steht bestimmt ein Wachposten. Ich habe in der Eile meine Papiere vergessen einzustecken.

Aber als ich das Tor am Ende der Brücke erreiche, ist es nicht bewacht. Einige Passanten gehen ungehindert hindurch. Also trete ich aus dem Schatten und passiere das Tor ebenfalls. Nun eile ich über den staubigen Platz vor dem Tor und schaue mich suchend um.

„Folge der Hauptstraße!“ hat mein Herr gesagt, bevor er in den Krieg gezogen ist.

Von hier gehen Straßen in alle Richtungen. Ich entscheide mich für die Breiteste. An den Rändern der Straße sind alle Läden vernagelt. Linker Hand soll sich ein Laden befinden, dessen Besitzer meinem Herrn verpflichtet ist. Dieser würde mir weiterhelfen. Ich versuche, die Beschriftungen zu lesen. Endlich entdecke ich den Laden, den mein Herr mir benannt hat.

Hier sieht es nicht anders aus, als in der Nachbarschaft. Ich sinke vor dem Geschäft entmutigt zu Boden und lehne mich gegen die Eingangstür. Erschrocken richte ich mich sitzend auf. Die Tür hat knarzend nachgegeben. Ich schlüpfe hinein und lege von innen den Riegel vor. Hier drin ist es stockfinster. Mit vorgestreckten Händen taste ich mich vorwärts und fühle bald eine Wand, an der ich mich entlang hangele bis ich eine Schiebetür erfühle.

Ich schiebe sie zur Seite, gehe hindurch und schließe sie wieder. Noch einmal orientiere ich mich tastend weiter und stoße mit dem Fuß gegen einen Futon. Als es jetzt raschelt, erschrecke ich zutiefst.
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Mo Jul 12, 2021 9:26 am

Eine Frauenstimme fragt: „Wer ist da?“

Ich gehe auf die Knie, verbeuge mich und antworte:
„Tanaka Kaede wa kochira -Tanaka Kaede ist hier-,“ flüstere ich verschüchtert.

„Was tust du hier?“ fragt die Frau.
Sie spricht in schnellem hohen Straßenjargon.

„Mein Herr -Okyaku-Sama- hat mir gesagt, hier würde man sich in der Not um mich kümmern,“ flüstere ich.

Mir ist kalt. Ich blase Atem in meine zu Fäusten geballten Hände.

„Alle sind fort,“ antwortet die Frau. „Das heißt, alle, die es sich leisten konnten. Das Geschäft wurde geschlossen.“

Angst steigt in mir hoch. Eine Frau sollte nicht alleine unterwegs sein. Warum weicht mein Gegenüber von der Regel ab?

„Warum sind Sie geblieben?“ frage ich sie.

„Mein Haigusha -Gatte- hat mir befohlen, auf das Haus zu achten, bis er aus dem Krieg wiederkehrt. Aber ich glaube langsam nicht mehr daran. – Eine junge Frau, die so gebildet spricht wie du, sollte nicht alleine sein, das ist gefährlich!“

„Mein Herr, der Daimyo von Kano hat mir das Gleiche aufgetragen. Aber Verbrecher sind eingebrochen. Ich konnte fliehen. Tanaka-Sama hat mich für den Notfall hierher geschickt. Der Herr des Hauses wäre ihm verpflichtet, hat er gesagt.“

„So…“ antwortet die Frau. „Ich bin übrigens Yamaguchi Aiko. Du hast Glück gehabt, dass du es bis hierher geschafft hast. Draußen wimmelt es von Gesindel und Ronin -herrenlosen Samurai-.“

„Ich bin mir so sicher gewesen, dass ich hier jemand finde, der mich aufnimmt,“ sage ich enttäuscht.

„Schlafe erst einmal. Morgen zeige ich dir einen Ort, wo du bleiben kannst. Dort ist es warm und sicher.“

„Wirklich?“

„Arbeit gibt es da auch. Du könntest Näherin werden, Wäscherin, Dienstbotin, oder Gesellschafterin. Du kannst sicher auch lesen und schreiben. Leute, wie du, werden dort immer gesucht.“

„Aber – wo ist dieser Ort?“

Ich werde allmählich unsicher.

„Du hast doch sicher von Nihonbashi Yoshicho gehört, dem Hanamachi -Blumenviertel-? Dir wird nichts anderes übrigbleiben, wenn du nicht untergehen willst! – Komm, leg dich zu mir auf den Futon und schlafe erst einmal.“

Das Yoshicho! Mein Atem stockt. Jeder weiß, was das ist – ein farbenprächtiger, lärmender Ort, wo die Lichter niemals ausgehen. Mit rauen Sitten und voll grell geschminkter Frauen. Im Hanamachi suchen die Männer Vergnügungen.

Entsetzt wedele ich mit der erhobenen Hand, was für uns Japaner eine Ablehnung bedeutet, und sage:
„Der Ort ist nicht gut! Ich muss darüber nachdenken.“

„Das ist der einzige Ort, an dem du sicher bist!“ beharrt sie. „Aber nun schlafe erst einmal!“

Scheu lege ich mich zu der Frau und klammere mich an meinem Bündel fest. Schlafen kann ich lange nicht.

*

Am nächsten Morgen liege ich alleine auf dem Futon. Stattdessen höre ich in einem angrenzenden Raum Küchenarbeitsgeräusche. Durch Ritzen in den vernagelten Fenstern dringt Tageslicht herein und zeichnet bleiche Streifen auf die Tatami-Matten. Lange liege ich noch wie gelähmt auf dem Futon, keines Gedankens fähig.

Schließlich kommt die Frau heran und stellt zwei Reisschalen und grünen Tee vor den Futon. Sie ist in den Seiza -Kniesitz- gegangen und schaut zu, wie ich mich nun rege. Ich rolle vom Futon herunter und gehe ebenfalls in den Seiza.

„Ohayo gozaimasu -Guten Morgen-, Tanaka-San,“ wünscht sie mir.

„Ohayo gozaimasu, Yamaguchi-San,“ antworte ich und verbeuge mich leicht. „Subete ni kasha shimasu -Vielen Dank für alles-.“

„Du musst dir etwas einfaches anziehen!“ meint sie nun. „Deinen Kimono darfst du gerne in deinem Bündel mitnehmen. Auch brauchst du Zori -Grassandalen-, damit du draußen nicht auffällst.“

Sie zeigt mir, was sie meint. Nachdem ich meine Schminke abgewaschen und mein Haar zu einem dicken Zopf geflochten habe, sehe ich aus wie eine Dienstbotin.

„Gut,“ meint sie nun. „So fällst du draußen auf der Straße nicht auf.“

„Wo gehen wir hin?“ frage ich neugierig.

„Wir müssen durch einige schmale Gassen. Du scheinst eine Samurai zu sein. Da dürfte das kein Problem sein, denke ich.“

Kurze Zeit darauf verlassen wir das Haus kriechend durch einen niedrigen Nebeneingang. So ist Yamaguchi-San sicher, dass niemand in der Zwischenzeit das Haus betritt. Mein Herr, der Daimyo, hat früher oft damit geprahlt, wie beliebt er bei den Frauen dort gewesen ist. Nun werde ich selbst bald dort sein. Mein Herz klopft.

Irgendwie zieht mich das Yoshicho magisch an und lässt meine Schritte schneller werden. Der eisige Wind, der durch die Hauptstraße fegt, ist in den Gassen erträglicher. Steinchen drücken sich durch meine Zori. Ich folge Yamaguchi-San. Schließlich erreichen wir eine Brücke, die einen Graben überspannt. An deren anderen Ende ragt ein großes Tor auf, aus dem in diesem Moment ein Mann heraustritt und uns den Weg versperrt.

Er blickt grimmig auf uns herab, doch Yamaguchi-San zückt ein Papier und wedelt damit vor ihm herum. Gleichzeitig steckt sie ihm ein paar Münzen zu. Nun grinst er breit, zwinkert und sagt:

„Irasshaimaseee, Okyaku-Sama -Willkommen, meine Damen-! Amüsieren Sie sich gut.“

Wir betreten das Yoshicho. Ich halte den Blick gesenkt, nur darauf bedacht, den Anschluss zu Yamaguchi-San nicht zu verlieren. Menschen drängen sich vorbei. Kleidung aus Seide streift meine Hände. Unter Kimonos schauen winzige Füße in Getas mit Satinbändern hervor. Hölzerne Sandalen klappern vorbei.

Ich nehme süße Düfte wahr. Dann nehme ich die Aromen exotischer gebratener Speisen wahr. Neugierig schaue ich auf und reiße erstaunt die Augen auf. Edo liegt zerstört und verlassen da, doch hier pulsiert das Leben! Samurai mit schimmernd geölten Haarknoten stolzieren neben Kaufleuten in Seide einher. Händler drängen sich mit ihren Handkarren hindurch und Dienstboten huschen von einer Straßenseite zur Anderen. Verzaubert von dem Anblick verharre ich im Schritt. Da zieht mich Yamaguchi-San in eine dunkle Gasse und durch eine offene Tür.

Eine Dienerin kommt uns entgegen, heißt uns willkommen und schüttet etwas Wasser aus einem Krug in eine Schüssel, damit wir uns die Füße waschen können. Yamaguchi-San führt mich über die schmale Veranda außen an vielen Zimmern vorbei, hinter deren Regentüren Musik und Gelächter zu hören ist, und schiebt dann eine der Türen auf.

Mein Blick erreicht eine Frau, die im Seiza an einem niedrigen Tisch sitzt und im Licht einer Öllampe Einträge in einem Kontobuch macht. Sie trägt einen schlichten schwarzen Kimono, gegürtet mit einem grünbraunen Obi. Ihr Haar hat sie zu einem schlichten Knoten hochgebunden. Außerdem steht ein Kännchen und eine Tasse auf dem Tisch. Daneben liegt ein langes Mundstück, in deren Spitze eine Zigarette steckt.

Sie schaut auf und wendet sich zu uns. Ich habe den Eindruck, dass sie mich durchdringend mustert. Ihre Haltung beweist solchen Stolz und Dominanz, dass ich am liebsten im Boden versinken möchte. Yamaguchi-San geht auf die Knie und zieht mich mit herunter. Anschließend verbeugt sie sich tief. Automatisch mache ich die Bewegung mit.

„Gomeiwaku o okake shi moshiwakegozaimasen -Entschuldigen Sie vielmals die Störung-,“ flüstert Yamaguchi-San.

„Nicht du schon wieder!“ stellt die Frau fest. „Dauernd bringst du mir Frauen, die doch nur essen und schlafen. Wenn du mir wenigstens ein Kind bringen würdest, dass man ausbilden kann. Dann könnten wir miteinander ins Geschäft kommen. Aber eine Erwachsene? Die machen mehr Ärger als sie wert sind!“

Damit wendet sie sich wieder ihrem Kontobuch zu und greift zum Pinsel. Dieses Verhalten weckt Zorn in mir. Ich komme aus der Verbeugung hoch und entgegne ihr hitzig, ohne auf etwaige Konsequenzen zu achten:

„Ich bin vielleicht dreckig, aber ich habe eine Ausbildung erhalten! Ich stamme aus einer guten Familie und kann lesen und schreiben. Ich hatte vor, hier um eine Zuflucht zu bitten. Wenn Sie mir keine Arbeit anbieten können, die mich nicht entehrt, werde ich gehen und mein Glück in einem anderen Haus versuchen!“

Die Frau starrt mich sprachlos an. Nach einer Gedankenpause sagt sie in erstauntem Ton:
„Sie hat ja eine Stimme! Und Schneid hat sie auch!“

Die Frau beugt sich vor und fasst in mein Haar.

„Gutes Haar!“ kommentiert sie ihr Tun. „Gut und schwarz! Natürlich ist sie keine klassische Schönheit.“
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Mi Jul 14, 2021 9:29 am

„So eine bekommen Sie nicht wieder,“ sagt Yamaguchi-San. Ihre Stimme klingt jetzt hart und geschäftsmäßig. „Bei einem Kind weiß man nicht, wie es sich entwickelt. Bei einer Erwachsenen weiß man, was man bekommt. Ich möchte Ihnen nicht widersprechen, Tantchen, aber Sie sehen ja selbst. Sie ist eine Schönheit!“

„Ihr Dialekt… Singen und tanzen kann jede, aber lesen und schreiben. Das sind seltene Fähigkeiten! Lass uns etwas sehen, Mädchen! Komm rüber, gib uns ein Beispiel.“

Yamaguchi-San hat sich erhoben.

„Ich werde woanders hingehen,“ eröffnet sie der Oka-San -Mutter des Geisha-Hauses-. „Sie ist ein hervorragendes Mädchen! Mit Leichtigkeit finde ich jemand anders für sie.“

„Reden wir draußen,“ antwortet die Oka-San.

Yamaguchi-San und die Oka-San verlassen das Zimmer und schieben die Regentür zu.
Ich knie auf der Matte und lausche auf die Geräusche um mich herum. Gesang ist zu hören, das Klimpern von Shamisen, Gelächter. Alles ist gedämpft durch die Wände. Nach einer ganzen Weile wird eine der Türen ins Innere des Hauses aufgeschoben. Eine Frau mit einer kunstvollen Marumage-Frisur und weiß geschminktem Gesicht mit kirschroten Lippen tritt herein. Die Schminke verwandelt sie in eine geheimnisvolle Erscheinung, wie ein Wesen aus einer anderen Welt.

Sie nimmt mich ohne Umschweife am Ellbogen und führt mich in einen Korridor hinein, vorbei an papierbespannten Schiebetüren. Durch deren Spalten erhasche ich flüchtige Blicke auf Festlichkeiten. Ich höre Gesang und Tanzschritte, nehme Gerüche wahr, bei denen mir die Spucke im Mund zusammenläuft.

Eine Gruppe junger Frauen in prächtigen Kimonos kommt auf uns zu. Ihre weißgeschminkten Gesichter leuchten im Licht der Lampen. Sie streifen mich ohne mich wirklich wahrzunehmen. Plötzlich schäme ich mich für mein schmutziges Gewand. Dann ist die Gruppe schnatternd um eine Ecke verschwunden.

Meine Führerin strebt auf eine Treppe zu. Wir klettern die knarzenden Stufen hinauf und betreten ein Zimmer. Nun wendet sie sich mir zu.

„Mein Name ist Mamiko. Das ist nicht mein richtiger Name, sondern ein Künstlername. Wir Geishas sind lebende Kunstwerke. Du wirst bald eine von uns werden und deine frühere Identität hinter dir lassen!
Ich bin die One-San -Lehrerin/Mentorin-. Du wirst tun, was ich sage! Dann meistern wir diese schwierige Zeit.“

„Hai, rippana One-San -Ja, ehrenwerte Mentorin,“ antworte ich. „Wo bin ich hier? Was ist das für ein Haus?“

„Es ist ein Okiya -Geisha-Haus-,“ antwortet sie. „Du sprichst wie eine Samurai. Du musst von deinem hohen Sockel herunterkommen! Du kannst vor Glück sagen, dass du hier bist. Dies ist ein gutes Haus.“

*

Zweiter Mond im Jahr der Schlange, Meiji

Vier Monde sind inzwischen vergangen. Die Sonne strahlt warm vom Himmel. Die Natur ist erwacht und hat Knospen und Blüten hervorgebracht. Die One-San bringt mir Tanzschritte bei und anderes. Das Sado -Teezeremonie- ist mir schon bekannt, aber die Bewegungen einer Geisha sind unterschiedlich.

Heute zeigt sie mir einen indigoblauen Kimono. Sie hebt einen Ärmel an, um mir das Muster vorzuführen.

„Seidenkrepp aus der Tenmei-Ära! Ist schon seit Generationen hier im Haus,“ erklärt sie.

Das erlesene Kleidungsstück besitzt Stickereien von Pflaumenzweigen, an denen Blüten sprießen. Sie sehen so naturgetreu aus, als wären sie echt. Die One-San reicht mir das Gewand, das zusammengelegt in einer flachen geflochtenen Kiste gelegen hat. Ich spüre das Gewicht des Gewandes mit einem Futter, das aus Saum und Ärmeln hervorblitzt. Nie zuvor habe ich ein solch verschwenderisches Gewand gesehen. Abgesehen von meinem geliebten Hochzeitsgewand habe ich immer Baumwollkimonos angezogen gehabt, die natürlich auch wunderschöne Muster tragen.

Ich helfe der One-San, sich zu schminken und ihre Frisur zu richten, ein paar widerspenstige Strähnen an ihren Platz zu bringen. Anschließend helfe ich ihr in den Kimono und unten am Eingang in die glänzend schwarzen, eine Handbreit hohen Getas -Holzsandalen-. Ich öffne den Schirm und halte ihm über uns. So gehen wir über die Gassen in ein nahes Ryotai -Restaurant-, wo die One-San für eine Tanzvorführung gebucht worden ist, für das der Offizier dort ein kleines Vermögen zahlt.

Ich soll mich derweil im Hintergrund halten und schauen, hat die One-San mir eingeschärft. Ein Hauch von Sandelholz und Ambra umweht uns. Im Restaurant halte ich mich vorwiegend im Schatten, den die Öllampen lassen, um den männlichen Gästen nicht aufzufallen. Von meinem Platz folge ich der Vorführung der One-San und präge mir die Bewegungsfolgen ein. Später verbeugt sich die One-San und strebt in kleinen Trippelschritten dem Ausgang zu, nachdem ein Mann ihr einen Umschlag überreicht hat.

Ich gehe an der Wand entlang und treffe die One-San, als sie vor das Ryotai -Restaurant- tritt. Wieder öffne ich den Schirm und geleite sie in das Okiya zurück. Die Oka-San -Mutter- des Okiya erhält den Umschlag und die One-San erklimmt mit mir die hölzerne Treppe mit den knarzenden Stufen zu ihrem Zimmer. Wenig später, während die One-San sich abschminkt, klopft eine junge Dienstbotin und überreicht mir den Umschlag, um ihn weiterzugeben.

Die One-San hat Tee aufgesetzt. Nun sitzen wir uns im Seiza gegenüber. Sie hebt ihre Tasse an, hält eine Hand darunter und führt die Tasse zu ihrem Mund. Während sie mich über den Tassenrand anschaut, erzählt sie:

„Als ich hierhergekommen bin, war ich noch ein kleines Mädchen. Meine Eltern waren arm und ich war hübsch. Ich habe mit der Zeit alles gelernt, was eine Geisha wissen muss. Von Zeit zu Zeit besuche ich sie und gebe ihnen Geld. Inzwischen geht es ihnen gut. Sie haben ein schönes Haus und ein großes Reisfeld. Meine Geschwister sind gut verheiratet worden, und das verdanken sie mir. Du siehst also, ich bin eine gute Tochter und erfülle ihnen gegenüber meine Pflicht.“

Ich will entgegnen, dass das bei mir anders sei. Ich bin keine Bäuerin, sondern eine Samurai. Doch da fällt mir ein, dass sich durch den Krieg alles geändert hat. Eltern und Schwiegereltern sind tot und mein Herr, der Daimyo, ist im Krieg.

„Auch ich habe eine One-San an die Seite bekommen, die mir alles beigebracht hat.“

Sie macht eine Pause und neigt den Kopf schräg.

„Und wie ist das jetzt mit dem Schreiben?“ fragt sie. „Mutter -Oka-San- sagte, du hättest damit geprahlt.“

Ich will schon aufbegehren, besinne mich aber und antworte demütig:
„Um die Wahrheit zu sagen, ich kann schreiben. Ein bisschen jedenfalls.“

„Kannst du einen Liebesbrief schreiben?“ fragt die One-San lauernd.

„Einen Liebesbrief?“

Einen Moment bin ich ratlos. Dann fallen mir die Gedichte aus dem Buch ein, das ich zuletzt bei Kerzenschein in der Residenz gelesen habe. Ich kenne es fast auswendig. Pinsel und Papier liegen auf der Tatami-Matte neben dem Tisch. Auch ein Tuscheriegel liegt daneben. Ich denke nach, während ich mit dem Tuscheriegel über den bereitliegenden Reibstein fahre.

„Wie wäre es damit?“ frage ich.
„‚Werde ich heute Nacht
Ganz alleine schlafen müssen
Auf meiner schmalen Matte
Ohne den Mann wiederzusehen
Nach dem ich mich verzehre?‘“

„Du meine Güte!“ meint die One-San mit sarkastischem Ton. „Ein Mädchen mit klassischer Bildung! Das ist ein bisschen zu schwülstig für Danno. Schreib lieber solches:
‚Ich träumte von dir gestern Nacht.
Als ich erwachte, warst du fort
  Und jetzt ist mein Kissen nass vor Tränen.
Ich sehne mich danach, dich wiederzusehen‘.“

Ich lege mir das Papier auf dem Tisch zurecht, greife nach dem Pinsel und setze die Zeichen sorgfältig. Anschließend drehe ich den Bogen und reiche ihn der One-San beidhändig. Wenn ich recht überlege, ist der Brief sicher eine Prüfung gewesen. Eine Prüfung, bei der ich nicht schlecht abgeschnitten habe. Sicher erfährt die Mutter bald darauf davon.

*

Vier weitere Monde sind ins Land gegangen. Die One-San ist sehr streng mit mir im Training. Oft genug falle ich spät abends vor Erschöpfung in tiefen Schlaf. Eines Nachmittags, sie hat gerade ein Bad genommen und sitzt nun im Seiza vor dem dreiteiligen Spiegel, als sie sagt:

„Wir werden dich für heute Abend zurechtmachen.“

Ich bin schon seit jungen Jahren daran gewöhnt, mein Haar selbst in Form zu bringen. Ich habe geübt bis mir die Arme weh getan haben, das Haar in Partien unterteilt, sie einzeln hochgeschlagen, vor und zurück, und sie dann mit farbigen Bändern befestigt. Zum Schluss dann die steife Haarrolle am Hinterkopf.
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Fr Jul 16, 2021 9:38 am

Jetzt sitze auch ich im Seiza vor dem Spiegel und die One-San legt Hand an. Mit einem feinzinkigen Kamm macht sie sich ans Werk. Bald laufen mir Tränen über die Wangen. Sie erhitzt eine Stange Wachs und arbeitet es in mein Haar ein bis sich mein langes Haar in ein aufgetürmtes Gebilde aus Schlaufen und Rollen verwandelt hat, glatt und schimmernd wie polierter Lack. Vorsichtig hebe ich die Hand. Mein Haar fühlt sich steif und leicht klebrig an.

Die One-San legt mir kurz ihre Hände auf die Schultern.

„Hier,“ sagt sie. „Ein Amulett. Stecke es dir hinten ins Haar, wenn wir das Okiya verlassen. Aber lass‘ es die Mutter nicht sehen! Es schützt dich davor, ausgewählt zu werden.“

Nun nimmt sie ein kleines Stück Wachs und knetet es zwischen den Fingern. Sie reibt damit mein Gesicht, Hals und Nacken ab. Anschließend schminkt sie die Hautpartien hell, aber nicht so grellweiß wie ihr eigenes Gesicht. Danach schwärzt sie meine Augenbrauen und färbt mit einem Pinsel meine Unterlippe leuchtend rot.

„Steh auf,“ höre ich nun.

Ich erhebe mich und muss mich bis auf die Unterkleidung ausziehen. Nun bindet mir die One-San einen Unterrock aus scharlachrotem Seidenkrepp um. Dann hilft sie mir in eine weiße Unterbluse mit rotem Kragen und langen roten Ärmeln. Jetzt folgt ein bestickter rosa Kimono mit langen Ärmeln und gestepptem Saum. Endlich kommt der Obi aus vier Meter langem Brokat. Sie zieht und zerrt bis der Obi so eng sitzt, dass ich kaum noch atmen kann und bindet dann den Knoten im Rücken.

Mein Blick sucht den Spiegel. Der Anblick übt eine gewisse Faszination auf mich aus.

„Jetzt heb‘ deinen Rock mit der linken Hand und geh‘ ein paar Schritte!“ fordert mich die One-San auf.

Sie nickt lächelnd, als ich im Zimmer auf und ab gehe.

„Mehr brauchst du heute Abend nicht zu machen,“ meint sie. „Gehen und dann sitzen. Konzentriere dich darauf, das so gut wie möglich zu tun. Fließende Bewegungen, wie du es gelernt hast. Du brauchst nicht sprechen! Das übernehme ich. Beobachte und höre zu. Das ist alles!“

Es beginnt zu dämmern und eine Glocke läutet die Stunde des Huhns (17 bis 19 Uhr) ein. Die One-San erhebt sich würdevoll. In ihrer Aufmachung gleicht sie einem Wesen aus einer anderen Welt. Die Tür zum Korridor wird beiseite geschoben. Oka-San steht uns gegenüber. Sofort gehen wir beide in die Knie und beugen den Oberkörper tief herunter. Sie kommt direkt auf mich zu und befiehlt:

„Steh‘ auf!“

Sie zupft an meinem Kimono und dem Obi herum, steckt eine Haarsträhne fest und wirbelt mich herum. Nun tastet sie nach dem Amulett. Eben erst habe ich es mir hinten ins Haar gesteckt. Ich erschrecke, aber die Mutter zeigt nur ein wissendes Lächeln.

„Mit ihr warten wir noch ein Weilchen!“ bestimmt sie.

Die One-San verbeugt sich und nickt.

„Schauen wir einmal, was für Angebote hereinkommen,“ meint sie.

„Komm,“ fordert mich die Mutter auf. „Es wird Zeit, dass dich die Welt sieht!“

Die Oka-San macht einen Schritt zur Seite und die One-San tritt hinaus auf den Korridor. Ich folge ihr einen halben Schritt dahinter. Den Abschluss bildet die Mutter, die auch noch die Tür zu Mamiko-Sans Zimmer zuzieht.

Wir gehen langsam die Treppe hinunter zu den Räumen, aus denen uns Musik, Gesang und Gelächter entgegenschallt. Der Korridor ist vom Rascheln der Seiden-Kimonos und von Parfümwolken erfüllt. Dann öffnen Dienstboten die beiden Flügel einer Doppeltür und verbeugen sich tief. Ich rieche Staub, Gebratenes und Rauch. Wir betreten die Straße.

Mit den Händen an meiner Taille lenkt die One-San mich vorwärts. Plötzlich stürzt eine junge Frau aus dem Haus, bei dem wir gerade angekommen sind.

„Kikka Ochaya e yokoso -Willkommen im Chrysanthemen-Teehaus-! Treten Sie ein! Treten Sie ein!“

Die One-San verneigt sich und lächelt die Frau an. Ich mache es der One-San gleich. Wir wenden unsere Schritte auf den Eingang des Hauses zu. Die junge Frau öffnet uns und verbeugt sich tief bei unserem Eintreten.

„Das Chrysanthemen-Teehaus ist das beste in Yoshicho,“ erklärt die junge Frau, die uns eingeladen hat.

Sie führt uns an einen Tisch und lässt uns kurz allein. Kurz darauf kommt sie mit einem Tablett, auf dem sich zwei Kännchen Tee und zwei Tassen befinden. Sie platziert den Tee vor uns und zieht sich rückwärtsgehend unter vielen Verbeugungen zurück.

„Die Teehäuser sind sehr wichtig,“ erklärt mir die One-San. „Hier lernt man die Männer kennen. Die Männer kommen, um den Tanzvorführungen der Geishas zuzuschauen, oder sich mit ihnen zu unterhalten. Eine geistreiche Konversation zu führen, ist sehr wichtig! Manche Männer kommen immer nur wegen ein und derselben Geisha, anderen ist es egal wer sie unterhält. Die Besitzer der Teehäuser können auch Männer empfehlen, denn sie kennen ihre Stammkunden genau.“

Ich höre ihr sprachlos zu. Sie redet weiter:

„Die Besitzerin des Chrysanthemen-Teehauses war einmal die berühmteste Geisha dieses Bezirks. Als sie sich in ihrem Okiya freikaufen konnte, hat ihr Gönner ihr dieses Teehaus eingerichtet. Es ist jetzt das Beliebteste am Platz. Es hat die besten Kunden und die besten Verbindungen.“

In diesem Moment nähert sich die junge Frau von vorhin vorsichtig, als würde sie sich anschleichen und flüstert der One-San etwas zu. Sie nickt und erhebt sich. Dann lässt sie sich von der jungen Frau an einen Tisch in der Nähe führen. Ich folge den Beiden.

An diesem Tisch sitzen zwei Männer in Kaufmannskleidung. Die Frau nickt ihnen zu und verschwindet wieder. Die One-San geht auf die Knie und verbeugt sich tief. Ich ahme sie nach und wir wünschen im Chor:

„Konbanwa -Guten Abend-!“

Die beiden Männer wenden ihre Köpfe zu uns.

„Ah, Mamiko-San!“ sagt der Ältere und nickt uns zu. „Du hast heute jemand mitgebracht?“

„Ja, Tanaka-Sama. Das ist meine Imoto -jüngere Schwester- Moe-San -Knospe-. Sie lernt noch.“

Die One-San greift zu dem Sake-Krug und füllt die Becher der beiden Männer nach.

Dann stellt sie zwei Becher nebeneinander, legt zwei Essstäbchen quer darüber und platziert einen weiteren Becher auf das Arrangement. Der ältere Mann lächelt und fragt seinen Begleiter:

„Haben Sie schon einmal das ‚Konpira Fune Fune‘ gespielt?“

Dieser hebt die rechte Hand und wedelt damit in der Luft, während er unsicher lächelt.

„Dann führen wir es Ihnen einmal langsam vor,“ meint der ältere Mann. „Danach versuchen Sie es einmal in normaler Geschwindigkeit.“

„Hai -Ja-,“ bestätigt der andere Mann.

Der Wortführer wechselt nun seinen Platz und setzt sich gegenüber der One-San an den Tisch. Nun stimmt die One-San das Lied ‚Konpira Fune Fune‘ an. Sie singt in einem langsamen Rhythmus, als müsse sie sich die Worte in Erinnerung rufen. Während der ältere Herr seine Hände flach aufeinander legt, ballt die One-San die Hand zur Faust, die sie auf ihre andere Hand legt.

Dann nimmt sie den oberen Becher weg und stellt ihn wieder zurück. Wenn der Becher an seinem Platz steht, sobald man an der Reihe ist, muss der Spieler ihn mit der flachen Hand berühren. Wenn der Becher nicht an seinem Platz steht, wenn man an der Reihe ist, weil die One-San ihn schnell weggezogen hat, muss der Spieler den Tisch mit der Faust berühren. Wenn man das nicht macht, verliert man das Spiel und muss einen Schluck Sake trinken. So kann das Spiel zwischen der Maiko oder Geisha und ihren Kunden als Eisbrecher gespielt werden. Die Stimmung wird gelöster. Wenn die Essstäbchen herunterfallen, baue ich das Spiel geschwind neu auf.

Die Hand des älteren Herrn ist im falschen Augenblick vorgezuckt. Nun lacht er und trinkt einen Schluck Sake. Beim nächsten Versuch hat er den Becher abgehoben, während die One-San sich nicht bewegt hat. So geht es mit wechselndem Glück hin und her. Die One-San hat eine gute Reaktion. Gegen Ende wird das Spiel rasanter.

Dann ist der Begleiter des älteren Herrn an der Reihe. Auch jetzt beginnt das Spiel langsam und gewinnt schnell an Geschwindigkeit. Sicher ist es die One-San leid, das Lied das den Rhythmus vorgibt, nicht in der normalen Geschwindigkeit zu singen. Die Laune am Tisch steigt, je mehr Sake fließt. Ich habe das Nachfüllen der Becher übernommen.

Bald summe ich das Lied mit:
„Konpira Funefune -Konpira-Boot-Boot-
Oite ni hokakete -Hisse das Segel auf dem Schiff-
Shura shu shu shu -La, La, La, La-
Mawareba Shikoku ha -um Shikoku herumfahren-
Sanshuu Nakanogori -alter Präfekturname-
Zouzusan Konpira Daigonken -Zouzu-Berg Konpira-Schrein Daigongen-Gottheit-
Ichido mawareba -Geh noch einmal herum-“

Zum Schluss ist der Begleiter des älteren Herrn wesentlich lustiger. Bevor die Emotionen eskalieren können, verbeugt sich die One-San tief und sagt:

„Mata ne -Auf Wiedersehen-. Es tut mir leid, Okyaku-Sama -meine Herren-, aber wir müssen leider gehen.“

Ich habe die One-San beobachtet und mich darum synchron mit ihr verbeugt. Die One-San geht zum Tresen und erhält dort nach kurzer Wartezeit einen Umschlag, den sie sich in ihren Kimono steckt. Danach verlassen wir das Ochaya -Teehaus- und gehen zur Okiya -Geisha-Haus- wieder zurück. Dort gibt sie den Umschlag an die Oka-San weiter. Auch diesmal klopft kurze Zeit später eine junge Dienstbotin an die Tür und reicht heute zwei Umschläge herein. In meinem Umschlag steckt eine Lederschnur, auf dem ein Oban aufgefädelt ist. Ich verstecke das Geld sofort in meinem Bündel.

*
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1So Jul 18, 2021 5:39 pm

„Du hattest einen Ehemann? Hast du dich je mit ihm niedergelegt?“

Die One-San fragt unvermittelt in einer Trainingspause, die wir bei Tee im Seiza an einem Tisch verbringen. Ich wiege meinen Oberkörper unbehaglich hin und her, schlage die Augen nieder und flüstere:

„Ich… Ich kannte ihn kaum, bevor er in den Krieg musste. Alles, was er je zu mir sagte, war ‚Lass mein Bad ein‘, ‚Bring mir Tee‘.“

Vor meinem inneren Auge entsteht das Bild von ihm. Sein düsteres, verärgertes Gesicht. Wie er kommandiert: ‚Tee!‘, ‚Bad!‘, ‚Essen!‘, ‚Was? Noch nichts bereit?‘ Ich erinnere mich an den Geruch seiner Haarpommade und wie mir ständig Angst wurde, wenn ich einen Hauch davon in die Nase bekommen habe. In seinem Haus bin ich nur eine bessere Dienstbotin gewesen.

„Er hat nicht viel für mich übriggehabt,“ flüstere ich, mit Wasser in den Augen.

„Meiner schon.“

Die One-San nimmt eine Haarspange aus ihrem Haar und streichelt sie zärtlich. Ich bin verblüfft, bei ihr Gefühle zu sehen. Die One-San hält sonst seelischen Abstand zu den Männern. Einmal hat sie mir gesagt:

„Eine Geisha will nichts, fühlt nichts. Sie ist eine Künstlerin der dahinströmenden Welt. Sie tanzt und singt, sie unterhält die Männer, wie sie es mögen. Der Rest ist Schatten, ist Geheimnis.“

Nie lässt sie jemand in ihr Innerstes blicken.

„Ihr Ehemann, ehrenwerte One-San?“ platzt es aus mir heraus, um sogleich zu wissen, wie töricht diese Frage ist.

Meine Mentorin lächelt und wedelt mit der erhobenen Hand.

„Mein Danna -Gönner-!“ korrigiert sie mich.

Ich hebe den Kopf bestätigend an und seufze tief. Mir fallen die Geschichten über die Kurtisanen reicher Männer ein, die ich bewundert habe, ihre Liebesaffären, ihre Mode und Haarstile. Ich denke an meinen Lieblingsroman, der sich mit meinen Kimonos in meinem Bündel befindet, an diese Welt heftiger Gefühle, und wie ich mich früher danach gesehnt habe.

„Zur Ehefrau bist du bestimmt nicht geschaffen,“ sagt die One-San nun.

Sie hat sich wieder gefangen. Ihre Stimme klingt wieder beherrscht.

„Das habe ich gleich bei unserem ersten Zusammentreffen gespürt,“ redet sie weiter. „Du siehst wie ein zahmes Kätzchen aus, aber du hast Krallen, die du ausfahren kannst, wenn es nötig ist. Genau wie ich. Das wird dich zu einer guten Geisha machen!“

Nach einer Gedankenpause meint sie:
„Einer unserer Kunden kann irgendwann den Wunsch äußern, dein Danna -Gönner- zu werden. Gehst du darauf ein, hast du von diesem Moment an einen Freund, der dich unterstützt. Die fleischliche Liebe, der Sex, bleibt außenvor. Vielleicht bleibt aus Zeitgründen auch gar keine andere Möglichkeit. Es kann passieren, dass er dich freikauft. Vielleicht richtet er dir auch ein Geschäft ein, von dem du leben kannst.“

„So wie das Chrysanthemen-Teehaus?“ frage ich.

Die One-San nickt und bestätigt:
„So wie das Chrysanthemen-Teehaus! Aber auch andere Selbständige waren früher einmal berühmte Geishas mit einem vermögenden Gönner. Überlege dir, was du gut kannst. Das übe dann später gegen Geld aus.“

Mir kommt spontan eine Schreibstube in den Sinn. Aber dazu muss ich zuerst einmal einen Danna finden, der sich um mich kümmert, meine Schulden bei der Oka-San begleicht und mir anschließend ein Geschäft einrichtet.

„Wenn man sich zu seinem Gönner legt, was geschieht dann?“ frage ich.

„Du warst doch schon einmal eine Ehefrau!“ hält mir die One-San vor. „Also kannst du dir diese Frage auch selbst beantworten. Wenn die Geisha ihren Gönner heiratet, gibt es kein Zurück mehr!
In wieweit sich die Geisha auf die fleischliche Liebe zu ihrem Gönner einlässt… Das ist ein Tanz auf des Messers Schneide, Moe-San! Überlege dir so etwas gut.“

„Sie reden mit den Männern, scherzen und entfernen sich danach wieder. So wie in dem Teehaus, wohin Sie mich mitgenommen haben. Sie tanzen, singen, rezitieren Gedichte, bedanken sich und verschwinden hinter einem Vorhang, One-San. Wie machen das die Männer mit?“

„Die Männer wollen ihren Jadeschaft zwischen die Saiten der Laute schieben. Sie verzehren sich nach der Geisha. Aber eigentlich wollen sie nur träumen. Sie möchten sich jung und begehrenswert fühlen, ganz gleich wie alt und hässlich sie in Wirklichkeit sind. Sie möchten glauben, dass sie geistreich und witzig sind. Sie möchten Sehnsucht nach ihnen in deinen Augen sehen. Wenn du einem Mann dieses Gefühl gibst, ist er für immer dein! Auch wenn er seinen Jadeschaft selbst in die Hand nehmen muss.“

*

Schritte nähern sich dem Zimmer der One-San. Als die Tür zur Seite geschoben wird, sinken die One-San und ich auf die Knie, die Nase auf den Boden gedrückt.

Die Mutter steht in der Tür. Sie sagt:
„Es wird allmählich Zeit, Moe-San, dass du richtig Geld verdienst! Die Geschäfte gehen schlecht.“

Die One-San setzt sich auf ihre Fersen zurück. Ihr Gesicht nimmt eine trotzige Miene an.
„Moe-San ist mein Schützling! Sie haben sie in meine Obhut gegeben und ich habe gerade erst so richtig mit der Ausbildung begonnen, nachdem sie sich bisher eingewöhnen konnte. Wir können mit den Teehäusern ein viel höheres Entgelt vereinbaren, wenn wir noch eine Weile warten. Außerdem haben wir schon mit dem besten Teehaus des Hanamachi Kontakt aufgenommen!“

Ich habe den Eindruck, dass ich mit der One-San an meiner Seite jedem entgegentreten kann. Selbst Mutter! Daran denkend, was die One-San mir über die Männer erzählt hat, die träumen wollen, sage ich aus meiner Position am Boden heraus:

„Lassen Sie mich die Herren unterhalten! Lassen Sie mich mit ihnen trinken und reden, für sie tanzen, singen, musizieren und die Teezeremonie durchführen. Ich kann den Männern das Gefühl vermitteln, dass ich sie wirklich kennenlernen möchte. Sollte ich mich dazu entschließen, mit Einem das Kissen zu teilen, wird er sich viel eher als etwas Besonderes fühlen. Wenn ihnen das nicht gleich beim ersten Mal möglich ist, werden sie immer wiederkommen und für Umsatz sorgen!“

„Du hast Temperament!“ Die Stimme der Oka-San hört sich bewundernd an. „Mit noch ein bisschen Übung könntest du tatsächlich die berühmteste Geisha Nihons -Japans- werden. Dann werden wir einen hervorragenden Gönner für sie finden, der ein Vermögen für sie bezahlen wird. Mamiko-San, du hast freie Hand! Aber das darf nicht mehr zu lange dauern!“

Ich nicke, dankbar für die Galgenfrist. In den nächsten Monden begleite ich die One-San zu ihren Verabredungen in verschiedene Ochaya -Teehäuser- des Hanamachi -Blumenviertel- Yoshicho und achte darauf, wie sie mit den Männern umgeht. Oft hat sie drei oder vier Termine hintereinander und wir sind erst um Mitternacht im Okiya zurück.

*

Neunter Mond im Jahr der Schlange, Meiji

Ich bin perfekt geschminkt, von der kirschroten Unterlippe bis zu dem weiß gepuderten Gesicht und Händen. Mein Haar ist geölt, aufgepolstert, zu einer kunstvollen Marumage-Frisur gebunden worden und mit seidenen Quasten behängt. Da hinein habe ich Haarnadeln und -kämme mit Schildpatt und Perlmuttornamenten gesteckt bekommen.

Meine Füße stecken in weißen Socken, bei denen der große Zeh separat steckt. So haben die Zehenriemen Halt. Die dazugehörigen Geta -hölzerne Zehensandalen- sehen aus wie glänzende schwarze Hufe und machen mich so groß, dass ich über fast alle Köpfe hinwegsehen kann. Probeweise hebe ich einen Fuß an. Bei dem Gewicht der Getas werde ich langsam und würdevoll schreiten müssen, wie es mir die One-San beigebracht hat.

Ich trage mehrere kostbare Kimonos übereinander. Darunter prickelt meine Haut vor Hitze. Aber etwas anderes beschäftigt mich mehr.

„Wird alles gut gehen?“ flüstere ich unsicher und werfe Mamiko-San, meiner One-San -Mentorin-, einen ängstlichen Blick zu.

Die One-San ist in ebenso prächtige Kimonos gehüllt wie ich.

„Ja, natürlich!“ ist sie überzeugt. „Konzentriere dich nur auf deine Schritte.“

Sie lächelt mir aufmunternd zu und ergänzt: „Mach einfach genau das, was ich dir beigebracht habe.“

Die Oka-San betritt das Zimmer und fragt nervös: „Was ist los?“

Auch sie trägt ihren besten Kimono, ein elegantes nachtblaues Seidengewand mit rotem Obi. Ihre Lippen sind nur ein roter Strich in dem kalkweißen Gesicht.

„Das Übliche vor einem solchen Auftritt,“ erwidert die One-San.

Die Oka-San lächelt milde und tätschelt sanft meinen Arm.
„Denk nicht an die vielen Menschen draußen, Kindchen,“ gurrt sie. „Konzentriere dich auf dich!“

Wir gehen Schritt für Schritt die knarzende Treppe hinab und durch den Korridor zum straßenseitigen Haupteingang. Zwei Dienstboten stehen dort und schieben die beiden Türflügel auf, während sie sich tief verbeugen.

Unterwegs sagt die Mutter, die direkt hinter mir geht:
„Vergiss nicht, lass dir Zeit! Halte den Kopf hoch. Lass sie zu dir aufschauen!“
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Di Jul 20, 2021 3:23 pm

Als wir auf die Hauptstraße vor die Okiya treten, höre ich schweres Atmen und Laute des Erstaunens. Die Männer starren mich verzückt an. Ich beobachte sie durch die Wimpern hindurch.

Draußen richte ich mich kerzengerade auf und sehe stur geradeaus. Jede Bewegung, jede Geste muss perfekt sein. Ich habe den speziellen Gang lange mit der One-San geübt. Das Gewicht der Getas darf nicht am Gang bemerkt werden. Jeder Schritt muss anmutig und verführerisch aussehen.

Ich kippe den rechten Fuß bis die Geta auf der vorderen Kante steht, bewege sie mit einem Stoß vorwärts und ziehe einen weiten Halbkreis durch den Staub. Die Röcke meiner Kimonos öffnen sich einen Spalt, zeigen den Zuschauern flüchtig meine schlanken Knöchel. Nun hole ich Luft, wiege mich anmutig vor und zurück und stoße mit dem Zurücknehmen der Schultern den linken Fuß in gleicher Art vor.

An meiner Seite bewegt sich die One-San in der gleichen Art und Weise. Zwei Dienstboten halten Sonnenschirme am langen Arm über unsere Köpfe. Vor uns teilt sich die Menge.

Ich atme die Luft ein, die für das Hanamachi so typisch ist. Aus der Menge höre ich ein Raunen:
„Das ist Moe-San! Moe-San! So schön wie ein Traum!“

Wir schreiten würdevoll daher. Unser Ziel ist das Kikka Ochaya -Chrysanthemen-Teehaus-. Normalerweise hätte ich den Weg in wenigen Minuten zurückgelegt, auch wenn die One-San mich stets durch die Gässchen abseits der Hauptstraße geführt hat. Heute brauche ich dafür eine ganze Stunde.

An der Tür des Chrysanthemen-Teehauses kniet die Besitzerin und ruft:
„Irasshaimaseeeeee -Willkommen!“

Ich lächele sie an. In den vergangenen Monden habe ich viele Feste in ihrem Teehaus besucht und Herren den Abend versüßt. Inzwischen bin ich mit ihr in Freundschaft verbunden.

Die Besitzerin führt uns einen Korridor entlang und schiebt eine Tür auf. Die One-San rauscht auf ihren flachen Sandalen an mir vorbei. Drinnen höre ich die One-San sagen:

„Okyaku-Sama -Meine Herren-, bitte heißen Sie unsere neue Geisha Moe-San willkommen!“

Mit gesenktem Blick schlüpfe ich hinein. Ich befinde mich hier in einem Festsaal. Viel goldene Dekoration umgibt mich, in der sich das Licht vieler Öllampen bricht. Männer sitzen mit gekreuzten Beinen an niedrigen Tischen voller Speisen und Sake-Krügen. Dienstboten wuseln zwischen ihnen umher.

In der Mitte sitzt der Mann, der für diese ganze Feier bezahlt. Seine Augen sind mit einem Ausdruck nackten Verlangens auf mich gerichtet. Ich lächele mein geheimnisvolles Lächeln.

Schon komisch, dass ich ihn viel besser kenne, als ich meinen Herrn und Ehemann jemals kennengelernt habe. Wir haben im Vorfeld beim Sake zusammengesessen und uns unterhalten. Er hat mir Komplimente gemacht, ist freundlich gewesen und hat mir Geschenke gemacht. Er gibt sich intelligent und ehrgeizig. Er hat im Teehaus immer gut gezahlt, so dass die Besitzerin meinen Anteil an ihrem Umsatz erhöht hat.

Nur eins macht mir Sorgen. Dieser Mann hat die Absicht, diese Nacht neben mir liegen zu wollen. Ich hoffe, mich an alles zu erinnern, was die One-San mir in Bezug auf Männer beigebracht hat.
Auch wir erhalten eine Schale voll Sake gereicht. Die One-San erhebt ihre Schale und sagt mit kindlicher Stimme:

„Rippana Okyaku-Sama -ehrenwerte Herren-, heute ist ein glückverheißender Tag! Trinken wir auf Haruyama-Sama, unseren großzügigen Gastgeber, und auf Moe-San, die neue Geisha!“

Die anwesenden Frauen und Männer heben ihre Schalen und leeren sie mit einem Schluck. Glückwunsche werden laut. Einer der Gäste erhebt sich und hält eine Rede darüber, wie sehr die militärischen Erfolge des Gastgebers verblassen, wenn man sie mit der Eroberung Moe-Sans vergleicht, der liebreizensten Geisha, die Yoshicho je gesehen hätte. Er redet weiter, unterbrochen von Sake, der von den Dienstboten immer wieder nachgeschenkt wird, zunehmend schwankend und lallend.

Haruyama-Sama rutscht ungeduldig hin und her. Auch er ist vom Sake erhitzt.

‚Vielleicht hat er so viel getrunken, dass er gleich nach dem Essen einschläft,‘ hoffe ich insgeheim.

Schließlich ist das Kaiseki -mehrgängiges Festmenü- beendet. Die Besitzerin des Chrysanthemen-Teehauses führt Haruyama-Sama und mich eine Etage höher. Bedienstete haben einen riesigen hölzernen Waschzuber mit heißem Wasser gefüllt. Darüber schwebt der Dampf in dem Raum. Haruyama-Sama entkleidet sich und steigt in das mit Badeölen aromatisierte Wasser. Er dreht sich nach mir um.

Aber statt mich nun ebenfalls zu entkleiden, rolle ich einen Tisch herbei mit flauschigen Tüchern, Naturschwämmen und vielen Fläschchen voll Badezutaten. Ich entblöße meine Unterarme, was ihn dazu veranlasst, tief einzuatmen. Anschließend lässt er sich von mir pflegen. Nebenbei fülle ich seinen Becher Sake immer wieder nach.

Bald erhebt er sich schwankend und ich trockne ihn ab. Mit Hilfe eines Hockers entsteigt er dem Waschzuber und ich führe ihn zum Futon in einem Nebenraum. Dort legt er sich nieder und zieht mich zu sich herab. Seine Augen sind nur noch Schlitze in seinem Gesicht. Ich lasse zu, dass er mich berührt, denn seine Bewegungen sind nicht mehr koordiniert. Er liegt noch nicht lange, als ich die ersten regelmäßigen Atemzüge vernehme.

Nun nehme ich das Tüchlein, das die One-San mir gegeben hat. Meinen Dolch, den ich als Lebensversicherung immer bei mir trage, nutze ich nun, um mich zu stechen. Ich tupfe das Tuch auf die kleine Wunde und lege es neben Haruyama-Sama auf den Futon. Seinen Jadestab lasse ich in meiner Hand steif werden, dann entferne ich mich leise und gehe vorsichtig die Treppe hinab zum Hinterausgang, meine Getas in der Hand haltend. Draußen ziehe ich sie an, mache mich aber noch nicht auf den Heimweg ins Okiya, sondern lasse mich auf der Veranda nieder. Ich warte, bis der Mond zu sinken beginnt.

*

Ein weiterer Mond ist ins Land gegangen. Man behandelt mich anders und auch ich fühle mich anders. Meine ganze Haltung drückt Selbstbewusstsein aus. Ich bin zwar eine Gefangene mit Schulden, die ich der Mutter abarbeiten muss. Mit dem einen oder anderen Kunden ist es beinahe bis zur Kopulation gekommen, wie bei meinem Debüt. Aber immer habe ich es kurz vorher geschafft, das ‚Spiel‘ zu beenden. Die Männer vertragen nicht viel Sake!

Mir kommt in den Sinn, was die One-San am Tag nach meinem Debüt gesagt hat.

„Oka-San ist stolz auf dich!“ hat sie gesagt. „Dank dir ist das Leben wieder nach Yoshicho zurückgekehrt. Die Männer lieben dich! Als Ehefrau warst du bei deinem Talent völlig vergeudet.“

Wenn die One-San und die Anderen wüssten, dass ich mich dank des Sake immer rechtzeitig aus der Affäre zu ziehen weiß. Ich möchte mich aufheben für den Richtigen!

Ich lächele in mich hinein. Auf der Straße verneigt sich jeder, an dem ich vorbeigehe. Ich weiß nun, dass mein Erfolg davon abhängt, meinen geheimnisvollen Nimbus aufrechtzuerhalten. Solange ich unerreichbar bleibe, kann ich ein Leben führen wie die One-San. Sobald jedoch meine Verführungskraft schwindet, ist dieses Leben vorbei.

Draußen, das ist die fließende Welt. Hier drinnen im Hanamachi steht die Zeit still. Deshalb kommen die Männer her. Sie möchten die raue Wirklichkeit für kurze Zeit vergessen.

Viele Männer sind begierig darauf, mindestens bis ein Räucherstäbchen niedergebrannt ist, mit ‚Nippons schönster Geisha‘ zu verbringen, sich von mir unterhalten zu lassen, ganz gleich was es kostet.

Einige sind alt, haben vom Leben zerfurchte Gesichter und schlaffe Körper, aber sie sind so amüsant und umgänglich, dass ich mich immer wieder mit ihnen treffe. Andere wollen plaudern oder gehätschelt werden, als wäre ich ihre Mutter. Ein hoher Regierungsbeamter redet sich bei mir seinen Kummer von der Seele und weint wie ein Kleinkind in meinen Armen. Ich habe inzwischen soviel Zuspruch, dass ich auswählen kann.

Immer aber behalte ich One-Sans Worte im Gedächtnis, niemals mein Herz zu verlieren. Alles ist nur ein Spiel und der Austausch von Geld beeinflusst die Beziehung mit den Kunden.

Den älteren Kunden ist das stets ebenfalls klar. Einige der jüngeren Kunden jedoch sind so von der geheimnisvollen Aura geblendet, dass sie vollkommen in meinen Bann geraten und sich ruinieren, nur um mich so oft wie möglich besuchen zu können.

Die meisten Männer haben zuhause Ehefrauen. Bei mir können sie sich ganz anders verhalten. Ihre Ehefrauen sind ihnen von ihren Familien für sie ausgewählt worden. Ihre Eltern bestimmten selbst über die Familie der erwachsenen Söhne -Oyakoko-. Bei mir können die Männer sich entspannen, mich necken, mit mir lachen, schäkern und sich benehmen wie kleine Jungen. Sie müssen nicht mehr ihre Würde bewahren, und sich um ihre Außenwirkung Sorgen machen. Sie bezahlen für die Freiheit, alles zu sein, was ihnen vorschwebt.

*
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Do Jul 22, 2021 9:37 am

Ich schiebe die Tür zu Umeko-San -Kind der Pflaumenblüte- auf. Sie ist unsere Haarkünstlerin. Der Rahmen kratzt in der Führung. Endlich ist die Öffnung groß genug, dass ich hindurchschlüpfen kann. Es ist Mittagszeit und kein Kunde befindet sich in Yoshicho. Umeko-San ist immer mit irgendetwas beschäftigt, doch heute ist es totenstill im Haus. Ich kenne mich aus und finde Umeko-San im Wohnraum. Sie kniet im Seiza und liegt mit dem Oberkörper auf dem Tisch.

„Was ist los, verehrte Umeko-San?“ frage ich gedämpft und laufe in kleinen schnellen Trippelschritten zu ihr, um mich neben sie zu knien. Sie liegt halb auf einer Zeitung.

„Ein Schiff der Gaijin -Ausländer- ist in Kisarazu eingelaufen,“ flüstert sie und wischt sich Tränen aus den Augen.

Ich schaue sie erstaunt an.
„Heißt das, der Krieg ist vorbei?“

„Sie haben sich ergeben. Jetzt sollen sie nach Europa zurückgeschickt und vor Gericht gestellt werden. Vielleicht wird man ihnen befehlen Harakiri zu begehen, oder wie sie das in Europa machen.“

Sie hat den Kopf gehoben und mich angeschaut. Nun legt sie ihn wieder auf ihre Arme zurück.

„Ich habe die Liste der Gefangenen immer wieder durchgelesen, aber ich kann seinen Namen nicht finden. Diese Namen sind so schwer zu entziffern. Es ist so schrecklich, nicht Bescheid zu wissen.“

„Dein Danna -Gönner-…“

Ich begreife plötzlich, warum Umeko-San so verstört ist.

„Wenn er gefallen ist, will ich das wissen,“ schluchzt sie auf. „Dann sollte er hierhergebracht und begraben werden!“

„Dein Gönner war ein Gaijin?“ frage ich noch einmal.

„Hai -Ja-.“ Sie atmet schwer.

Ich habe manchmal hochgewachsene Matrosen in fremden Uniformen mit rosa Gesichtern gesehen. Sie stehen im Ruf, Ärger zu machen, und suchen die billigsten Häuser auf. Aber ich habe bisher noch nie von einer Frau gehört, die einen Gaijin als ihren Danna annimmt.

„Ich bin früher eine gefeierte Geisha gewesen, fast so wie du heute. Eines Tages kam ein Mann zu mir und starrte mich mit großen runden Augen an. Ich dachte, was will er von mir? Seine Kameraden waren hinter den jungen Mädchen her, aber er schien nur Augen für mich zu haben. Dann forderte er mich an. Ich nahm an. Er war freundlich und respektvoll. Er suchte Trost und Verständnis. Und er sprach unsere Sprache. Er benahm sich nicht wie ein Macho. Darum mochte ich ihn umso mehr.
Dann kaufte er mich frei. Er richtete mir dieses Haus ein. Doch dann wurde es hier schlimmer. Sein Schiff fuhr ab, um in die Kämpfe einzugreifen und damit ihre Niederlassung zu schützen. Er fehlt mir sehr! Seine großen Hände, seine komische Nase… Ich wünschte, ich könnte seinen Namen hier finden!“

Sie wendet sich ab, schnäuzt und macht sich an der Teekanne zu schaffen.

„Vielleicht ist er entkommen!“ versuche ich sie zu trösten.

*

Ich stehe am großen Tor von Yoshicho, verbeuge mich tief und verabschiede mich vor dem jungen Mann. Er steigt in die Rikscha und wirft mir einen fast verzweifelten Blick zu. Er soll in der neuen Verwaltung eine wichtige Rolle spielen, heißt es. Bei mir benimmt er sich allerdings eher wie ein pubertärer Junge.

Eigentlich verabschiede ich mich dort von meinen Kunden, wo sie mich hinbestellt haben, da ich oft mehrere Termine hintereinander habe. Aber er ist am frühen Nachmittag gekommen und für eine Räucherstäbchenlänge geblieben. Danach hat er so herzzerreißend gebeten, ihn zum Tor zu begleiten, dass ich zugestimmt habe.

Auf meinem Rückweg komme ich beim Haus meiner Haarkünstlerin vorbei. Ich denke, auf ein Schwätzchen kann ich sicher zu ihr gehen, schauen wie es ihr geht und sie ein wenig aufmuntern. Also gehe ich auf den Eingang zu und versuche, wie so oft, ihn aufzuschieben. Doch diesmal ist die Tür verschlossen. Verblüfft halte ich inne. Niemand sonst verschließt im Yoshicho eine Tür. Ich versuche es erneut und überlege, ob sie vielleicht klemmt. Ich rüttele stärker daran.

Dabei rufe ich: „Umeko-San, bist du da?“

Nun nähern sich Schritte, etwas Schweres wird zur Seite geschoben und die Tür öffnet sich einen Spaltbreit. Erleichtert frage ich:

„Alles in Ordnung? Hast du geschlafen?“

Ich öffne die Tür gerade soweit, dass ich hindurch schlüpfen kann. Drinnen empfängt mich feuchte Luft, wie in einem Badehaus. Hat sie etwa auch die Regentüren zugezogen? Außerdem ist alles dunkel. Ich bin verwirrt.

Plötzlich packen mich zwei Hände, wirbeln mich herum und stoßen mich weg. Erschrocken schreie ich auf. Ich taumele vorwärts, versuche mich abzufangen, reiße dabei das Schuhregal polternd um und falle hin.

Die Tür wird wieder zugeschoben und verriegelt. Ich drehe mich zu den Geräuschen um und erkenne einen Schatten im Raum. Mein Herz klopft und meine Gedanken spielen verrückt. Ich rutsche rückwärts bis ich eine Wand spüre.

‚Das muss ein Einbrecher sein,‘ denke ich. ‚Er hat Umeko-San getötet und jetzt sitze ich hier in der Falle.‘

Ich spüre, dass die Gestalt sich mir nähert und versuche zu schreien. Aber schon legt sich mir eine riesige Hand auf den Mund und erstickt jeden Ton. Er hebt mich auf die Knie, die Hand immer noch fest auf meinem Mund.

‚Mein Dolch!‘ flammt ein Gedanke in meinem Kopf auf.

Schnell habe ich die Waffe aus dem Obi gezogen und fahre damit durch die Luft.

„Ahh!“ brüllt der Mann und zieht scharf die Luft ein.

Ein Faustschlag und mir entgleitet der Dolch. Wieder fasst er zu und legt seine Hand auf meinen Mund.

„Hab bitte keine Angst!“ flüstert er. „Bitte schrei nicht.“

Ich nicke geschockt. Er löst seinen Griff.

„Wo ist Umeko-San? Was hast du mit ihr gemacht?“ frage ich flüsternd.

„Sie ist bald wieder hier,“ antwortet er. „Ich bin ein… Besucher.“

Er kniet sich mir gegenüber und zerreißt seine Kleidung, um den Stoff auf die Wunde zu drücken. Da wird geklopft, einmal, zweimal.

Der Mann erhebt sich und öffnet die Tür. Umeko-San kommt hereingetrippelt, ein Bündel in jeder Hand.

„Puh, hier bekommt man ja keine Luft!“ ruft sie, legt die Bündel ab, schlägt den Fächer auf und fächelt sich heftig frische Luft zu. „Du musst ja fasst erstickt sein, Liebster! Moe-San, bist du das?“

Der Mann schiebt die Regentüren zurück, stößt dabei gegen den Dolch am Boden, hebt ihn auf und gibt ihn mir zurück. Zu Umeko-San sagt er:

„Sie hat Krallen! Hast du Alkohol und Verbände?“

Umeko-San nickt und läuft aus dem Zimmer, um wenig später mit Stoff und einem Krug Sake zurückzukommen. Sie lacht als sie seine Wunde nun desinfiziert.

„Ja, Moe-San hat Krallen! Sie ist eine Samurai!“

Er schaut zu mir. Ich knie immer noch an der gleichen Stelle. Nun verbeuge ich mich tief, um sie mit „Konnichiwa“ zu begrüßen. Umeko-San öffnet die Bündel und holt in Bambusblätter gewickelte Lebensmittel heraus. Ich beginne damit, mein Haar zu richten. Anschließend gehe ich zu einer Truhe und hole Tabletts, Stäbchen und Gewürze heraus.

Wir richten die Speisen an und beginnen zu essen. Dabei bedient sie den Gaijin und drängt sich an ihn. An mich gerichtet sagt sie sehnsuchtsvoll leise:

„Ich habe ihn so sehr vermisst!“

Aus der Ferne vernehmen wir das Schlagen der Glocke. Das Blut weicht mir aus dem Gesicht.

„Ich dachte nicht, dass es schon so spät ist,“ sage ich. „Ich wollte mit dir sprechen, Umeko-San. Nun ist keine Zeit mehr.“

Ich verbeuge mich zum Abschied und trete auf die Straße hinaus. Draußen eile ich die Hauptstraße entlang zu meiner Okiya. In einer Hand den Sonnenschirm und mit der anderen Hand halte ich den Saum meines Gewandes.

Das kurze Erlebnis eben hat mich tief berührt. Noch nie habe ich erlebt, dass ein Mann eine Frau so behandelt, wie der Gaijin Umeko-San behandelt hat, so voller Zuneigung und Zärtlichkeit. Für meinen Ehemann bin ich ein Besitzstück gewesen und für meine Kunden bin ich kaum mehr als ein Spielzeug.
Ich will gerade durch die Vorhänge an der Tür zum Okiya schlüpfen, da stehe ich vor der Oka-San.

„Warum kommst du heute so spät?“ fragt sie mit ärgerlichem Gesicht. „Du weißt doch, wie wichtig dieser Tag ist! Geh rein und mach dich fertig.“

Ich verbeuge mich entschuldigend und eile die Treppe hinauf in das Zimmer der One-San. Sie steht wartend in der offenen Schiebetür.

„Beeil dich, Moe-San, beeil dich!“ sagt sie. „Jeden Moment kann der Herr im Chrysanthemen-Teehaus eintreffen!“
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Sa Jul 24, 2021 9:13 am

Seit Tagen spricht ganz Yoshicho von Fujimoto-Sensei. Er soll reich und mächtig sein. Schnell knie ich mich vor den Spiegel und schminke mich ab. Anschließend trage ich die Grundierung auf und dann die weiße Paste. Nun nehme ich mit einem Pinsel Lippenrot auf und gebe auch etwas Rot in die Augenwinkel. Die Dienerinnen haben währenddessen mein Haar zu der Marumage-Frisur aufgetürmt und mit Haarnadeln und -kämmen geschmückt.

Danach erhebe ich mich und schlüpfe nacheinander in verschiedene seidene Kimonos, die mir die Dienerinnen hinhalten. Der Obi besteht aus Brokat mit aufwendigen Stickereien. Als ich mich nun wieder zum Spiegel umwende, habe ich mich in Moe-San, die Zauberin, verwandelt. Nichts erinnert mehr an Kaede -Ahornblatt-.

Als Fujimoto-Senseis Ankunft näher rückt, huscht die Mutter herein, mustert mich von Kopf bis Fuß und zupft die Kimonokragen zurecht. Dann treibt sie uns zur Eile an. Wenige Augenblicke später befinden wir uns auf der Straße. Neben mir geht Mamiko, die One-San und meine ältere Schwester. Sie wird heute die Shamisen spielen. Die Dienerinnen, die uns umringen, werden Flöte und Trommel spielen. Außerdem ist ihre Aufgabe, mich zu beobachten, um daraus für sich zu lernen.

Bald haben wir das Chrysanthemen-Teehaus erreicht. Die Besitzerin kommt uns entgegen. Sie ist aufgeregt und lotst uns hinein. An einem Tisch sitzt ein Mann in teurer Kleidung, umgeben von Lakaien. Die One-San und ich gehen auf die Knie, beugen sich tief zu Boden und sagen im Chor:

„Konbanwa, Okyaku-Sama -Guten Abend, hoher Herr-.“

Der Mann wendet sich ein wenig um und meint:
„Ihr kommt spät!“

Die Tischplatte biegt sich unter den erlesensten Speisen. Wir befinden uns hier in einem separaten Raum. Er ist verschwenderisch dekoriert worden, viel üppiger als es in der Residenz eines Daimyo aussieht. Ich atme tief durch und zwinge mich zur Ruhe. Fujimoto-Sensei ist hinter seiner Fassade auch nur ein Mann, sage ich mir.

Während die One-San und die Dienerinnen ihre Plätze an der Wand einnehmen, gehe ich um den Tisch herum zu einer Feuerschale, in der Holzkohle glimmt. Darüber hängt der Kama -Wasserkessel- für die nun folgende Sado -Teezeremonie-.

Ich nehme Wasser mit einem Schöpflöffel heraus und übergieße den Tee in einer Kanne. Nach einigen Minuten gieße ich daraus etwas Tee in eine Schale mit kostbarer Glasur. Mit einer tiefen Verbeugung reiche ich sie dem hohen Gast. Er nimmt einen Schluck und reicht die Schale weiter. Als sie leer ist, kommt sie wieder zu mir zurück. Anschließend fülle ich für jeden Gast am Tisch eine Tasse, fülle die Kanne wieder neu und erhebe mich, um den Fächertanz vorzuführen, bei dem mich die Anderen mit ihrer Musik begleiten. Fujimoto-Sensei und seine Begleiter leeren derweil die Schüsseln mit den erlesenen Speisen auf dem Tisch.

Während meines Tanzes beobachte ich den Mann unter sittsam gesenkten Lidern. Vor mir sitzt ein älterer Mann, teuer gekleidet. Das Gewand ist mit Sake bekleckert und hat Schweißflecken unter den Achseln. Aus seinem Gehabe kann man eindeutig herauslesen, dass Fujimoto-Sensei gewohnt ist, seinen Willen durchzusetzen.

Mir ist jedoch klar, dass es ein schlechter Zug ist, ihm nachzugeben. Besser ist es, ihn warten zu lassen. So würde er immer wiederkommen und dem Teehaus und somit auch der Okiya, zu der ich gehöre, weiteren Umsatz bescheren. Daher muss ich ihn verzaubern.

Es ist Brauch, mit dem Kunden zu spielen, wie die Katze mit der Maus. In Erinnerung an die Lektionen der One-San wende ich mich etwas von ihm ab, so dass er meinen ungeschminkten Nacken erblicken kann. In einer Drehung erreiche ich den Tisch und gehe davor in die Knie. Mich vor ihm tief verbeugend, sage ich mit seidiger Stimme:

„Sie sind also Fujimoto-Sama. Lange haben Sie uns vernachlässigt. Fast schon unverzeihlich! Heute erscheinen Sie hier und vereinbaren ein Treffen, ausgerechnet mit mir, eine Geisha, die Sie nicht einmal kennen.“

Eine der Dienerinnen, die die Sake-Becher ständig nachfüllt, ergänzt mit kindlicher Stimme und großen unschuldig blickenden Augen:

„Unsere ältere Schwester Mamiko-San ist vor Liebe zu Ihnen fast gestorben, wussten Sie das? Seit Sie fortgegangen sind, konnte sie überhaupt nicht mehr richtig schlafen. Nun, nachdem sie mondelang nur geweint hat, hat sie einen anderen Danna gefunden. Sie haben sicher in Osaka jemand anderen gefunden, die Ihnen mehr bedeutet, als wir!“

„Das stimmt nicht!“ entgegnet der Mann. „Wie kann mir jemand anders mehr bedeuten, als ihr alle hier im Yoshicho?“

Sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Grinsen. Er redet weiter, zu mir gewandt:
„Als ich von der berühmten Moe-San hörte, bin ich sofort hierher geeilt. Und du bist sogar noch schöner, als alle sagen!“

Die Dienerin hat seinen Becher wieder gefüllt. Fujimoto-Sensei hebt den Becher und leert ihn in einem Zug. Er gibt einem der Lakaien einen Wink. Der Mann greift unter den Tisch und zieht ein Stoffbündel heraus. Das Bündel breitet er neben dem Tisch auf der Tatamimatte aus. Es entpuppt sich als feinster Damast.

Ich hebe den Fächer vor den Mund und sage:
„Wie kommen Sie darauf, dass ich käuflich bin?“

Ich tue beleidigt, während die Dienerin den Becher des Herrn wieder auffüllt.

„Moe-San verliert ihr Herz an niemanden,“ plappert die Dienerin in dem kindlichen Ton weiter. „Männer behaupten, sie habe ein Herz aus Eis, und niemand könne sie zum Schmelzen bringen. Jeder Mann, der ins Yoshicho kommt, ist begierig darauf ihr Danna zu werden, aber sie nimmt niemanden an!“

„Ich bin nicht ‚jeder Mann‘!“ knurrt Fujimoto-Sensei.

Sein Mund und seine Augen sind nur noch schmale Schlitze. Wieder starrt er mich an. Die Besitzerin des Teehauses rutscht auf Knien näher, drückt ihr Gesicht an den Tatami und hebt dann ihren Kopf.

„Flußkarpfen aus dem Yodo!“ kräht sie.

Eine Dienerin schreitet ehrfürchtig herein. In ihren ausgestreckten Händen hält sie ein Schneidbrett aus Zypressenholz. Darauf liegt ein ganzer Karpfen. Der Fisch ist in rosa Scheiben zerteilt, die auf das Skelett, an dem der Kopf noch hängt, zurückgelegt worden. Der Fisch liegt in einem Bett aus weißem Rettich und dunkelgrünem Tang. Die Dienerin geht auf die Knie und platziert den Karpfen direkt vor Fujimoto-Sensei. Dieser leckt sich die Lippen.

„Wo ist der Koch,“ ruft er laut. „Warum hat er ihn nicht vor unseren Augen zerteilt? Das wäre einmal eine Aktion gewesen!“

Nun wendet er sich wieder mir zu. Seine Miene ist versteinert.

„Du kannst mit mir spielen, soviel du willst, meine Schöne,“ meint er. „Am Ende bekomme ich dich doch! Du wirst nach meiner Pfeife tanzen.“

Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

„Ich sehe, Sie sind ein Mann, der weiß was er will,“ antworte ich leise.

Plötzlich läuft Fujimoto-Senseis Gesicht puterrot an. Ganz langsam, wie ein gefällter Baum, kippt er zur Seite, seufzt tief und beginnt zu schnarchen. Ich warte eine Weile und sehe zu, wie sich seine Brust bei jedem Atemzug hebt und senkt. Dann stehe ich langsam auf und schleiche mich nervös aus dem Raum. Die Besitzerin des Teehauses wird alles weitere veranlassen. Hinter mir folgen die One-San und die Dienerinnen unseres Okiya.

*

In Yoshicho ist es noch ruhig, als ich vor das Haus trete. Ich bin in aller Frühe unterwegs zu Umeko-San, meiner Freundin und Haarkünstlerin. Ihr möchte ich als Erste berichten, wie der Abend mit Fujimoto-Sensei gelaufen ist. Mich erschauert es, wenn ich daran denke.

Aus den Augenwinkeln erkenne ich eine Bewegung in der Dunkelheit einer Seitengasse. Da ist ein Mann. Ich wirbele herum und lege die Hand an meinen Dolch im Obi. Dieser Mann sieht nicht wie ein Kunde eines der Häuser hier aus. Ich weiche in den Schatten aus. Er kommt näher. Man kann sehen, dass er groß ist, viel größer als ich. An einem Stock über seiner Schulter hängt ein Bündel. Seine Kleidung ist verdreckt und durchlöchert.

Der Mann verneigt sich zackig wie ein Soldat.

„Sumimasen -Entschuldigung-, ich suche nach der Haarkünstlerin Umeko-San,“ sagt er in einem nördlichen Dialekt.

„Da haben Sie Glück,“ entgegne ich ihm erleichtert. „Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr.“

Ich gehe voraus, während er mir im Schatten der Häuser folgt. Bei Umeko-San angekommen, schiebe ich die Tür einen Spalt auf und rufe hinein:

„Ohayo, Umeko-San -Guten Morgen, Frau Umeko-, bist du wach?“

Statt ihrer kommt der Gaijin an die Tür, ihr Danna -Gönner-. Er schiebt sie weiter auf. Ich wende mich um und winke meinen Begleiter heran. Zu dem Gaijin sage ich:

„Dieser Mann hat mich unterwegs angesprochen und nach Umeko-San gefragt.“

Der Gaijin schaut zuerst misstrauisch, dann erhellen sich seine Gesichtszüge und er breitet die Arme aus.

„Aisatsu, Isamu -Hallo, Isamu (unerschrocken)-, komm herein! Ich freue mich, dass du es ebenfalls geschafft hast, dich hierher durchzuschlagen!“

Mein Begleiter betritt das Haus und zieht sich an der Tür seine Sandalen aus. Er verneigt sich lächelnd und die beiden Männer schütteln sich die Hand, was mich irritiert Stirnrunzeln lässt. Umeko-San ist inzwischen hinzugetreten. Der Gaijin erklärt ihr:

„Das ist Isamu, mein Kampfgefährte.“

Umeko-San bittet uns alle nun an den Tisch zum Frühstücken. Während wir still sind, haben die beiden Männer sich viel zu erzählen. Nach dem Frühstück bittet der Gaijin Umeko-San, dass sie seinem Tomodachi -Freund- die Haare schneidet und ihn rasiert. Anschließend erhält er Dienstboten-Kleidung im Austausch gegen die verschmutzte und verschlissene Uniform. Wir sind uns einig, dass der Soldat eine Arbeit braucht und ich biete ihm an, als mein Purotekuta -Beschützer- aufzutreten, wenn er das gegen Kost und Logis macht. Mehr kann ich ihm leider nicht bieten.

Der Gaijin hält das für eine gute Idee und auch Umeko-San redet ihm zu. Also begleitet er mich nach dem Frühstück hinaus. Ich will noch zum Teehaus, um die Besitzerin dort nach Fujimoto-Sensei, meinem gestrigen Kunden zu fragen.
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Mo Jul 26, 2021 10:20 am

Je näher ich dem Haus komme, desto mehr Leute sind auf der Straße. Dann sehe ich den Mann aus dem Haus kommen und in eine Sänfte einsteigen. Seine Lakaien heben das Transportmittel an.

Von der erhöhten Sitzposition heraus erhasche ich einen Blick von ihm und schaue sofort züchtig zu Boden. Als die Männer ihn in der Sänfte davontragen, schlägt er den hinteren Vorhang zur Seite und schaut noch einmal zurück. Dabei macht er eine Miene, als hätte er jemand erkannt.

Nun will ich aber so schnell wie möglich zu meinem Okiya zurück. Unterwegs frage ich meinen Begleiter nach seinem Namen. Er nennt mir „Ito Isamu“. Nachdem wir das Okiya erreicht haben, gehe ich über die seitliche Veranda bis zum Büro der Mutter, schiebe die Regentür auf und verneige mich vor ihr. Ich grüße sie:

„Ohayo gozaimasu, Oka-San -Guten Morgen, Mutter-. Ich komme gerade von Umeko-San, nachdem ich im Kikka Ochaya -Chrysanthemen-Teehaus- nach Fujimoto-Sama geschaut habe. Umeko-San bittet mich auf ihren Itoko -Cousin- Ito-San zu achten. Ich habe ihr versprochen, dass er mich abends als mein Purotekuta -Beschützer- begleiten dürfe, gegen Kost und Logis. Wenn der Mutter über Tag noch weitere Arbeit einfällt, ist das sicher gut.“

„Hai -Ja-,“ meint sie. „Arbeit findet sich hier immer genug!“

Ich danke der Mutter und wir durchqueren das Büro, gehen in den Korridor und steigen die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Nachdem ich die Tür zu meinem Zimmer aufgeschoben habe, trete ich zur Seite, um ihn eintreten zu lassen. Er schaut in den Raum und bleibt unwillkürlich stehen. Man sieht ihm an, dass ihm unbehaglich zumute ist.

*

Mein Name ist Ito Isamu. Ich habe einer japanischen Delegation angehört, die in Europa in diplomatischer Mission unterwegs gewesen ist. Mein Onkel ist der Ministerpräsident Ito Hirobumi. Ich bin nach der Samurai-Tradition erzogen worden. Als wir von den Unruhen erfahren haben, hat der Delegationsleiter mich mit ein paar Getreuen auf einem europäischen Kanonenboot in die Heimat zurückgeschickt.

Während der langen Wochen unterwegs habe ich mich mit dem 1.Offizier angefreundet. Dieser Mann ist schon einmal in Japan gewesen und kann unsere Sprache ein wenig sprechen. Genauso ist es umgekehrt. Wir haben viel voneinander gelernt.

In Nihon angekommen, sind wir alsbald in die Kämpfe verwickelt worden. Obwohl wir uns zumeist nur selbstverteidigend betätigt haben, wurde unser Schiff wohl als Bedrohung angesehen und ist unter starkes Feuer geraten. Dann haben es japanische Soldaten aufgebracht. Der 1.Offizier hat sich durch einen Sprung über Bord der Gefangennahme entzogen. Ich habe es ihm gleich getan.

An Land meinte er, wir müssten uns getrennt nach Edo durchschlagen, das erhöht die Chance, dass wir unser Ziel erreichen. Hierbei muss ich ihm Recht geben. Auf die Frage, wo wir uns denn treffen würden, schlägt er das Hanamachi Yoshicho vor den Toren der Stadt vor. Dort soll ich nach der Haarkünstlerin Umeko-San fragen. Sollte er noch nicht dort sein, soll ich bei ihr auf ihn warten.

Nun habe ich den beschwerlichen Marsch hinter mir. Wir haben uns wiedergetroffen und müssen bald unsere nächsten Schritte beraten. Im Haus der Umeko-San erfahre ich, dass mein Freund der Danna dieser Frau ist, die einmal eine Geisha gewesen ist. Währenddessen lerne ich eine junge Geisha kennen, über die hier an allen Ecken gemunkelt wird. Sie gibt mir eine Tarn-Existenz und nun sitze ich ihr in ihrem Zimmer gegenüber.

Mir ist unterwegs in ihr Okiya eingefallen, wo ich ihren letzten Kunden schon einmal gesehen habe. Darauf spreche ich sie jetzt an:

„Dein letzter Kunde, Moe-San, kennst du ihn?“

„Jeder hier im Yoshicho kennt Fujimoto-Sama. Er ist sehr reich.“

„Weißt du, womit der Herr seinen Reichtum erworben hat?“ frage ich und blicke finster drein.

„Er ist ehrbarer Kaufmann und besitzt ein riesiges Handelsimperium,“ antwortet sie mir mit schwankender Stimme und schaut mich unsicher an.

„Ich bin ihm schon einmal begegnet. Ja, ich bin sicher, dass er es gewesen ist! Es war in Batavia, als wir dort landeten, um unsere Vorräte aufzufüllen. Wir sind danach durch die Stadt geschlendert, um sie uns anzuschauen. Plötzlich öffnete sich eine Tür vor uns und eine junge Frau stürzte heraus. Sie prallte direkt mit mir zusammen und hat sich an mir festgekrallt. Ihr Gesicht vergesse ich so schnell nicht. Geschockt, voller Angst. Männer kamen hinterher und rissen sie von mir fort, um sie schreiend und um sich tretend wieder hinein zu schleppen. Ich habe meine Begleiter angeschaut und wollte zu ihrer Rettung hinterher stürmen, als dieser Mann in der Tür erschien und sagte: ‚Das hier ist eine Privatangelegenheit! Kein Grund sich Sorgen zu machen! Danke für Ihre Hilfe, meine Herren.‘ Daraufhin zieht er die Tür zu. Penetranter süßlicher Geruch lag danach in der Luft, der Duft von Opium! Dieser Herr macht Geschäfte mit Rauschgift und jungen Frauen! Er ist gefährlich, Moe-San!“

Sie schaut mich erschrocken an. Dann zieht sie einen Fächer aus ihrem Obi und wedelt sich damit Luft zu. Sie scheint sich etwas zu beruhigen. Mit immer noch ernstem Gesicht antwortet sie:

„Das war Fujimoto-Samas erster Besuch. Ich habe Glück gehabt: Er hat wie ein Baby geschlafen. Aber hab Dank für deine Sorge um mein Wohl!“

Beim letzten Satz berührt sie meinen Unterarm mit ihrer Hand.

*

Was mir Ito-San da berichtet, lässt in mir alle Feuerglocken schellen. Nun sieht er mich durchdringend an.

„Du hast mich der Oka-San als Beschützer vorgestellt. Das könnte ich tatsächlich sein für dich – und noch mehr, wenn ich dein Danna werden darf, Moe-San.“

Ich schaue den Mann durchdringend an. An ihm ist etwas, dass ihn von anderen Männern unterscheidet. Sein Gesicht ist gebräunt, wie das eines Bauern, aber dennoch hat seine Körperhaltung etwas von einem Prinzen.

„Wo meinst du, Fujimoto-Sama begegnet zu sein?“ frage ich zurück.

„Das tut nichts zur Sache!“ bügelt er mich barsch ab.

„Batavia ist ein Ort außerhalb Japans, das stimmt doch? Bist du … außerhalb Japans gewesen?“

Ich blicke mein Gegenüber an und begreife plötzlich, dass es das ist, was ihn so anders macht. Ito-San besitzt die Eigenschaft Dinge zu kennen, die ich nicht kenne, und Teil einer Welt zu sein, die ich mir bisher nicht einmal vorstellen kann.

„Du sagtest, du würdest mir alles erzählen,“ lasse ich nicht locker.

Ito-San schaut ins Leere. Er flüstert:
„Die Leute denken, wir sind unrein, weil wir im Ausland waren und uns mit Menschen, wie dem Danna von Umeko-San abgegeben haben.“

„Ich glaube das nicht!“ behaupte ich mit fester Stimme. „Ich würde gerne wissen, wie es in dem Land ist, aus dem Umeko-Sans Danna kommt.“

Ito-San wendet sich mir zu. Er seufzt.

„Es ist wunderschön. Die Hauptstadt ist fast so groß wie Edo. Die Gebäude sind aus Stein, nicht aus Holz, und sie sind hoch.“

„Und die Menschen?“ frage ich. „Haben sie schwarze Haare oder eher wie Umeko-Sans Danna?“

Ito-Sans Blick verliert sich abermals in der Unendlichkeit. Er flüstert:
„Doch! Sie haben irgendwie Recht. Ich bin kein echter Japaner. Dafür war ich zu lange fort. Japan ist ein in sich geschlossene Welt. Ich dagegen habe zuviel gesehen, habe zuviel erfahren und stelle zuviele Fragen.“

Ich denke, ich kann Ito-San verstehen. Auch ich fühle mich hier in Yoshicho wie eine Außenseiterin. Nun frage ich ihn:

„Wo bist du zuhause und wo lebt deine Familie?“

„In Kyoto.“

Erschreckt zucke ich zurück.

„Ist es nicht gleich, woher wir stammen, Moe-San. Das Jetzt gilt! Du hast deine Familie verloren. Ich werde ausgegrenzt, weil sie denken, ich gehöre nicht mehr zu ihnen. Wir beide müssen schauen, was die Zukunft für uns bereithält!“

Einige Monde sind inzwischen ins Land gegangen. Die heimlichen Treffen mit Ito-San sind voller Wonne. Wir halten uns an den Händen, liegen eng beieinander, streicheln uns zärtlich und flüstern uns Zärtlichkeiten ins Ohr. Miteinander das Kissen geteilt haben wir in all der Zeit nicht.

Der Herr des Südens, tenno heika Mutsuhito -seine kaiserliche Majestät Mutsuhito- hat begonnen, seine Hauptstadt von Kyoto nach Edo zu verlegen. Die Stadt wird dann Tokyo heißen.

Ich liege auf der Seite und lächele Ito-San an. Gerade habe ich ihm berichtet, was die Oka-San von Fujimoto-Sama erzählt hat.

„Ja, die Mutter hat von ihm eine Nachricht erhalten, dass er geschäftlich nach Osaka muss. Natürlich habe ich ihr betrübt geantwortet, wie enttäuscht ich darüber sei,“ antworte ich und lächele verschmitzt.

„Er wird zurückkommen! Aber darum kümmern wir uns dann,“ antwortet er.

*

Wieder sind ein paar Monde ins Land gegangen, als die Oka-San zu mir kommt und mir eröffnet, dass Fujimoto-Sama bald zurückkommen wird. Ganz Yoshicho wird kopfstehen, prophezeit sie mir.

„Es wird mir sicher leidtun, dich gehen zu sehen,“ sagt sie, „und ich weiß, dass du uns auch vermissen wirst!“

Jemand muss angeboten haben, mich freizukaufen, fährt mir durch den Kopf.

„Fujimoto-Sama wird Yoshicho für eine ganze Nacht schließen und alle Umsatzausfälle bezahlen. Es wird das größte Fest geben, von dem man je gehört hat!“

„Aber… aber, das können Sie doch nicht machen, Mutter.“

In meinem Kopf dreht sich alles. Oka-San hat mich an Fujimoto-Sama verkauft!
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Mi Jul 28, 2021 8:28 am

„Ich kann alles machen!“ sagt sie eisig. „Ich habe bereits eine Anzahlung bekommen. Du gehörst nun Fujimoto-Sama! Und bilde dir nicht ein, dich wegschleichen zu können. Auch dieser Ito-San wird von dir ferngehalten!“

Als die Schritte der Oka-San verklungen sind, vergrabe ich mein Gesicht in meinen Futon. An Fujimoto-Sama verkauft! Kein entsetzlicheres Schicksal hätte ich mir jemals vorstellen können. Selbst Ito-San kann mich jetzt nicht mehr retten.

*

„Umeko-San sagt, sie halten Moe-San stärker unter Bewachung,“ meint der Gaijin beiläufig beim Frühstück. „Für mich bedeutet das, dass ihre Oka-San etwas im Schilde führt.“

„Ich bin täglich in ihrem Okiya und rede mit dem Küchenpersonal,“ entgegnet ihm Ito-San. „Es scheint, dass Fujimoto-Sensei bald wiederkommt. Das kann nur bedeuten, dass sie ihm versprochen wurde.“

„Es wird ein gewaltiges Festmahl geben. Jedes Haus darf Kunden bedienen auf Fujimoto-Senseis Kosten,“ pflichtet Umeko-San bei.

„Wir müssen genug Chaos veranstalten. Dann hat Moe-San eine kleine Chance zu entfliehen!“ sagt Ito-San. „Wie weit ist der Umzug der Regierung nach Edo gediehen?“

Der Gaijin meint: „Es kann nicht mehr lange dauern.“

Ito-San wendet sich an Umeko-San:
„Kennst du jemand, der einen Brief nach Edo bringen kann? Es sollte jemand aus dem Süden sein, damit er nicht gleich verhaftet wird! Der Brief muss Akimoto-San bei der Polizeibehörde persönlich erreichen.“

Umeko-San nickt: „Ich bringe Ihnen jemanden, dem Sie den Auftrag persönlich geben können!“

Als Ito-San gegen Mittag zurück ist, sitzt ein anderer Mann am Mittagstisch. Der Gaijin hat sich in ein Zimmer zurückgezogen.

„Konnichiwa -Guten Tag-,“ begrüßt Ito-San den Fremden und setzt sich dazu.

Nach dem Essen, bei dem sie sich nähergekommen sind, bietet er dem Mann ein Geschäft an. Er soll einen Brief an einen gewissen Akimoto-San persönlich bringen. Dort würde er eine Summe als Belohnung erhalten.

Ito-San hat sich nach dem Frühstück hingesetzt und geschrieben:
„Ehrenwerter Akimoto-San, diese bescheidene Person möchte Ihnen anzeigen, dass der gesuchte Verbrecher Fujimoto-San in Kürze im Yoshicho auftauchen wird, um ein großes Fest zu geben. Sie kennen ihn als Oyabun, der mit Opium und Frauen handelt. Ich wünsche, dass der Mann in Gewahrsam genommen wird, wenn er sich selbst am sichersten fühlt!
Ito Isamu, Mitglied der Familie des Shusho tenno heika - des Ministerpräsidenten seiner kaiserlichen Majestät-“

Der Mann verneigt sich und verlässt danach das Hanamachi Yoshicho.

*

In der Morgendämmerung höre ich das Schrammen von Leitern und das Hämmern der Männer, die überall in Yoshicho rote Laternen an den Fassaden der Häuser anbringen. Ich brauche keine große Phantasie, um mir vorstellen zu können, dass jede Laterne mit den Schriftzeichen des Namens von Fujimoto-Sama beschrieben worden ist.

Ich schließe meine Augen und stelle mir Ito-Sans Gesicht vor. Gestern hat er sich durch die Wachen hindurch zu mir geschlichen. Inzwischen kennt er den Rhythmus des Okiya ganz gut.

„Hab keine Angst,“ hat er mir zugeflüstert. „Ich habe dir doch versprochen, dich zu beschützen und ich werde mein Wort halten! Vertraue dem Wort eines Samurai!“

Ich habe ihn zuerst ungläubig angesehen und langsam nur ist die Erkenntnis in mir gereift, was er mir da gesagt hat. Ich nehme seine Hände, drücke sie an meine Lippen und schaue ihn mit großen Augen an. Dann hebe ich die rechte Hand, wedele damit in der Luft und meine:

„Das ist nicht gut! Überall werden seine Leute sein. Wir werden gefangen und misshandelt werden!“

„Es werden noch andere da sein, die mir helfen, Moe-San. Vertraue mir!“

Er hat mich in die Arme genommen, an sich gedrückt und mich auf die Stirn geküsst.

„Wenn ich entkommen könnte, würde ich mit Ihnen überall hingehen, Ito-San!“ habe ich voller Hoffnung gehaucht.

„Ich bin auf der Flucht,“ hat er geantwortet. „Wie kann ich verlangen, dass du dein Leben mit meinem teilst?“

Ich habe eine raumgreifende Geste gemacht und geantwortet:
„All das hier gehört mir nicht! Es bedeutet mir nichts!“

Als sich Stimmen über den Korridor nähern, muss Ito-San fortschlüpfen. Ich schaue in den Spiegel. Das Gesicht, das mir von dort entgegensieht und das die Männer so sehr begehren, hat mir nur Unglück gebracht. Ich habe genau die Dummheit begangen, vor der mich die One-San und meine Freundin Umeko-San gewarnt haben: Ich habe mein Herz verloren.

Unaufhaltsam vergeht die Zeit an diesem Tag, an dem ich Fujimoto-Sama gegenübertreten muss. Eine Dienerin ist hereingekommen, um mir zu helfen mich vorzubereiten.

„Ich wünschte, du müsstest nicht gehen, Moe-San,“ sagt sie ohne aufzuschauen. „Vielleicht begegnet mir eines Tages auch jemand wie Fujimoto-Sama. Er muss reicher sein, als alle anderen auf der Welt!“

In ihren Augen habe ich den Mann erobert, nachdem sich jede Frau in Yoshicho sehnt. Er hat mich sogar freigekauft – und sie scheint darüber erstaunt zu sein, dass ich mich nicht glücklich zeige.

„Er muss viele Häuser besitzen,“ plappert sie bei der Arbeit weiter. „Er wird auf dem Grundstück seiner Residenz ein Extrahaus für dich gebaut haben!“

„Heute Abend wird er seine Freunde mitbringen,“ erwidere ich. „Vielleicht verguckt sich einer davon in dich.“

Wir stimmen ein befreites Lachen an. Eine Maiko -Geisha in Ausbildung- springt vom Balkon herein und dreht sich in der Mitte des Zimmers mit flatternden roten Ärmeln.

„Schau zu!“ ruft sie. „Diesen Tanz werde ich heute Abend aufführen!“

Sie spitzt ihre Lippen, kommt auf mich zugelaufen und umarmt mich.

„Ich werde dich vermissen, große Schwester!“ sagt sie mit piepsiger Kleinmädchen-Stimme. „Ich wünschte, du würdest nicht fortgehen!“

Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich neige den Kopf. In diesem Moment kommt Umeko-San mit einem riesigen Bündel herein. Sie lächelt mir beruhigend zu, legt ihre Last ab und holt Kämme heraus, öffnet Tiegel mit Wachs und Pomade, die den Raum mit moschusartigem Geruch erfüllen. Ich wende mich zu den Dienerinnen und der Maiko:

„Ab mit euch in eure Räume! Macht euch nun ebenso fertig für heute Abend!“

Nachdem ich mit Umeko-San alleine bin und sie ihr Handwerk beginnt, sagt sie:
„Gib dich gegenüber Fujimoto-San glücklich und aufgeregt! Vermittele ihm das Gefühl, du wärest begeistert und hättest die letzten Tage ungeduldig auf ihn gewartet. Niemand darf argwöhnisch werden!“

Ich nicke ihr zu.
„Das fällt mir nicht schwer. Das Herz einer Geisha ist aus Stein. Sie will nichts. Sie fühlt nichts. Sie ist eine Künstlerin der dahinströmenden Welt!“

„Ich habe mit der Besitzerin des Chrysanthemen-Teehauses gesprochen. Ich darf am Bankett teilnehmen. Natürlich nur am Rande! Wenn ich dir ein Zeichen gebe, sei bereit sofort zu verschwinden!“

„Welches Zeichen?“

„Du wirst es schon erkennen, wenn du es siehst, Moe-San.“

Dann beugt sie sich über ihr Bündel und breitet es auf den Tatami-Matten aus. Es enthält einige verschlissene Kimonos. Sie drückt sie mir in die Hand.

„Rasch, zieh das an!“ sagt sie eindringlich.

Ich nehme die Kimonos und laufe hinter einen der faltbaren Wandschirme. Dort entkleide ich mich bis auf den rotseidenen Unterrock. Nun ziehe ich eine engbeinige blaue Unterhose an und stopfe den Unterrock hinein. Darauf folgen eine Bluse und darüber ein Unterkimono. Dann ziehe ich noch einen weiteren Kimono darüber an. Schließlich ziehe ich den teuren Chrysanthemen-Kimono darüber und lasse mir von Umeko-San mit dem Brokat-Obi helfen.

Anschließend drehe ich mich vor ihr und lasse mich von allen Seiten begutachten. Sie zupft an den Nähten und schaut, dass sie korrekt liegen. Nun bückt sie sich und hebt eine Geldbörse vom Boden auf.

„Nimm sie und verstaue sie in einem Ärmel!“ sagt sie und übergibt sie mir zusammen mit einem Amulett. „Für eine gute Reise und ein langes Leben!“

Ich atme tief durch. Wieder wird es lebhaft vor der Tür. Sie wird aufgeschoben und eine Gruppe Maikos füllt das Zimmer, schwatzend und lachend. Sie sprechen mit mir ihre Tänze für den Abend ab. Kurz darauf bin ich wieder mit Umeko-San alleine.

*
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Fr Jul 30, 2021 9:17 am

Eine Woche später fragt ein Soldat des Südens in der Abenddämmerung die Torwache von Yoshicho nach der Haarkünstlerin Umeko-San. Dieser beschreibt ihm den Weg. Aber der Soldat in der Uniform des Südens gibt der Wache den Blick auf vier weitere Soldaten frei. Er sagt dabei:

„Sumimasen -Entschuldigung-, Kamerad. Ich würde gerne von dir zu dem Haus geführt werden. Meine Kameraden werden in der Zeit die Torwache übernehmen! Ich verspreche dir, dass niemand erfährt, dass du meinetwegen deinen Posten verlassen hast!“

Die Torwache nickt und wendet sich zum Gehen. Angesichts der Übermacht bleibt ihm kaum etwas anderes übrig. Während der Mann den Soldaten in das Innere des Hanamachis führt, wo heute der Sake in Mengen fließt, robben unzählige Soldaten des Südens in das Innere von Yoshicho. Sie verteilen sich unter den Teehäusern und warten auf das Zeichen der Glocke, die Mitternacht einläutet.
Beim Haus der Haarkünstlerin bedankt sich der Soldat bei der Wache:

„Arigatou gozaimasu, Kamerad. Hier hast du ein Geschenk für deinen Dienst.“

Der Soldat übergibt der Torwache eine kleine Flasche Saki. Während er nun das Haus betritt, zieht sich die Wache an ihren Platz am Tor zurück. Er bedankt sich bei den Soldaten dort und öffnet die Flasche, um sich einen großen Schluck zu genehmigen. Die Soldaten entfernen sich wie selbstverständlich ins Innere des Hanamachi.

Im Haus der Haarkünstlerin trifft der Soldat nur den Gaijin an.

„Wo ist Ito-San?“ fragt er.

„Ito-San befindet sich beim Chrysanthemen-Teehaus. Sie erkennen es an der Sänfte des Fujimoto-Sensei vor dem Eingang. Die Hausherrin hier befindet sich ebenfalls dort. Ito-San hat die Umgebung des Teehauses im Blick. Umeko-San steht mit ihm im Blickkontakt und achtet auf die Geisha Moe-San, das hoffentlich letzte Opfer des Frauenhandels des Fujimoto-Sensei.“

„Und Sie sind?“ fragt der Soldat.

„Ich… Ich bin ein Besucher,“ gibt der Gaijin ausweichend Auskunft.

„Wir werden das überprüfen!“ antwortet der Soldat.

Er verlässt das Haus und geht zu der Stelle zurück, an der er eben die Sänfte gesehen hat, um dort in einer dunklen Seitengasse zu verschwinden. Anschließend kriecht er unter das Haus und gibt seine Entscheidungen an die Soldaten weiter, die sich dort postiert haben. Danach kriecht er wieder zwischen den einen halben Meter hohen Stelzen hervor und umrundet das Teehaus.

An einer Hausecke an der Hauptstraße des Yoshicho trifft der Soldat auf Ito-San.

„Konbanwa, Ito-Yushu -Guten Abend, Euer Exzellenz Ito-,“ begrüßt er den Mann, verbeugt sich leicht und schaut durch die geöffneten Regentüren in das Teehaus.

Drinnen bedient gerade eine Geisha einen Mann in teurem Gewand, während eine Gruppe Meikos einen Fächertanz aufführt zu den Klängen der Shamisen.

„Ist das die Zielperson?“ fragt er.

„Genau,“ sagt Ito-San. „Aber Achtung! Er hat seine Schlägertruppe dabei, die sich in ganz Yoshicho verteilt haben.“

„Draußen stehen Käfigwagen bereit, um die Gefangenen nach Edo zu bringen, Ito-Yushu. Eine ganze Kompanie steht bereit, die Falle zu schließen.“

„Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Major! Der Geisha darf bei der Aktion nichts geschehen! Sichern Sie sie nach allen Seiten ab beim Zugriff und öffnen Sie ihr eine Gasse, die sie zu mir führt!“

„Zu Befehl, Ito-Yushu!“

Der Soldat geht ein paar Schritte in die Gasse hinein und taucht in der Dunkelheit unter das Haus. Dort gibt er die neue Lage an seine Gruppe unter dem Chrysanthemen-Teehaus weiter.

*

Die Abenddämmerung verdunkelt Yoshicho allmählich. Die roten Laternen an jedem Haus werden entzündet. Auch an dem Okiya, der nun schon viele Monde meine Heimat ist, schrammen Leitern. Dienstboten klettern hinauf, um die Laterne zu entzünden und legen die Leiter dann an der nächsten Laterne an.

Endlich kommt die Oka-San -Mutter- und treibt uns zur Eile an. Die Gruppe der Maikos stellt sich rechts und links neben mir auf der Straße auf und geleitet mich zum Chrysanthemen-Teehaus. Insgeheim habe ich in den letzten Tagen gehofft, dass irgendetwas das Kommen Fujimoto-Senseis zumindest hinauszögert, vielleicht gar verhindern wird.

Nun, dem ist nicht so! Also muss ich mein Schicksal annehmen. Beim Teehaus angekommen, schlüpfen die Maikos auf die Bühne des Bankettsaales, während die Besitzerin des Hauses mich in einem kleinen Raum führt. Dort soll ich auf meinen auftritt warten. Ein großer ovaler Spiegel steht dort, in dem ich mein Erscheinungsbild betrachte.

Umeko-San hat sich mal wieder selbst übertroffen! Ich bin perfekt geschminkt. Das Haar ist zu einer hohen schimmernden Frisur aufgetürmt. Die Schichten meiner Kimonos hängen schwer an meinen Schultern. Sie rascheln, wenn ich mich bewege. Darunter erinnert mich das raue Kratzen der Baumwolle an mein kühnes Vorhaben.

Im Spiegel schaut mich Moe-San wie eine alte Freundin an und erfüllt mich mit Zuversicht. Als Kaede mag ich mich fürchten, aber Moe-San kann es mit jedem aufnehmen! Vom Bankettsaal nebenan höre ich das Scharren tanzender Füße, die lallenden Stimmen betrunkener Gäste und von Zeit zu Zeit schallendes Gelächter.

Die Verbindungstür zum Bankettsaal wird aufgeschoben. Die Musikerinnen lassen ihre Instrumente verstummen. Ich verharre einen Augenblick, um den Gästen des Banketts Gelegenheit zu geben, sich an meinem Anblick erfreuen zu können. Laute des Erstaunens ertönen im Saal, als ich auf die lichterfüllte Bühne trete.

Fujimoto-Sensei liegt ausgestreckt auf Kissen vor Schüsseln mit erlesenen Speisen. Er hat seinen Kopf auf einen Ellbogen abgestützt. Sein Gesicht hat rote Flecken bekommen. Ich begegne seinem Blick mit einem anmutigen Neigen meines Kopfes. Seine Augen verengen sich und ich kann das Verlangen darin brennen sehen. Es jagt mir einen Schauer über den Rücken.

Mit knisternder Schleppe gleite ich von der Bühne herunter und knie mich vor ihn hin. Ich nehme eine große, mit Sake gefüllte Schale, verbeuge mich danach tief vor ihm und biete sie ihm beidhändig dar.

Die Maikos haben wieder begonnen zu tanzen. Ich beuge mich Fujimoto-Sensei entgegen und rüge ihn spielerisch:

„Wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt? War Ihre Arbeit so wichtig, dass Sie mich nicht ein einziges Mal besuchen konnten?“

Ich forme einen Schmollmund und ergänze:
„Ich glaubte schon, dass Sie mich nicht mehr mögen.“

Er wedelt mit seinem Fächer und entgegnet lächelnd:
„Ich kann es kaum erwarten, wenn das hier vorbei ist. Ich sehe dir an, wie sehr du unartige Spiele magst!“

Während der nun folgenden Vorführung des Chefkochs und zweien seiner Küchenjungen trinkt Fujimoto-Sensei einen Sake nach dem Anderen und gibt auch mir zu trinken. Ich kippe den Sake jedesmal heimlich aus. Heute Abend gilt es nüchtern zu bleiben!

Plötzlich werden mehrere Türen an allen vier Wänden aufgeschoben. Der Raum füllt sich mit uniformierten Männern. Vereinzelt treffen sie auf Widerstand. Aber die alkoholisierten Gäste sind schnell überwältigt. Fujimoto-Sensei hat plötzlich eine Handfeuerwaffe in der Hand. Ein Schuss ertönt, oder sind es zwei? Es hört sich an, als ob ein Schuss und sein Echo zu hören sind. Erschreckt lasse ich mich zu Boden fallen.

Kurz darauf kniet Ito-San neben mir und fragt, wie es mir geht. Ich lächele zu ihm auf. Mehr ist mir in diesem Moment nicht möglich. Ito-San hilft mir auf. Ich sehe, dass Fujimoto-San an seiner Hand verletzt ist. Die Handfeuerwaffe liegt vor ihm. Vier Soldaten bemühen sich um ihn.

Ito-San führt mich durch die Gäste nach draußen auf die umlaufende Veranda, vorbei an einer dichten Mauer von Soldaten, die mir und Ito-San rechts und links ihre Rücken zukehren und so eine Gasse bilden, uns gegen mögliche Angriffe der Gäste absichernd.

Auf der Veranda ziehe ich den obersten kostbaren Kimono aus und öffne mein Haar. Die kostbaren Haarnadeln und -kämme lasse ich auf die Seide am Boden fallen und lasse mich von Ito-San durch die dunklen Gassen in einem Bogen zum Tor von Yoshicho führen.

Unterwegs entdecke ich zwischen zwei Regentüren eine Naginata -Schwertlanze- in einer Fassung stecken. Ich bleibe stehen und zerstöre die Fassung mit meinem Dolch.
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Mo Aug 02, 2021 8:21 am

Anschließend wiege ich die Lanze in meinen Händen. Meine Miene hellt sich auf. Niemand wird uns jetzt noch aufhalten können. Sollten wir uns verteidigen müssen, bin ich Ito-San keine Last, sondern kann ihm helfen.

Ito-San ist stehengeblieben. Sein Gesicht zeigt zuerst eine ärgerliche Miene. Aber als er sieht, wie ich mit der Waffe umgehe, entspannt sich sein Gesichtsausdruck wieder und macht einem Lächeln Platz.

*

Die Torwachen hat man wohl fortgeschickt, denn drei Soldaten stehen dort und halten uns auf. Ito-San weist sich aus und wir verlassen Yoshicho. Ein Gefühl der Erleichterung macht sich in mir breit. Draußen stehen mehrere Ochsengespanne, die Käfige ziehen sollen. In einigen davon befinden sich halb entkleidete Männer, deren Arme und Oberkörper mit Tätowierungen übersäht sind.

Ito-San führt mich zu einer Rikscha. Wir steigen auf und Ito-San gibt dem Rikschafahrer als Ziel ‚Tokyo‘ an. ‚Nördliche Hauptstadt‘, so heißt Edo ab jetzt!

Als der Morgen allmählich zu dämmern beginnt erreichen wir die große Stadt. Wieder muss sich Ito-San am Tor ausweisen. Dann dürfen wir passieren.

„Die Residenz des Daimyo von Kano ist niedergebrannt, wie viele andere Residenzen auch,“ bemerkt Ito-San beiläufig. „Die Feuerwehr hatte alle Hände voll zu tun, die Feuer nicht auf die Nachbarhäuser übergreifen zu lassen. Ich kann mit dir leider nicht zum Haus meines Vaters oder eines seiner Brüder kommen. Du bist zu bekannt! Ich werde dich der Witwe eines Kameraden anvertrauen. Ich fürchte, die Unterkunft wird sehr einfach sein, gegenüber der in Yoshicho.“

Ich lache leise auf.
„Bevor ich nach Yoshicho kam, habe ich mich nicht vom normalen Volk unterschieden. Den größten Teil meines Lebens habe ich ohne erlesene Speisen und Gewänder zugebracht!“

Während meiner Antwort sickert mir tröpfchenweise die Ungeheuerlichkeit meiner Tat ins Bewusstsein. Ein Gefühl der Angst will sich in mir breit machen. Ich fasse die Lanze fester. Ito-San hat mir aus der Rikscha geholfen. Den Rest des Weges führt er mich zu Fuß.

Nach einer Wanderung entlang der Häuserschatten, erreichen wir fast eine halbe Stunde später ein bescheidenes Haus. Ito-San klopft einmal, zweimal und noch einmal. Die Eingangstür wird vorsichtig aufgeschoben.

„Ohayo gozaimasu, Murakami-San,“ begrüßt Ito-San die Frau im Schatten.

Sie verbeugt sich ebenfalls und macht einen Schritt zurück. Wir betreten das Haus.

„O-jama shimasu -Ich störe jetzt-,“ sagt Ito-San laut und beginnt, sich die Schuhe auszuziehen.

Auch ich schlüpfe aus meinen Getas. Wir wechseln in Pantoffeln und wenden uns dann der Hausherrin zu. Ich darf mich in einer kleinen Kammer abschminken und mein Haar zu einem Zopf flechten, den ich am Hinterkopf zu einem Dutt drehe. Die Moe-San hat aufgehört zu existieren. Nun bin ich wieder Kaede, eine Entwurzelte.

Sie bittet uns in den Hauptraum und tischt uns Frühstück auf. Ito-San bespricht mit ihr das weitere Vorgehen, bevor er sich von mir verabschiedet. In Yoshicho hat Ito-San zur Tarnung einen Dienstboten gespielt. Auch er ist nun wieder er selbst. Er wirkt älter auf mich, ernster. Wenn er spricht, schwingt Autorität in seiner Stimme mit. Es ist allerdings eine Nuance anders als die Autorität, die mein Ehemann und Herr ausgestrahlt hat. Dieser ist kompromisslos gewesen, ein Macho eben. Ito-San zeigt Respekt und Ehrerbietung. Das finde ich anziehend.

Als er sich von mir verabschiedet, erkenne ich im Licht der Kerze sein Lächeln und die liebevollen Augen. Voller Sehnsucht beuge ich mich ihm entgegen, als ob ich alle Willenskraft verloren hätte. Er nimmt meine Hand und führt sie an seine Lippen. Ich schließe die Augen und horche nach innen auf meine Gefühle. In Yoshicho ist alles ein Spiel gewesen. Eine Geisha fühlt nichts. Sie ist eine Künstlerin der dahinströmenden Welt. Langsam wird mir bewusst, wieviel ich in all der Zeit hinter der Maske verborgen habe.

Ito-San zieht mich heran und küsst mich.

„Ich habe so lange gewartet!“ flüstert er heiser.

Er streicht mir durch mein Haar und über meinen Nacken. Dies ist der Beginn eines neuen Lebens! Da bin ich mir sicher.

Nachdem wir Frauen alleine sind, bittet Murakami-San mich, ihr im Haushalt zu helfen. Mich lächelnd verbeugend, bestätige ich es ihr. Nach dem Frühstück beginne ich im Dachgeschoß mit dem Saubermachen. Ich betrete schäbige Räume, in denen es modrig riecht, und öffne zuerst alle Fenster, die zum Innenhof hinausgehen, um Durchzug zu erzeugen. Es wird sicher Tage brauchen, bis der Geruch sich verflüchtigt hat.

*

Zwei Wochen lebe ich nun schon bei der Witwe Murakami-San. Jeden dritten oder vierten Tag erhalte ich verstohlen Besuch von Ito-San. Ich fühle mich fast so wie in den letzten Wochen in Yoshicho, als ich von der Oka-San von der Außenwelt abgeschirmt worden bin.

Ito-San hält mich weitgehend auf dem Laufenden, was außerhalb des Anwesens geschieht. Heute Abend ist mein Kareshi to Danna -Freund und Gönner- sehr aufgeregt.

„Die Burg des Daimyo von Kano ist wieder zum Leben erwacht. Eine Kompanie Soldaten wurde dorthin entsandt. Du selbst bist noch nie dort gewesen und kennst die Lage der Fluchttunnel nicht?“

Ich schaue Ito-San erschrocken an. Mein Herzschlag scheint auszusetzen. Ich hebe die rechte Hand und wedele damit vor meinem Gesicht.

„Mein Platz ist immer in der Residenz gewesen!“ presse ich zwischen den Lippen hervor und lehne mich in einem plötzlichen Schwächeanfall an ihn.

Ito-San hält mich und verspricht:
„Was auch immer passiert, ich werde dich vor allem und jedem beschützen! Aber wir müssen verhindern, dass der Daimyo die Flucht ergreift und infolge das junge Staatsgebilde sabotiert und destabilisiert.
Fühlst du dich in der Lage, mich nach Kano zu begleiten?“

Ich atme tief ein und schaue Ito-San offen an.

„Hai! Hai! -Ja! Ja!“ antworte ich und versteife mich.

Ito-San lässt eine Droschke vorfahren, eine leichte zweirädrige Kutsche von einem Pferd gezogen. Ich soll einsteigen, bietet er mir an. Kurz bleibt mein Blick an den edlen Linien des Zugpferdes hängen. Das ist KEIN Kutschgaul! Dieses Pferd ist Geschwindigkeit gewohnt.

Ich ziehe den besten Kimono an, den ich besitze. Es ist der Kimono, indem ich vor langer Zeit aus der Residenz vor den Soldaten geflüchtet bin. Auch habe ich mein Naginata -Schwertlanze- bei mir und den Dolch in meinem Obi. Ito-Sans Ausrüstung besteht aus einem Katana -Langschwert- und dem Wakizachi -Kurzschert-, die er beide nach Art der Samurai auf den Rücken geschnallt hat. Daneben hat er einen Bogen und einen Köcher voll Pfeile in seiner Ausrüstung. In seinem Gürtel steckt einer dieser neuartigen Handfeuerwaffen.

Ito-San lässt das Pferd im Schritt Tokyo verlassen. Außerhalb der Stadt beschleunigt er die Gangart des Pferdes. Die Landschaft fliegt geradezu an mir vorbei und Tokyo ist bald nur noch ein dunkler Strich am Horizont.

Am Abend sind wir nach 12 Stunden Fahrt und zwei Stunden Pause am Ziel. Ito-San gibt das Gespann in einen Stall und mietet für die Nacht eine Box.

Anschließend nähern wir uns der Burg des Daimyo von Kano. In mir fühle ich widerstreitende Gefühle, bin ich doch einmal die Frau des Daimyo gewesen. Dann vergegenwärtige ich mir aber, wie mein Ehemann mich behandelt hat und vergleiche sein Verhalten mit dem des Ito-San.

Sogleich entscheide ich mich für das Unternehmen meines Kareshi to Danna. Ich werde der Lockvogel sein, der den Daimyo solange bindet bis Ito-San ihn zur Strecke gebracht hat. Die Männer des Daimyo sollen von den Soldaten beschäftigt werden, so dass sie nicht eingreifen. Anschließend fahren wir nach Tokyo zurück, wo Ito-San mich im Shokonsha-Schrein heiraten und in die neue Tokyoter Gesellschaft einführen will.

*

Wir stehen endlich vor den Mauern der Burg. Ito-San wartet Mitternacht ab. Auf der Rückseite der Burg spannt er seinen Bogen und schießt einen Pfeil dicht an der Fassade hoch. An dem Pfeil hat er eine lange dünne Schnur befestigt. Nachdem der Pfeil in einigen Metern Entfernung den Boden wieder erreicht hat, prüft er, ob die Schnur über einem Balken des Fachwerks oberhalb der Mauer liegt.

Nun zieht er mit der Schnur ein Tau über diesen Balken und klettert daran hoch. Er stellt sich auf den Balken und schneidet das Reispapier eines Fensters auf. Nachdem er hineingeklettert ist, zieht er das Tau hoch. Wenige Minuten später kommt das Tau wieder bei mir an. Alle zwei Shaku -ca. 60cm- hat Ito-San schnell eine Schlaufe für meinen Fuß gebunden. Ich ziehe probeweise am Tau und beginne dann meinen Aufstieg.
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BeitragThema: Re: Kaede, die Samurai   Kaede, die Samurai Icon_minitime1Mi Aug 04, 2021 9:30 am

Kurz darauf stehe ich neben Ito-San, der das Tau nun wieder hochzieht und unter einigen herumliegenden Sachen versteckt, im Ooku, dem hinteren Bereich der Burg, der nur den Frauen vorbehalten ist. Zur Zeit befindet sich niemand hier.

Dann umgehen wir den Küchenbereich und steigen eine Etage höher, wo sich der Ohiroma -Saal- befindet. Wie aus Yoshicho gewohnt, steigen mir nun Gerüche in die Nase. Musik und Männergesang ertönt.

Plötzlich ein Alarmruf. Die Soldaten des Tenno haben die Burg umstellt und schießen Brandpfeile gegen das Fachwerk. Eine befehlsgewohnte Stimme ertönt und teilt die Männer zur Verteidigung ein. Mich überkommt ein Zittern. Ich erkenne die Stimme meines Herrn und Ehemanns.

Obwohl ich die Naginata hier nicht gut schwingen kann, bereite ich mich auf den Einsatz meiner Schwertlanze vor. Wir nähern uns weiter dem Saal.

Plötzlich stehe ich meinem Herrn gegenüber, der uns in den Frauenbereich entgegenkommt, eine Öllampe in der Hand haltend. Im flackernden Schein der Flamme sieht er zum Fürchten aus.

Ohne etwas dagegen tun zu können, knicken meine Beine ab und ich falle vor ihm auf die Knie. Die Naginata rutscht mir aus der kraftlosen Hand.

Meine Handflächen berühren den hölzernen Boden. Ich drücke mein Gesicht auf die Hände. Mein Herr ist stehengeblieben und streckt mir den Arm mit der Öllampe entgegen.

„Du bist das also,“ knurrt er. „Du warst auf Reisen? Das ist eine traurige Heimkehr für mich gewesen, ohne Ehefrau, die mich begrüßt und sich um mich kümmert!“

Ich zittere und kann nicht sprechen.

„Hast du deine Stimme verloren? Willst du mir nicht sagen, wie froh du bist, deinen Ehemann wiederzusehen?“

Ich hole tief Luft und schaue zu ihm auf.

„Soldaten kamen ins Haus… um mich zu töten… weil ich deine Frau bin. Ich… ich musste fliehen.“

„Du bist eine Samurai und hast Angst vor dem Tod? Deine Pflicht war es, das Haus zu verteidigen!“

Ich spüre Schuldgefühle in mir aufsteigen.

Er stellt die Öllampe neben sich und lässt sich mir gegenüber nieder. Dann packt er mich so fest am Kinn, dass es mir weh tut und starrt mir ins Gesicht, während er meinen Kopf hin und her dreht. Es scheint, als durchdringe sein Blick meine Person bis zu ihrem Innersten. Meine Augen fest zusammenkneifend, muss ich daran denken, wie die Oka-San in Yoshicho es ebenso getan hat. Dann stößt er mich so hart von sich, dass ich hinterrücks auf die Bohlen falle.

„Etwas hat sich verändert,“ konstatiert er. „Du riechst sogar anders. Du bist ein dummes kleines Ding gewesen. PlJetzt aber hast du Ungehorsam gelernt! Das kann man deutlich spüren.“

Er macht eine Pause.

„Du hast zu denken gelernt!“ fährt er fort. „Du machst Ausflüchte. Du neigst den Kopf und schaust mich durch deine Wimpern an. Du hast gelernt Spiele zu spielen, wie man Männer dazu bringt, dich zu mögen. Du bist nicht mehr meine züchtige Ehefrau, nicht wahr?“

Ich kann nichts dazu sagen. Stumm erwarte ich, was mit Sicherheit jetzt kommen wird.

„Du bist in Yoshicho gewesen. So war es doch? Wieviele Kerle aus dem Süden hast du empfangen? Dabei gehörst du mir! Du hast mir und diesem Haus Schande bereitet.“

Vor Zorn dunkelrot im Gesicht wendet er sich ab. Seit das Wort ‚Yoshicho‘ gefallen ist, weiß ich, dass ich verloren bin. Er wird mich töten, so steht es im Gesetz.

Ich presse die Hände zusammen und spüre mein Herz mit aller Macht von innen gegen die Rippen pochen. Wo ist bloß Ito-San? Was ist mit seinen Versprechungen?

Da trifft mich eine gewaltige Ohrfeige. Der Raum in dem Gang, in dem wir uns befinden, dreht sich. Eine weitere Ohrfeige trifft mich, lässt mich zurücktaumeln. Die Ohren dröhnen, der Kopf beginnt zu schmerzen. Ich fühle mich benommen, aber er hat mir in der Vergangenheit schon schlimmeres angetan – viel schlimmeres!

Ich drücke den Rücken durch, komme auf die Beine und starre ihn trotzig an. Ich werde mit Stolz sterben! Niemals werde ich um Gnade winseln!

„Sprich deine Gebete!“ befiehlt er voller Verachtung.

Wieder gehe ich auf die Knie. In Yoshicho habe ich das Leben und die Liebe kennengelernt. Ich denke an Ito-San und bedauere nichts. Nie zuvor habe ich ein solches Glück verspürt.

*

Ich habe mich weggeduckt, als ich den Daimyo mit der Laterne in der Hand den Gang herunterkommen sehe. Seine Aufmerksamkeit ist von Kaede gefesselt und seine Flucht ist erst einmal gestoppt.

Ich öffne die Schnallen meiner Stiefel in einer Nische und streife sie ab. Auf Strümpfen bin ich fast unhörbar. Wenn der Daimyo seine Hand gegen Kaede erhebt, wird mein Schwert wie von selbst aus der Scheide sausen!

Ich werfe mich mit Gebrüll nach vorne. Der Daimyo fährt herum. Er lässt sein Katana fallen, um sich mit der Schwerthand abzustützen. Kaede erwacht aus der Starre, rafft den Kimono und läuft davon.
Der Daimyo fängt sich und reißt sein Wakizachi -Kurzschwert aus der Scheide. Er dringt nun seinerseits mit Kampfgebrüll auf mich ein und schwingt das Schwert in hohem Bogen.

Stahl klirrt ohrenbetäubend auf Stahl. Die Klingen schrammen funkensprühend aneinander vorbei. Der Aufprall des ungestüm vorwärtsstürmenden Daimyo zwingt mich in die Knie.

„Sie sind das also!“ sagt der Daimyo. „Sie haben mich einmal hereingelegt. Jetzt aber werden wir kämpfen, bis einer von uns zu Boden sinkt und stirbt!“

Er tritt einen Schritt zurück und lässt mich aufstehen. Mir ist bewusst, dass ich als Erster zuschlagen muss. Aber der Daimyo lässt mir keine Zeit für den geeigneten Moment. Er dringt auf mich ein. Ich pariere den Hieb und drehe mich auf den Strümpfen von ihm weg. Die restliche Bewegungsenergie meines Gegners lässt ihn an mir vorbei gleiten. Sofort wirbelt er herum und holt erneut aus.

Unsere Klingen sind rasiermesserscharf. Sie können ohne Weiteres den Waffenarm des Gegners abtrennen, als würde jemand mit einem Messer in ein Seidentuch schneiden.

Ich habe das Gefühl, dass mein Gegner jede meiner Finten vorauszuahnen scheint. Mit Leichtigkeit wehrt er jeden meiner Hiebe ab. Ich werde gegen die Wand des Ganges getrieben, während ich seine Hiebe verzweifelt abzuwehren versuche.

Der Daimyo hat mich in die Enge getrieben. Jeder Hieb des Daimyo könnte mein Leben beenden. Plötzlich weiten sich seine Augen. Wie in Zeitlupe geht er in die Knie und kippt zur Seite.

Hinter ihm erkenne ich Kaede, mit der Naginata -Schwertlanze- in beiden Händen.

Die Lippen des Daimyo zucken. Er stößt ein Seufzen aus. Ich stoße ihm das Schwert in die Brust und drehe es. Allmählich weicht das Leben aus seinen Augen.

*

Ich, Kaede, bin bis zur Ecke des Ganges gerannt und habe von dort dem Kampf mit schreckgeweiteten Augen zugesehen. Der Daimyo ist Ito-San überlegen, muss ich mehr und mehr eingestehen. Er wird sterben und hat damit meinem Tod nur einen Aufschub gegeben. Sofort danach wird der Daimyo sich wieder mir zuwenden.

Die Kämpfenden haben sich im Kampf von mir entfernt. Siedend heiß fällt mir mein Naginata ein. Ich werde mein Leben so teuer wie möglich verkaufen! Welchem der Kämpfer mein Herz gehört, weiß ich längst.

Ich laufe zu meiner Schwertlanze, hebe sie auf und wiege sie in meinen Händen. Dann schaue ich zu den Kämpfenden. Ito-San ist vom Daimyo in die Defensive getrieben worden.

Ich schwinge die Naginata gegen die Beine meines verhassten Ehemannes und springe zurück. Er kippt um und Ito-San versetzt ihm den Todesstoß.

Ito-San kniet sich neben den Daimyo und sagt:
„Er verdient Respekt! Er war ein großer Krieger der alten Zeit. Wir werden für eine angemessene Bestattung sorgen und ihn in seinem Familiengrab beisetzen.“

Dann schaut er mich an, lächelt und spricht anerkennend:
„Auch du bist eine Kriegerin. Du hast mir das Leben gerettet.“

Ich fasse ihn an der Hand. Wir erheben uns. Das Kampfgeschrei ist abgeebbt. Zusammen gehen wir in Richtung des Saales. Der Kommandant der Soldaten des Tenno kommt uns in Begleitung zweier Unteroffiziere entgegen.

Niemand wird mich jemals wieder bedrohen. Da bin ich mir sicher.

Nachdem sich Ito-San mit dem Kommandanten besprochen hat, wird am nächsten Tag alles zur Einäscherung und Beisetzung des Daimyo in seinem Familiengrab vorbereitet. Ich habe Ito-Sans Wunden versorgt und zwei Tage nach der Einnahme der Burg fahren wir mit unserem Gespann wieder nach Tokyo zurück.

Ito-San stellt mich nun seinen Eltern vor und bittet seinen ehrenwerten Vater um den Segen für unsere Hochzeit.
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