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 Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-

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BeitragThema: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Mi Jul 05, 2023 10:30 am

Mein Name ist Hans Hermann Richardson aus Glücksburg in Schleswig-Holstein, der Wiege der Könige. 1886 bin ich dort geboren. Nach dem Besuch der Volksschule habe ich den Beruf des Schriftsetzers erlernt. Danach bin ich in die kaiserliche Marine eingetreten und 1909 in die deutsche Kolonie Tsingtao seiner Majestät Wilhelm II abkommandiert worden. Sie liegt in China, also ganz weit weg von der Heimat.

Das imperialistische Japan hat nun begonnen, sein Herrschaftsgebiet immer weiter auszudehnen. Aber unsere Offiziere sind wenig nervös. Unser Gebiet, wie auch andere europäische Kolonien an Ostasiens Küsten genießen Immunität, ist ihre Begründung. Dann bricht jedoch der große Krieg aus. Japan nimmt an der Seite der Feinde Deutschlands daran teil.

Unsere Ostasienflotte befindet sich bei Kriegsausbruch auf einer Kreuzfahrt im Pazifik. Daran kann man erkennen, dass wir vom Kriegsausbruch völlig überrumpelt worden sind. Ich habe mich bis jetzt zum Fähnrich zur See hochgedient.

Schon kurz nach Ausbruch des Krieges wird Tsingtao von See her blockiert und die Feinde übermitteln uns ein Ultimatum. Die Offiziere vertrauen auf unsere Stärke und hoffen auf die rechtzeitige Rückkehr unserer Flotte. Nach Ablauf des Ultimatums landen die Feinde 30 Kilometer östlich der Stadt und beginnen ihren Marsch gegen uns. Wir sind 4700 Mann in der Garnison und müssen einem 15fach stärkeren Feind standhalten.

Es gelingt uns die Stadt Tsingtao zwei Monate lang zu verteidigen. Dann müssen wir uns der Übermacht ergeben und hissen die weiße Flagge. Die Briten erhalten von den Japanern unsere Schwerverwundeten überstellt. Der Rest von uns muss eine Seereise in die Gefangenschaft nach Japan antreten. Wir sind 6000 Mann, also der Rest der Garnisonsangehörigen und einige andere Europäer. Nach Ende der Seereise landen wir auf der kleinen japanischen Insel Shikoku. Dort werden wir im Lager Bandô zusammengefasst.

Unser Lagerleben ist wider Erwarten recht liberal. Wir haben immer wieder Kontakt zur örtlichen Bevölkerung. Man erlaubt uns Sport zu treiben und kulturellen Beschäftigungen nachzugehen. Sogar eine Lagerzeitung dürfen wir gründen. Wir nennen sie ‚Die Baracke‘ und ich melde mich aufgrund meiner Vorkenntnisse als Schriftsetzer zur Mitarbeit.

Meine häufigsten Kontakte zu Japanern bestehen aus zwei Personen. Das ist zum einen die Hon’yaku-sha -Dolmetscherin- Tomohisa-San und zum anderen die Heasutairisuto -Friseurin/Haarstylistin- Hashimoto-San. Die Dolmetscherin erhält immer zuerst die neueste Ausgabe der Lagerzeitung. Sie übersetzt sie ins Japanische und legt die Übersetzung dem Lagerkommandanten vor. Erst, wenn er sie genehmigt, kann sie in Druck gehen.

Durch meine Arbeit habe ich oft mit der Dolmetscherin zu tun und lerne von ihr allmählich die japanische Sprache. Alle paar Wochen kürzt die Friseurin unsere Haare. Anfangs ist immer ein japanischer Soldat anwesend, aber mit der Zeit ist die Friseurin bei ihrer Arbeit mit uns allein. Während die Dolmetscherin mit Kolleginnen, die andere europäische Sprachen sprechen, in der Nähe des Lagerkommandanten eine Baracke bewohnt, kommt die Friseurin jedesmal mit einer Tasche aus dem nahen Dorf ins Lager. An den Markttagen, einmal in der Woche, kommen auch Bauern aus der Umgebung ins Lager, um ihre Produkte anzubieten.

*

Im Lager kommt es hin und wieder zu kleineren Streitereien, wenn einer sich beim Spiel von einem Kameraden übervorteilt fühlt. Hier muss ich als Fähnrich eingreifen und die Streithähne trennen, wenn so etwas in meinem Bereich geschieht. Wenn sich eine solche Begebenheit auf dem Markt zwischen Gefangenen und Einheimischen ereignet, wird der beteiligte Gefangene von den Wachsoldaten körperlich hart bestraft. Scharmützel untereinander werden dagegen durch Box- oder Ringkämpfe streng nach sportlichen Regeln ausgefochten.
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Do Jul 06, 2023 9:20 am

Hashimoto-San, unsere Friseurin, erregt schnell meine Aufmerksamkeit. Sie ist wirklich eine hübsche Frau. Deshalb habe ich unsere Dolmetscherin Tomohisa-San gefragt, zu welchem Typ Mann sich eine Japanerin hingezogen fühlt. Sie erklärt mir lächelnd:

„Der Mann, der einer Japanerin imponieren will, muss einen ritterlichen Charakter beweisen, Rishâdoson-San. Er sollte in seinem Auftreten sehr respektvoll sein.“

Als mein Japanisch so weit gediehen ist, dass ich es wage einem der Wachsoldaten eine solche Frage zu stellen, lächelt der Mann und meint:

„Der Mann sollte ihr respektvoll gegenübertreten, aber nicht katzbuckelnd die Frau über sich stellen. Die japanische Frau mag keinen Diener, sondern er sollte in seinem Bereich erfolgreich und durchsetzungsstark sein, ohne ihre Rechte zu missachten.“

‚Hm,‘ brumme ich in Gedanken. ‚Das läuft auf eine Gratwanderung hinaus. Nun bin ich als Fähnrich in der glücklichen Lage, meinen Männern zu sagen wo es lang geht. Gegenüber Frauen muss ich ein ritterliches Auftreten beweisen können. Fingerspitzengefühl ist gefragt.‘

Tomohisa-San, unsere Dolmetscherin, habe ich auch gefragt, warum ich unter den Einheimischen auf dem Markt im Lager Bandô nie einen Vornamen höre. Alle sprechen sich mit dem Familiennamen an. Auch möchte ich wissen, was das Anhängsel ‚San‘ bedeutet. Die Dolmetscherin erklärt mir dazu:

„‚San‘ bedeutet auf Deutsch ‚Herr‘ oder ‚Frau‘. Wir Japaner hängen es an die Familiennamen an, während Europäer es dem Familiennamen voranstellen.“

Ich nicke verstehend und frage noch einmal nach der Abwesenheit von Vornamen im Alltag. Sie lächelt und erklärt:

„Japaner hüten ihren Vornamen wie einen wertvollen Schatz. Jemanden einfach so danach zu fragen ist respektlos. Haben sich ein Japaner und eine Japanerin getroffen und fühlen Zuneigung füreinander, verabreden sie sich höflich für weitere Treffen. Kommt es dabei zu einem romantischen Moment, nachdem sich beide einige Monate geprüft haben, kann der Mann versuchen, die Frau nach ihrem Vornamen zu fragen. Das ist in etwa das Gleiche, als würde in Deutschland ein Mann seine Liebste fragen ‚Magst du mich heiraten?‘“

Auch hier darf der Mann erstens nicht ‚mit der Tür ins Haus fallen‘ und zweitens nicht zu lange warten, sonst löst die Frau die Verbindung. Wieder einmal ist Fingerspitzengefühl gefragt, erklärt mir Tomohisa-San.

Während Hashimoto-San mir alle paar Wochen die Haare kürzt, bin ich dank der Lehrgänge in Japanisch bei unserer Dolmetscherin immer mehr in der Lage, mich mit der Friseurin zu unterhalten. Anfangs lacht sie noch hinter vorgehaltener Hand oder fragt, was ich denn meine. Bald reden wir immer flüssiger miteinander.

Hashimoto-San interessiert sich genauso für das Leben in Deutschland, wie ich mich für das Leben in Japan interessiere. Bald begleite ich Hashimoto-San bis zum Tor des Lagers und hole sie dort ab, wenn ich weiß, wann sie wieder dort erscheint. Irgendwann spaziert sie mit mir zu den Seen am nördlichen Rand des Lagers, sich mit mir unterhaltend. Es hat den Anschein, dass sie auch mich sympathisch findet und das Zusammensein mit mir genießt.

Ihr Interesse gilt nicht nur dem Alltag in Deutschland, sondern auch der deutschen Kultur. Wie ich feststellen kann, haben es ihr die deutschen ‚Dichterfürsten‘ angetan. Einmal soll ich ihr den Text von Goethes ‚Erlkönig‘ aufsagen. Ich grabe tief in meinen schulischen Erinnerungen und schaffe es tatsächlich ohne zu stocken. Hashimoto-San hört mir andächtig zu.

Mehrfach hat sie mich schon am Tor gefragt:
„Kannst du mir bitte helfen, Rishâdoson-San?“

Japaner haben ein kleines Problem mit der Aussprache europäischer Wörter. Ich gehe darüber hinweg. Ja, ich fühle mich geehrt, dass sie versucht, mich bei meinem Namen zu nennen. Die Frage um Hilfe, an mich gerichtet, zeigt mir ihre große Sympathie. Eine Japanerin wählt sehr genau aus, wem sie eine solche Frage stellt, hat mir unsere Dolmetscherin erklärt.
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Fr Jul 07, 2023 9:05 am

Oft habe ich dann ganz europäisch reagiert und geantwortet:
„Yorokon de -Gerne-.“

Danach habe ich ihre Tasche mit den Scheren, Kämmen und Rasierklingen getragen. Nach einem Gespräch mit Tomohisa-San, unserer Dolmetscherin, habe ich eine andere Formulierung benutzt, um ihre Frage um Hilfe zu beantworten:

„Kimi no tame nara nandemo suru yo, Hashimoto-San -Für dich würde ich alles tun, Hashimoto-San-!“

Dieser Satz zeigt ihr im Gegenzug meine Sympathie für sie. Als ich den Satz zum ersten Mal gebraucht habe, hat sie mir ihre Tasche mit einem warmen Lächeln übergeben. Unterwegs zu ihrem Salon meint sie dann:

„Anata to issho ni iru to ochitsuku na -Ich fühle mich geborgen bei dir-.“

So flirtet man anscheinend in Japan. Als einmal wenig los ist und noch so viel Zeit bis das Tor für die Nacht schließt, fragt sie mich:

„Lass uns etwas Zeit gemeinsam verbringen.“

Ich habe ihre Bitte mit dem Vorschlag beantwortet:
„Lass uns um den See spazieren.“

Sie ist auf den Vorschlag eingegangen und wir haben uns aufgemacht. Es ist Frühling gewesen, vor dem Kirschblütenfest. Die Kröten und Lurche suchen ihre Laichplätze auf. Viele sind im Doppelpack unterwegs, weil sich die Männchen an die Weibchen klammern. Als ein solches Doppelpack vor uns über den Weg hüpft und dann mit einem Platschen im See verschwindet, rezitiere ich ein japanisches Kurzgedicht, einen Haiku, das ich in der Redaktion unserer Zeitung ‚Die Baracke‘ gehört habe:

„Uralter Teich, ein Frosch springt hinein, plopp.“

Hashimoto-San verhält im Schritt und wendet sich mir zu:
„Das ist ein uraltes Haiku! Den kennst du, Rishâdoson-San?!“

Ich nicke lächelnd und meine:
„Man nimmt an, dass der Autor ein gewisser Matsuo Bashô ist, der in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts gelebt hat. Im Kiyosumi Garden in Tokyo soll es ein Denkmal geben, habe ich gehört.“

„Er gibt wunderbar die Situation wieder,“ resümiert sie.

Über ein Jahr verbringen wir inzwischen unsere Freizeit auf diese Weise miteinander, als ich mir einen Ruck gebe und Hashimoto-San in einem Moment frage, als wir unter vier Augen sind:

„Darf ich deinen Vornamen erfahren, Hashimoto-San?“

Bisher sind wir immer nebeneinander hergegangen, in die gleiche Richtung blickend. In letzter Zeit haben wir dabei immer öfter die Finger unserer Hände ineinander verschränkt. Nun wendet sie sich zu mir, schaut mir in die Augen und erklärt:

„Ich heiße Matsu.“

Ich lächele sie glücklich an und antworte ihr sogleich:
„Mein Name ist Hans Hermann. Im Familien- und Freundeskreis nennt man mich kurz Hans.“

Wir gehen ein paar Schritte, dann frage ich Matsu:
„Wie ist das eigentlich in Japan, wenn zwei Menschen sich so sehr mögen, dass sie eine Familie gründen wollen?“

„Zuerst wird eine Verlobung gefeiert. Die Eltern der Braut gehen mit ihr zu den Eltern des Bräutigams. Dort werden Geschenke ausgetauscht und man lernt sich bei einem Essen kennen.“

„Was für Geschenke tauscht man denn so im Allgemeinen aus?“ frage ich interessiert.

„Es sind heutzutage symbolische Geschenke. Ein paar Meeresalgen, zum Beispiel, und einen Kamoku -Fächer-. Die Meeresalgen symbolisieren den Wunsch nach Vergnügen und Freude. Der Fächer steht für Wachstum und Wohlstand. Auch eine Geldsumme wird ausgetauscht. Dabei wird darauf geachtet, dass die Summe ungefähr gleich hoch ist, damit der Austausch seine Symbolik behält.“

„Hm, einen Fächer kann ich auf dem Markt kaufen. Gibt es dort auch diese Algen zu kaufen?“
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Sa Jul 08, 2023 10:31 am

Sie nickt und erklärt:
„Am nächsten Markttag begleite ich dich über den Markt und zeige es dir.“

Ich bin froh über die Hilfe und stimme gern zu. An diesem Markttag spricht Matsu eine der Marktfrauen an. Diese greift in ein Fach unter ihrer Ware und präsentiert mir lächelnd einen braunen Lappen, einen Fächer mit einer wunderschönen Grafik, wenn man ihn aufklappt und einen kostbar aussehenden Umschlag. Ich kaufe der Frau die Dinge ab.

In diesen Umschlag stecke ich die Geldscheine, die ich bisher gespart habe. Der japanische Lagerkommandant erlaubt die Beziehung, wenn Matsu mit mir in das Zimmer hinter ihrem Salon einzieht und so wie die Dolmetscherinnen im Lager lebt. Wir richten dort eine kleine Wohnung her und ich lade Matsus Eltern zu mir ein.

An dem Tag der Verlobung kommt Matsu mit ihren Eltern zu mir. Wir setzen uns im Kniesitz und im Schneidersitz gegenüber und tauschen die Geschenke aus. Einer der jungen Matrosen trägt nun Essen aus der Lagerküche auf. Matsus Vater fragt mich:

„Werden Sie Matsu stets beschützen und mit Respekt begegnen, Rishâdoson-San?“

Ich erkläre mit ernster Miene:
„Hai -Ja-, das werde ich mein Leben lang tun!“

„Wie stehen Sie zu ihrem Friseurgeschäft? Wird sie es nach der Hochzeit aufgeben müssen?“ fragt er weiter.

„Wenn Matsu es wünscht, darf sie gerne weiterhin Friseurin bleiben,“ erkläre ich. „Ich habe nichts dagegen.“

Nun lacht mein zukünftiger Schwiegervater und deutet auf die Teller zwischen uns.

„Wird Matsu dieses Essen verzehren müssen oder unsere gewohnten Speisen kochen dürfen?“

„Matsu lasse ich freie Hand!“ erkläre ich ihm. „Was sie kocht, esse ich mit Genuss.“

Er nickt und führt sein Verhör fort:
„Wer verwaltet die Familienfinanzen?“

Ich nicke lächelnd und antworte ihm:
„Ich hörte von Ihrer verehrten Tochter, dass der japanische Mann seiner Frau sein Gehalt aushändigt. Er bekommt ein Taschengeld mit dem er seine Ausgaben bei Firmenfeiern bestreiten kann. Den Rest des Geldes verwaltet sie. Ich denke, ich würde es genauso halten.“

Wir haben inzwischen unsere Teller geleert. Die Ordonanz verteilt nun Sake, den wir als Zustimmung austrinken. Hashimoto-San hebt seine Schale und wünscht:

„Kanpai -Prost-!“

Wir machen es gleich. Danach bringt die Ordonanz Tee und Teegebäck auf den Tisch. Bald darauf verlässt Hashimoto-San uns in Begleitung seiner Frau und Tochter.

An den folgenden Tagen begleiten zwei japanische Wachsoldaten Matsu, um den Wohnraum hinter dem Friseursalon auszustatten. Ihre persönlichen Dinge bringt sie aus dem Haus ihrer Eltern mit. Anderes kauft sie bei den Händlern und Handwerkern im Heimatdorf.

Der Lagerkaplan führt am folgenden Sonntag die christliche Trauung durch. Anschließend werden wir noch nach dem Shinto-Ritus im Kotohiragu-Schrein getraut. Wir fahren dorthin und betreten die Treppe, eine wirkliche ‚Himmelstreppe‘! 785 Stufen führen hinauf zur Haupthalle. Der Aufstieg dauert 45 Minuten. Dort oben können wir verschnaufen, denn wir müssen warten bis wir an der Reihe sind. Danach feiern wir in einer Gaststätte. Diese Feier finanziert uns der japanische Lagerkommandant. Dafür bin ich ihm sehr dankbar!

*

Ich bin Hashimoto Matsu und im 25. Jahr Meiji -aufgeklärte Herrschaft- des Tennô Mutsuhito geboren worden. Meine lieben Eltern haben mich die Schule in unserem Dorf besuchen lassen. Anschließend haben sie bei der Friseurin unseres Dorfes angefragt, ob sie mich lehrt den Dorfbewohnern die Haare zu machen.

Die Ausbildung hat mir sehr viel Spaß gemacht. Irgendwann hat die ehrenwerte Haarkünstlerin gemeint, ich wäre soweit. Sie könne mir nichts mehr beibringen. Meine Eltern sind stolz und schenken mir eine lederne Tasche mit langem Schulterband. Sie ist gefüllt mit allen Werkzeugen, die eine Haarkünstlerin für ihren Beruf braucht. Ich gehe nun von Haus zu Haus, wo eine Haarkünstlerin gebraucht wird.


Zuletzt von hermann-jpmt am So Jul 09, 2023 10:07 am bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1So Jul 09, 2023 10:06 am

Im 44. Jahr Meiji ist der göttliche Tennô verstorben. Mit seinem Nachfolger Yoshihito wurde eine neue Ära ausgerufen. Die neue Ära heißt Taishô -große Gerechtigkeit-. Im zweiten Jahr Taishô hat ein großer Krieg begonnen. Schon in den ersten Tsuki -Monaten- wird ein Gefangenenlager in der Nähe unseres Dorfes errichtet. Es wird Bandô Furioshûjôjo genannt, ganz genauso wie unser Dorf.

Kurz darauf werden die ersten Gefangenen in dem Lager interniert. Es sind durchweg Gaijin -Ausländer/Europäer-. Die militärische Lagerverwaltung fragt nun im Dorf nach einer Haarkünstlerin, die die Gefangenen frisieren soll. Es heißt, dass die Person nicht mit dem Gaijin alleine ist. Zwei Wachsoldaten achten darauf, dass der Friseurin nichts geschieht.

Meine Eltern ermutigen mich, dass ich mich bei der Lagerverwaltung melden soll. Anscheinend fühlt sich meine ehrenwerte Ausbilderin nicht in der Lage dazu. Also wandere ich mit meiner Tasche auf das Tor des Lagers zu und verbeuge mich vor den Wachsoldaten. Ich erkläre ihnen, weshalb ich gekommen bin und einer der beiden Männer führt mich zur Hütte der Lagerverwaltung. Mich vor dem Lagerkommandanten tief verbeugend, erkläre ich ihm den Grund meiner Anwesenheit.

Er nickt lächelnd und beauftragt den Mann, der mich hergeführt hat, mir den Miyôin -‚Friseursalon‘- zu zeigen. Von nun an erhalte ich alle Ikkoku -30 Minuten- von der Stunde der Schlange (9-11Uhr) bis zur Stunde des Hundes (19-21Uhr) einen neuen Kunden. Je zwei Wachsoldaten bringen mir jeweils einen Gaijin zum Haareschneiden und bleiben dabei, während ich arbeite.

Einer der Gaijin sticht aus der Menge der anderen hervor. Er versucht mit aufgeschnappten japanischen Wörtern ein Gespräch zu beginnen. Oft muss ich über die Versuche lächeln und verberge dann mein Gesicht höflich hinter vorgehaltener Hand. Manchmal meine ich zu verstehen, was er sagen will, und frage dann noch einmal nach.

Bald weiß ich, dass er ein Unteroffizier des fremden kaiserlichen Militärs aus Europa ist. Sein Japanisch wird immer besser. Ich beginne nun auch, ihm über gewisse sprachliche Hürden zu helfen, denn der Mann ist mir sympathisch.

Irgendwann werden die Gajin nicht mehr von Wachsoldaten zu mir geführt. Sie kommen selbständig zum Haareschneiden, warten bis sie an der Reihe sind und tragen sich dann in eine Besucherliste ein. Der Unteroffizier kommt mich jedesmal am Tor des Lagers abholen, wenn er seine Haare geschnitten haben möchte und begleitet mich zum Friseursalon, wo er sich in die Reihe der Wartenden einsortiert.
Während wir vom Tor zum Salon gehen, fragt er mich über das Leben in Japan aus. Im Gegenzug will ich mehr über das Leben in seiner Heimat wissen. Irgendwann habe ich ihn gefragt:

„Kannst du mir bitte helfen, Rishâdoson-San?“

Ich hebe die lederne Tasche mit meinen Scheren und Kämmen von meiner Schulter und schaue ihn dabei lächelnd an. Oft antwortet er mir darauf:

„Gerne.“

Einmal ändert er seine Formulierung und erklärt:
„Für dich würde ich alles tun, Hashimoto-San.“

Ich gebe meine Tasche mit einem freundlichen Lächeln an ihn weiter. Als wir den Friseursalon fast erreicht haben, bemerke ich ernsthaft:

„Ich fühle mich geborgen bei dir.“

So vergehen die Wochen im Gefangenenlager. Bei meinen Besuchen sind immer unterschiedlich viele Gaijin da, die frisiert werden wollen. So geschieht es einmal, dass noch eine Menge Zeit ist, bis das Tor verschlossen wird. Nun fordere ich Rishâdoson-San auf:

„Lass uns etwas Zeit gemeinsam verbringen.“

Er macht mir den Vorschlag:
„Lass uns um den See spazieren.“

Am nördlichen Rand des Lagers liegt ein See. Er ist mit meinem Vorschlag einverstanden und so spazieren wir, uns unterhaltend, über die Wege dort. An einem Frühlingstag, noch vor Hanami -Kirschblütenfest- zur Zeit der Krötenwanderung, suchen Kröten und Lurche ihre Laichplätze auf. Viele hüpfen vor uns über den Weg, um danach im See unterzutauchen. An diesem Tag überrascht mich Rishâdoson-San.

Viele der Kröten sind im Doppelpack unterwegs. Die kleineren Männchen sind auf die stärkeren Weibchen geklettert und lassen sich von ihren Weibchen zum Wasser tragen. Als ein solches Doppelpack unseren Weg kreuzt und mit einem ‚Platsch‘ im See verschwindet, spricht mein Begleiter:

„Uralter Teich, ein Frosch springt hinein, plopp.“

Ich bleibe stehen, wende mich Rishâdoson-San zu und frage ihn erstaunt:
„Das ist ein uraltes Haiku! Den kennst du, Rishâdoson-San?!“

Er lächelt mich an und meint:
„Man nimmt an, dass der Autor ein gewisser Matsuo Bashô ist, der in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts gelebt hat. Im Kiyosumi Garden in Tokyo soll es ein Denkmal geben, habe ich gehört.“
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Mo Jul 10, 2023 10:23 am

„Er gibt wunderbar die Situation wieder,“ resümiere ich versonnen.

Nun kenne ich Rishâdoson-San schon über ein Jahr. Inzwischen bin ich 22 Jahre alt. Er verhält sich mir gegenüber sehr respektvoll und hilfsbereit, aber er kann auch anders! So habe ich einmal miterlebt, wie ein junger Matrose gekommen ist und ihn gerufen hat, einen Streit unter Gaijin zu schlichten. Er ist zu den Männern gegangen und hat im Befehlston gesprochen:

„Stillgestanden!“

Die Männer haben sich schon am Boden gewälzt. Nun erheben sie sich und stehen steif wie Puppen.
„Was geht hier vor?“

Beide Männer erzählen ihm nacheinander ihre Version des Streits. Rishâdoson-San befindet:
„Ihr wisst, dass der Auslöser eigentlich eine Nichtigkeit war?“

Die Männer lassen die Köpfe hängen und nicken. Anschließend befiehlt Rishâdoson-San, dass die Männer ihren Streit bei einem regelkonformen Ringkampf ausfechten sollen. Er bleibt dabei und macht den Ringrichter. Schließlich gehen die Streithähne ausgepowert vom Platz. Ich habe mich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, auch weil der Ringkampf eine ganze Traube von Zuschauern angelockt hat.

Als wir wieder einmal den Rundweg um den See zum Spazierengehen nutzen, lässt Rishâdoson-San meine Hand los und wendet sich unvermittelt zu mir um. Wir sind eine ganze Strecke stumm nebeneinander her gegangen. Ich habe die romantische Stimmung genossen. Nun schaue ich ihn überrascht an.

„Darf ich deinen Vornamen erfahren, Hashimoto-San?“ fragt er mich in einem bittenden Tonfall.

Ihm lächelnd in die Augen schauend, erkläre ich:
„Watashi no namae Matsu -Ich heiße Matsu-.“

Rishâdoson-San lächelt glücklich und antwortet mir:
„Mein Name ist Hans Hermann. Im Familien- und Freundeskreis nennt man mich kurz Hans.“

Oh, mein Begleiter heißt also Hansu Hâman und er möchte kurz Hansu genannt werden. Wir gehen in Gedanken versunken ein paar Schritte weiter. Jetzt fragt Hansu:

„Wie ist das eigentlich in Japan, wenn zwei Menschen sich so sehr mögen, dass sie eine Familie gründen wollen?“

Lächelnd kläre ich ihn auf:
„Zuerst wird eine Verlobung gefeiert. Die Eltern der Braut gehen mit ihr zu den Eltern des Bräutigams. Dort werden Geschenke ausgetauscht und man lernt sich bei einem Essen kennen.“

„Was für Geschenke tauscht man denn so im Allgemeinen aus?“ fragt er interessiert.

Also präzisiere ich:
„Es sind heutzutage symbolische Geschenke. Ein paar Meeresalgen, zum Beispiel, und einen Kamoku -Fächer-. Die Meeresalgen symbolisieren den Wunsch nach Vergnügen und Freude. Der Fächer steht für Wachstum und Wohlstand. Auch eine Geldsumme wird ausgetauscht. Dabei wird darauf geachtet, dass die Summe ungefähr gleich hoch ist, damit der Austausch seine Symbolik behält.“

„Hm, einen Fächer kann ich auf dem Markt kaufen. Gibt es dort auch diese Algen zu kaufen?“ fragt Hansu weiter.

Ich nicke und erkläre mich bereit:
„Am nächsten Markttag begleite ich dich über den Markt und zeige es dir.“

Seit einigen Monaten dürfen die Bauern aus unserem Dorf einmal in der Woche ihre Produkte im Lager anbieten. Ich gehe nach dem Gespräch zu einer Bekannten im Dorf und bitte sie, zum nächsten Markttag die entsprechenden Verlobungssymbole mitzubringen. An diesem Markttag führe ich Hansu über den Markt und spreche dort meine Bekannte an. Sie greift in ein Fach unter ihrer Ware und präsentiert Rishâdoson-San lächelnd eine Braunalge, einen Fächer und einen kostbaren Umschlag. Hansu bezahlt die Dinge.

Wir sind vorher noch zum Lagerkommandanten gegangen. Ich habe mich nach der Begrüßung tief verbeugt. Rishâdoson-San hat die Fersen seiner Stiefel so hart zusammengeschlagen, dass es knallt und danach die rechte Hand zum militärischen Gruß an seine Stirn gehoben. Anschließend hat er dem Lagerkommandanten unseren Wunsch vorgetragen und der Offizier hat dabei gelächelt und genickt. Anschließend hat er der Verbindung zugestimmt. Allerdings hat er zur Bedingung gemacht, dass ich nach der Vermählung aus meinem Elternhaus ausziehe und in den Raum hinter dem Friseursalon meine Wohnung nehme. Ich würde also dauerhaft im Lager leben, an der Seite meines Hansu.
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Di Jul 11, 2023 10:06 am

Rishâdoson-San schiebt so viele Geldscheine in den Umschlag, wie ich ihm rate. Am Tag der Verlobung gehe ich in Begleitung meiner Eltern zu Hansu. Sie wissen natürlich, dass seine Eltern nicht anwesend sein können und haben das als gegeben akzeptiert. Mama und ich setzen uns im Kniesitz vor eine auf dem Boden liegende Tischdecke. Papa und Hansu setzen sich im Aguda -Schneidersitz- gegenüber und tauschen die Geschenke aus. Einer der jungen Matrosen trägt jetzt Essen aus der Lagerküche auf. Papa beginnt nun Hansu Fragen zu unserer Zukunft zu stellen. Ich denke, Hansu kann sie zu Papas Zufriedenheit beantworten. Nach einer Weile hebt Papa seine Schale mit Sake vor seinen Mund und wünscht:

„Kanpai -Prost-!“

Damit wäre alles Vorherige beschlossene Sache. Kurz darauf erhebt sich Papa und verabschiedet sich höflich von Rishâdoson-San. Danach verlassen wir Drei das Lager und gehen zurück ins Dorf nachhause.

Der Lagerkommandant hat zwei Wachsoldaten mit einer zweirädrigen Karre abgestellt, die mir helfen sollen, den Wohnraum hinter dem Friseursalon auszustatten. Meine persönlichen Dinge aus dem Zimmer in der Wohnung meiner Eltern kommen auf diese Weise ins Lager. Anderes kaufe ich bei den Händlern und Handwerkern im Dorf.

Am folgenden Sonntag erlebe ich eine christliche Trauung im Lager. Viele Gaijin, aber auch Wachsoldaten und die Lagerverwaltung nehmen daran teil. Danach fährt der Lagerkommandant mit seinem Chauffeur, uns beiden und meinen Eltern zum Kotohiragu-Schrein auf der Insel, auf der unser Dorf und das Lager stehen.

Nachdem wir ausgestiegen sind, erklettern meine Eltern, wir beide und der Lagerkommandant die Stufen zum Schrein. Bis wir in der Haupthalle stehen ist ein jôkoku -Dreiviertelstunde- vergangen. Als wir an der Reihe sind opfern wir einen Sakaki-Zweig und nippen reihum an drei Schalen Sake. Danach ist die Hochzeit nach dem Shinto-Ritus vollzogen. Anschließend fährt der Chauffeur des Lagerkommandanten mit uns ins Lager zurück. Dort haben die Leute eine Feier organisiert.

*

Ein Jahr nach der Hochzeit wird uns Shiho geboren. Die Rotkreuz-Schwestern in der Krankenstation waren mir eine sehr gute Hilfe! Wir schreiben jetzt das fünfte Jahr Taishô.

Solange Shiho noch nicht sitzen kann, nehme ich sie, in einem Tuch am Körper liegend, überall hin mit. Dann ist sie etwa neun Monate alt und kann allmählich sitzen. Nun lasse ich Shiho immer wieder einmal im Wohnraum hinter dem Friseursalon allein, während ich einen Gaijin oder einen Wachsoldaten frisiere.

Sie hat ein wenig Spielzeug, mit dem sie sich eine Weile beschäftigen kann. Dennoch habe ich immer ein Ohr für Shiho und lasse den Mann kurz sitzen, wenn Shiho mich braucht.

Hansu verlässt uns morgens nach dem Frühstück. Er arbeitet bei der deutschen Lagerzeitung ‚Die Baracke‘. Zu Mittag ist er immer zurück. Er isst mit uns und legt Shiho auf den Futon schlafen. Danach geht er noch einmal in die Druckerei zurück. Am frühen Abend hat er immer Feierabend.

So auch heute. Ich habe schon sechs Kunden die Haare geschnitten, als ein Gaijin hereinkommt. Er benimmt sich merkwürdig fahrig. Ich weise auf das Heft mit der Besucherliste und achte darauf, dass er seinen Namen hineinschreibt. Dann bitte ich ihn, sich zu setzen. Währenddessen nehme ich schon einmal die Schere in die Hand. Seine Haare haben es nötig.

Plötzlich wendet er sich mir zu und bedenkt mich mit einem Schwall unflätiger Ausdrücke. Er erhebt sich wieder. Nun ist er einen Kopf größer als ich. Er beschimpft mich weiter und hat mir plötzlich die Schere aus meiner Hand gewunden. Dann wird alles schwarz um mich.

*
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Mi Jul 12, 2023 9:23 am

Inzwischen schreiben wir Herbst des Jahres 1918. Etwa zweieinhalb Jahre bin ich nun mit Matsu verheiratet und lebe mit ihr in dem Teil einer Baracke, in dem ihr Friseursalon liegt. Dahinter haben wir einen Wohnraum. Seit ungefähr anderthalb Jahren lebt ein kleines Mädchen bei uns. Die Rotkreuz-Schwestern in der Krankenstation haben dabei geholfen Shiho -vier Schritte- auf die Welt zu bringen.

Während ich bis mittags in der Druckerei arbeite, zum Essen nachhause komme und am Nachmittag noch einmal kurz zur Druckerei gehe, schneidet Matsu den Lagerinsassen – Deutsche, Italiener und Japaner – die Haare. Klein-Shiho hat immer in einem Tuch an Matsus Körper geschlafen. Später, als Shiho sitzen kann, spielt oder schläft Klein-Shiho im Wohnraum, wenn Matsu einen Kunden frisiert.

Heute ist anfangs ein ganz normaler Tag. Nach der Schale Reis mit Ei zum Frühstück gehe ich in die Druckerei und bereite alles für die neue Ausgabe unserer Lagerzeitung vor. Das Manuskript hat Tomohisa-San, die Dolmetscherin, zurückgebracht. Es hat das ‚Okay‘ der Lagerleitung erhalten.

Nachdem die Blei-Lettern in den Rahmen sortiert sind, lasse ich die Druckmaschine laufen. Zum Mittag ist die Ausgabe fertig. Nun kann ich zum Essen nachhause gehen. Am Nachmittag brauche ich dann nur noch alles säubern.

Als ich den Salon erreicht habe, öffne ich die Tür und rufe „Tadaima -Ich bin zuhause-!“ in den Raum. Da erst sehe ich Matsu auf dem Boden liegen. Sie liegt auf dem Bauch und eine rote Farbe bedeckt den Boden in Brusthöhe.

Mir stockt der Atem. Ich stürze auf meine Liebste zu und hebe eine Schulter an. Dabei fällt der Kopf zur Seite. Ihr Mund steht offen, aber ihre Augen sind geschlossen.

„Matsu!“ rufe ich aus. „Matsu watashi no aisuru -Matsu, meine Liebe-!“

Ich kann noch erkennen, dass eine Schere mit einer Klinge in ihrer Brust steckt. Dann verschleiern Tränen meinen Blick. Ich drücke Matsu an mich. In diesem Moment höre ich ein piepsiges Stimmchen.

„Mira neru -Mama schlafen-!“ erklärt Shiho, während sie sich an mir hochzieht.

Ich lasse Matsu zurückrutschen und nehme meine Kleine in den Arm, während ich mir mit der anderen Hand die Tränen aus dem Gesicht wische. Sie ist wohl von irgendwoher im Raum auf mich zu gekrabbelt. Nun kuschelt sie sich an mich. Sie stellt fest:

„Chichi kanashi -Papa traurig-.“

Ich richte mich auf, mit der Kleinen im Arm und gehe zum Tresen, auf dem das Heft mit der Besucherliste liegt. Eine halbe Stunde vor meinem Eintreffen hat Matsu einen Kunden gehabt, einen deutschen Kriegsgefangenen wie ich. Sofort drücke ich den Alarmknopf, der sich in jedem Raum befindet, in dem ein Japaner der Lagerverwaltung arbeitet. Kurz darauf betreten zwei Wachsoldaten den Salon, ihre Gewehre in der Hand haltend.
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Do Jul 13, 2023 9:20 am

Sie überblicken die Situation und einer von ihnen spricht in das Mikrofon des Funkgerätes, das er auf dem Rücken trägt. Mich halten sie mit ihren Waffen in Schach. Kurze Zeit später wimmelt es hier von Soldaten. Ich werde abgeführt und muss gegenüber ihrem Vorgesetzten meine Aussage machen.

„Ich habe, wie immer, in der Druckerei gearbeitet und bin erst vorhin zum Mittagessen heimgekehrt,“ erkläre ich und setze nach: „Das können Sie gerne in der Druckerei überprüfen. Gerne auch mit Uhrzeiten untermauert und die Wegezeiten überprüfen. Schauen Sie aber auch in die Besucherliste und fragen Sie ihren letzten Kunden, ob er etwas mit Rishâdoson-Sans Tod zu tun hat!“

Der Offizier nickt und erklärt:
„Wir werden gewissenhaft ermitteln!“

Er ruft die Wachsoldaten herein, die mich zu ihm gebracht haben und beauftragt sie, mich in eine Zelle zu sperren. Die Soldaten nehmen mich in ihre Mitte. Klein-Shiho sitzt auf meinem Arm und schlingt ihre Ärmchen um meinen Hals. Sie beobachtet mit großen Augen, was um sie herum geschieht.

Am frühen Nachmittag besucht mich der Lagerkommandant, der mir in der Vergangenheit immer wohlgesonnen gewesen ist. Er berichtet mir:

„Der letzte Kunde der ehrenwerten Rishâdoson-San ist abgängig. Wir suchen das ganze Lager nach ihm ab! Was soll nun werden? Wie denken Sie sich die Zukunft ihrer kleinen Tochter?“

Ich lasse die Schultern fallen und antworte ihm flüsternd:
„Shiho wird wohl zu ihren Großeltern gehen müssen. Ich kann sie nicht versorgen, während ich arbeiten muss.“

Dann schaue ich zu ihm auf und frage ergänzend:
„Darf ich das Lager in dem Fall jeden Tag verlassen, um Shiho zu besuchen, wenn ich zum Zapfenstreich wieder zurück bin?“

Er nickt und verspricht:
„Ich werde das veranlassen!“

Danach verlässt er mich. Zum Abend hin besuchen mich meine Schwiegereltern in der Zelle. Sie sind bedrückt und ebenso traurig. Miteinander gesprochen wird bei dem Besuch wenig. Als sie wieder aufbrechen, nehmen sie Shiho mit. Ich lege mich in der Dunkelheit allein auf den Futon. Schlafen kann ich nicht. Meine Gedanken kreisen um das Wort „Warum?“ und wollen lange keine Ruhe finden.

Am frühen Morgen wird die Zelle geöffnet und ein Wachsoldat tritt herein.

„Mitkommen!“ fordert er mich einsilbig auf.

Er führt mich in die Baracke der Lagerleitung, klopft am Zimmer des Lagerkommandanten und salutiert. Dann winkt er mich in das Zimmer. Der Lagerkommandant erhebt sich bei meinem Eintreten und kommt lächelnd auf mich zu. Er grüßt und bietet mir einen Sitzplatz an. Danach erklärt er:

„Ama -Muscheltaucherinnen- haben am Strand die Leiche eines Gaijin -Ausländers- entdeckt. In seinem Leib fehlte ein großes Stück durch eine Hai-Attacke. Die Identität des Mannes stimmt mit dem letzten Kunden der ehrenwerten Rishâdoson-San überein, nachdem gefahndet worden ist.“

Ich habe interessiert zugehört, was er mir zu sagen hat. Jetzt sinken meine Schultern wieder herab. Der Lagerkommandant legt mir seine Hand auf die Schulter und erklärt:

„Rishâdoson-San, Sie werden wieder in ihre alte Unterkunft zurückkehren. Den Salon wird eine andere Friseurin nutzen.“

Danach bin ich entlassen. Ich nicke und gehe in unsere Wohnung, um meine Sachen und eine Erinnerung an meine liebe Matsu heraus zu nehmen. Anschließend gehe ich zu der Baracke, wo ich früher ein Bett in einem Raum belegt habe.

Am Abend holen mich zwei Wachsoldaten in meiner Unterkunft ab und fordern mich auf, ihnen zu folgen. Sie führen mich zum Tor und an der salutierenden Torwache vorbei zum Dorf, das in der Nähe liegt.

‚So kann ich aber nicht zum Zapfenstreich zurück sein!‘ denke ich und wende mich deshalb an meine Begleitung.

Einer der Beiden nickt und erklärt:
„Der Kommandant weiß das. Sie wurden für die Dauer der Trauerfeierlichkeiten beurlaubt, Rishâdoson-San. Wir sollen Sie begleiten, damit der Kommandant sicher ist, dass Sie wieder ins Lager zurückkehren.“

Durch die Begleitung der Wachsoldaten befinde ich mich also symbolisch weiterhin im Lager.
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Fr Jul 14, 2023 9:32 am

Wir erreichen das Dorf. Hier führe ich die Soldaten zum Haus meiner Schwiegereltern. Wir werden in den Washitsu -Hauptraum- geführt, nachdem wir in der Garderobe Trauerkleidung übergezogen haben. Im Hauptraum hat man den Chabudai -niedrigen Esstisch- beiseite geräumt und einen Sarg aufgebaut. In Kopfhöhe besitzt der Sarg Fenster, so dass man die Tote sehen kann. Rund um den Sarg stehen Vasen mit Blumen. Auch Schalen mit Speisen kann ich erkennen, damit es der Toten an nichts fehlt.

Shiho kommt zu mir gekrabbelt, als sie mich sieht. Meine Schwägerin hat sie auf dem Arm gehabt und lässt sie los, als sie ihre Ärmchen nach mir streckt. Ich nehme meine Kleine auf den Arm und lasse sie sich an mich kuscheln. Wir setzen uns dazu.

Außer der Familie und Verwandten ist auch ein buddhistischer Mönch anwesend, der Sutren liest um Matsu dabei zu helfen, ihre Reise ins Jenseits anzutreten. Immer wieder kommen Leute aus dem Dorf herein und lassen ein paar Weihrauchkörner auf einen Weihrauchbrenner rieseln. Dann beten sie für die Tote.

Nach der Zeremonie essen alle zusammen in einem Nebenraum. Um die Abschiedsfeier zu finanzieren, haben alle ein Beileidsgeschenk in Form von Geld mitgebracht. Nach dem Essen bin ich aufgefordert, neben dem Sarg zu übernachten. Shiho weicht nicht von meiner Seite, also darf auch sie im Washitsu übernachten. Die Luft ist weihrauchgeschwängert.

Am Morgen nach der Totenwache findet die Verabschiedung statt. Der Mönch liest Sutren, Weihrauch wird abgebrannt und die Anwesenden beten. Anschließend wird der Sarg geöffnet, um allen die Möglichkeit zu geben, sich zu verabschieden. Persönliche Gegenstände Matsus werden unter Tränen in den Sarg gegeben. Darauf werden Blüten gelegt, die man von den Vasenblumen abgeschnitten hat, bis nur noch Matsus Gesicht zu erkennen ist.

Nun wird der Sarg angehoben und von sechs Männern zum Krematorium neben dem Friedhof gebracht. Wir gehen hinterher. Während der Sarg in die Brennkammer geschoben wird, liest der Mönch wieder seine Sutren. Wir werden in einen Nebenraum gebeten, wo wir etwa eine Stunde warten müssen.

Dann werden wir aufgerufen und jeder Familienangehörige legt einen Knochen aus der ausgebreiteten Asche in die bereitstehende Urne. Der Friedhofsbeamte legt den Schädel darauf und verschließt die Urne danach. Hashimoto-San bekommt sie mit nachhause.

Dort wird sie für 49 Tage in einen Schrein gestellt und täglich mit Speisen bedacht. In dieser Zeit bin ich wieder im Lager interniert. Der Herbst 1918 geht zu Ende und wir hören, dass Deutschland kapituliert hat. Der große Krieg ist vorbei. Wir hören, dass der Kaiser abgedankt und eine demokratische Regierung die Macht angetreten hat. Mit einem Schiff werden wir im August 1919 in Richtung Heimat abtransportiert.

Shiho ist zu dieser Zeit zweieinhalb Jahre alt. Ihre Großeltern übernehmen ihre weitere Erziehung, da Shiho noch zu klein ist, um mich nach Deutschland zu begleiten. Auch hätte der japanische Staat etwas dagegen, eine japanische Staatsbürgerin außer Landes zu lassen. Bei der Abreise schaue ich, ob ich Hashimoto-San mit Shiho irgendwo am Kai erspähen kann. Leider gelingt es mir nicht. Mein Herz ist schwer.

*

Wenige Wochen nachdem ich wieder in der Heimat bin und eine Stube in einer Kaserne nahe Glücksburg bezogen habe, werde ich im Februar 1920 aus dem Militärdienst entlassen. Ich habe bei der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung in meiner Heimatstadt wieder eine Anstellung als Schriftsetzer bekommen.

Shiho fehlt mir sehr. Daher sende ich ihr an ihren Geburtstagen und zu Weihnachten jeweils ein Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm, die ich extra für mein Mädchen auf Japanisch übersetzt habe.

Dann beginnt eine Zeit der Lohn- und Preiserhöhungen. Am Besten sieht man das an der Entwicklung des Portos nach Japan. 1920 habe ich noch fünf Mark im Postamt bezahlen müssen, um das Märchen für Shiho versenden zu können. Im Januar 1923 muss ich schon vierzig Mark dafür bezahlen. Im Juli desselben Jahres habe ich dem Postbeamten viertausend Mark geben müssen und im November bin ich mit einer Schubkarre voll Geldscheinbündel ins Postamt gegangen. Da verlangt man dort eine Milliarde Mark für die Beförderung.
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Sa Jul 15, 2023 9:20 am

Endlich hat die Regierung ein Einsehen und führt eine Währungsreform durch. Die Rentenmark wird ausgegeben und ersetzt die bisherige Mark. 1924 wird daraus schließlich die Reichsmark. Nun wollen die Menschen die Entbehrungen des vergangenen Jahrzehnts seit 1914 vergessen. Die Deutschen suchen Trost und Ablenkung. Glamour und Unterhaltung stehen hoch im Kurs, um damit die Entbehrungen der Vergangenheit zu vergessen. Die sogenannten ‚Goldenen Zwanziger‘ beginnen.

Ich sehne mich nach meinem Mädchen. Shiho ist jetzt sieben Jahre alt. Sie ist im schulpflichtigen Alter. In einem meiner Briefe habe ich ihr Goethes ‚Erlkönig‘ auf Japanisch gesandt.

,Chichiyo, Erlkönig ga miemasen ka? Ōkan to shippo no aru erukēnihi?
Chichiyo, chichiyo, kikoenai no? Erlkönig ga watashi ni shizuka ni yakusoku suru koto wa nandesuka?'
-‚Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlkönig mit Kron’ und Schweif?
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was der Erlkönig mir leise verspricht?‘-


Leider muss ich viel arbeiten. Als Alleinerziehender könnte ich kaum auf mein Mädchen achten. Ich will auch nicht, dass sie ‚unter die Räder‘ kommt.

Eine autoritäre Partei gewinnt immer mehr Anhänger. Diese Menschen sind gegen alle Mitmenschen eingestellt, die sich durch ihre Hautfarbe oder andere Merkmale aus der Masse der Anderen herausheben. Würde Shiho in dieser verrückten Zeit bei mir leben, hätte ich beständig Angst um sie.

Schließlich hat Shiho ihre Schule und Ausbildung beendet. Sie fragt in einem ihrer Briefe, ob ich sie besuchen komme oder sie mich besuchen kommen darf. Ich freue mich riesig, bin aber gleichzeitig in großer Sorge um sie. Zwar sind Deutschland und Japan seit 1936 Freunde, aber das hindert das Regime nicht daran Japan mit rassistischen Augen zu sehen. Shiho wird sich nicht einfach so in einen Zug der Reichsbahn setzen können, wenn sie mit einer japanischen Handelsdelegation als Dolmetscherin nach Deutschland kommen würde.

Das Regime in Berlin zettelt einen zweiten weltweiten Krieg an, den es zum Glück verliert. 1945 bin ich 59 Jahre alt. Shiho ist jetzt 28 Jahre. Sie hat inzwischen geheiratet, schreibt sie mir, und einen süßen Jungen geboren.

‚Er heißt Daiki und wünscht sich sehnlichst, seinen Opa zu treffen,' schreibt sie mir.

Ich muss aber noch ein paar Jahre warten. 1951 bin ich 65 Jahre alt und kann in Rente gehen.
Nachdem ich meine Rente erhalte, kann ich endlich reisen. Ich regele meine Angelegenheiten in Deutschland. Danach setze ich mich in eine Propellermaschine der Pan American World Airways, die mich in zwei Tagen nach Tokio bringt. Vorher habe ich meine Übersiedelung nach Japan mit Shiho in einem regen Briefkontakt besprochen.

Shiho hat mir Bilder von sich, ihrem lieben Mann und dem gemeinsamen Sohn Daiki geschickt. So kann ich sie bei meiner Ankunft im Flughafen erkennen. Mein Mädchen ist jetzt 34. Ihr ehrenwerter Ehemann ist 39 und mein Enkelsohn ist acht Jahre alt.

Shiho schreibt mir, dass sie in ihrer gemeinsamen Wohnung ein Zimmer für mich reserviert haben. Neben der Wiedersehensfreude 32 Jahre nach der politisch veranlassten Trennung bin ich auf meinen Enkelsohn gespannt.

Nach langem Flug landet die Maschine im Flughafen Tokio-Haneda. Dort soll ich Shiho mit ihrer Familie im Ankunftsbereich des Terminals 1 treffen. Meine Augen suchen die anwesenden Menschen ab. Als wir uns gegenseitig erkennen und mich meine Schritte in ihre Richtung lenken, löst sie sich von Mann und Kind, um mir entgegenzulaufen. Bei mir angekommen, umarmt sie mich und ruft:

„Chichiyo chichiyo -Vater, mein Vater-!“
Wir haben beide Tränen in den Augen.

Vom Flughafen am Rande von Tokyo fahren wir auf dem Schienennetz der Keikyû-Bahn nach Ôsaka zu ihrer Wohnung. Die Stadt liegt in der Nähe der Insel ‚Shikoku‘. Man kann dorthin übersetzen, wo das Lager Bandô bis vor 32 Jahren gestanden hat und sich das Heimatdorf Matsus befindet.
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1So Jul 16, 2023 10:08 am

Beim Betreten ihrer Wohnung mache ich den Kami -Geist- auf mich aufmerksam, in dem ich laut ausspreche:

„O-jama shimasu -Ich störe jetzt-!“

Danach suche ich mir ein passendes Paar Pantoffeln aus und folge Shiho in die Wohnung. Sie öffnet eine Zimmertür, verbeugt sich lächelnd und weist mit der ganzen Hand in das Zimmer. Ich erwidere ihr Lächeln, nicke und betrete den Raum. Er ist typisch japanisch klein. Nun öffne ich die Schiebetürenschränke und verstaue den Inhalt meines Koffers und der Reisetasche. In der Zwischenzeit ist Shiho zur Küche vorgegangen, um einen kleinen Imbiss zu bereiten.

Kurz darauf sitzen wir beim Essen um den Chabudai -niedrigen Esstisch-. Shiho bedient mich. Jedesmal bedanke ich mich mit einem Lächeln und Nicken. Daiki, mein Enkel, begegnet mir schüchtern und respektvoll.

‚Er wird sich langsam an mich gewöhnen,' denke ich.

Am folgenden Sonntag hat Shihos Mann arbeitsfrei. Sonntage sind in Japan Familientage. Shiho regt beim Abendessen am Vortag an:

„Die ehrenwerte Obâ-San -Großmutter- ist schon alt. Der Otô-San -Vater- ist schon 32 Jahre nicht mehr dort gewesen. Sollten wir morgen nicht einmal mit dem Fährschiff nach Shikoku übersetzen, Buchô-San -Herr Abteilungsleiter-?“

(Dazu muss ich erklären, dass japanische Ehefrauen ihren Mann stets mit ihrem beruflichen Titel anreden.)

Der Angesprochene nickt lächelnd und erklärt sich zu dem Ausflug bereit:
„Die Idee finde ich gut, Otâ-San -Mutter-.“

(Die Mutter seiner Kinder betitelt der Japaner im Gegenzug mit ‚Frau Mutter‘.)

Während der Tage bis zum Ausflug sitzt Shiho stundenweise bei mir in meinem Zimmer, lässt sich Geschichten von Matsu erzählen und schaut sich Bilder von ihr an, die ich in einem Album verwahrt habe. Dabei erklärt sie mir, dass Obâ-San -Großmutter- seit dem letzten Krieg Witwe ist. Ojî-San -Großvater- ist durch die Auswirkungen des Krieges verstorben.

Wir begeben uns also ‚zu den Wurzeln‘. Shiho stellt mich der Großmutter vor. 32 Jahre gehen schließlich an keinem Menschen spurlos vorbei. Sie zeigt sich erfreut, mich nach so langer Zeit wiederzusehen. Zusammen besuchen wir den Friedhof.

Oma tritt an das Grab, in dem die Urnen von Matsu und auch Ojî-San liegen, und beginnt einen stummen Tanz. Shiho macht es ihr nach. Es sind einfache bedächtige Bewegungen. Als nun ihr Mann und der kleine Daiki in die Bewegungen einfallen, kann ich nicht anders und mache mit.

Bei diesem Tanz handelt es sich um den Bon-Odori. Damit heißt man die Seelen der Verstorbenen im Diesseits willkommen. So kann ich spirituell mit Matsu in Kontakt treten. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass meine Liebe bei mir ist.

Anschließend wandern wir zum Kotoriragu-Schrein. Meine frühere Schwiegermutter ist mit ihren 81 Jahren noch gut zu Fuß und bewältigt die 785 Stufen ohne weiteres. Zurück bei ihr zuhause hilft Shiho ihr das Essen zu bereiten.

Nachdem alle beisammensitzen, fragt mich Shiho, ob ich nach dem Tod ihrer aisuru hahaoya -lieben Mutter- in Deutschland nicht wieder geheiratet habe. Das verneine ich, indem ich mit der rechten Hand vor meiner unteren Gesichtshälfte wedele. Sie fragt nach dem Grund. Ich gestehe ihr, dass ich Matsu so sehr geliebt habe und sie so plötzlich aus meinem Leben gerissen wurde… Ich hätte einfach keine vergleichbare Frau gefunden.

Nun schaue ich sie an und erkläre:
„Deine aisuru hahaoya -liebe Mutter- ist immer bei uns! Sie hat uns wieder zusammengeführt, zu einer Familie gemacht. Was will man mehr?“

*
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Mo Jul 17, 2023 9:17 am

Im elften Jahr Taishô bin ich alt genug, um in die Dorfschule von Bandô Furioshûjôjo eingeschult zu werden. Ich lebe im Haus meiner Großeltern Hashimoto, heiße aber Rishâdoson. Oft bin ich deswegen weinend nachhause gekommen. Die anderen Kinder im Dorf rufen mir „Hâfu“ hinterher und lachen mich aus. Sie stellen mir ein Bein und machen noch andere unschöne Sachen.

Aisuru Obâ-Chan -liebe Oma- nimmt mich tröstend in den Arm, trocknet meine Tränen und erklärt mir:

„Was die anderen Kinder behaupten stimmt so nicht! Sie sind nur neidisch, denn du bist keine ‚halbe Japanerin‘, sondern eine Daburu, eine ‚Doppel‘! Du trägst die guten Eigenschaften von Mira -Mama- und Chichi -Papa- in dir. Die anderen sind ‚nur‘ Japaner.“

Bald führe ich das Argument gegenüber Gleichaltrigen an und allmählich lassen sie mich in Ruhe. Trotzdem komme ich noch oft verweint nachhause. Ich wünschte mir sehr meine Eltern kennen zu lernen. Leider ist das nicht möglich. Aisuru Mira -liebe Mama- ist verstorben als ich noch ganz klein gewesen bin. Wir besuchen sie oft auf dem Friedhof, bringen ihr ein Schälchen Reis mit und brennen ein Räucherstäbchen ab. Aisuru Chichi -lieber Papa- ist von einem großen Schiff abgeholt worden und lebt jetzt auf der anderen Seite des Erdballs.

Mich tröstet, dass auch Papa oft an mich denkt. Immer wenn ich Geburtstag feiern kann, kommt ein dicker Brief von ihm an. Darin befindet sich ein Otogi banashi -Märchen- aus seiner Heimat, das er für mich in Japanisch übersetzt hat. Im Jahreslauf kommt zu einem Fest, das die Kirisutokyôto -Christen- Kurisumasu -Weihnachten- nennen, immer noch ein zweites Märchen für mich mit der Post.

Als ich meine Schule beendet habe, regen meine Sofu-Bo -Großeltern- an, dass ich Heasutairisuto -Friseurin/Haarstylistin- in einem der beiden Friseursalons im Ort lerne. Unter den Kunden könne ich vielleicht auch meinen späteren Ehemann kennenlernen. Mira und Chichi hätten sich auch so kennengelernt und ineinander verliebt.

Ich gehorche meinen aisuru Sofu-Bo -lieben Großeltern- und wirklich: In diesem Beruf lernt man viele Menschen kennen und eignet sich eine große Menschenkenntnis an.

Meinem aisuru Chichi -lieben Papa- schreibe ich in meinen Briefen von meinem Alltag in der Schule und danach in der Ausbildung. Er bestärkt mich in meinem Tun und ist mir auch eine Stütze. Als ich meine Ausbildung beendet habe, frage ich daher in einem Brief, ob er mich nicht einmal besuchen kommen würde, oder ob ich ihn besuchen kommen soll.

Er rät mir von einem Besuch in Deutschland ab. Man spürt seine große Sorge um mich zwischen den Zeilen. Gleichzeitig meint er aber auch, dass er mich jetzt noch nicht besuchen kann. Aber ganz sicher später einmal, verspricht er mir in dem Brief.

An einem Nachmittag habe ich einen Kunden, nur wenig älter als ich, der sich mir als Amatsuka-San vorstellt. Sicher stammt seine Familie von hier, weil sein Name auf die Ama -Muscheltaucherinnen- hinweist. Er selbst scheint aber zu Besuch zu sein und möchte bei einer Familienfeier gut aussehen. Ich gebe mir besondere Mühe. Seit ich als Heasutairisuto -Friseurin- arbeite, fühle ich die Zurückweisung als Hafu -Halbe- nicht mehr. Amatsuka-San ist noch einmal einen Deut respektvoller mir gegenüber. Das nimmt mich sofort für ihn ein.

Zuhause frage ich meine Großeltern, ob sie einen Amatsuka-San kennen, dessen Familie hier wohnt, der aber anscheinend von weiterher kommt. Aisuru Obâ-Chan -liebe Oma- lächelt und erklärt mir:

„Dabei muss es sich um den jungen Herrn handeln, der in Ôsaka studiert hat. Sein Ojî-San -Großvater- hat einen runden Geburtstag und da trifft sich die ganze Familie.“

Ich nicke und berichte, dass er sich heute von mir frisieren gelassen hat. Während ich an den folgenden Tagen wieder im Friseursalon arbeite, hat aisuru Obâ-Chan Erkundigungen über den jungen Mann eingeholt. Sie berichtet mir danach, dass Amatsuka-San inzwischen bei einem Flugzeugzulieferer Arbeit gefunden hat. Sicher befähigt ihn sein Studium, dass er im Management der Firma aufsteigen kann.

Infolge bediene ich die Mitglieder der Familie Amatsuka besonders zuvorkommend und wende all mein Können an, um bei ihnen in Erinnerung zu bleiben. Einige Wochen später betritt Amatsuka-San wieder den Salon und lässt sich erneut von mir frisieren. Dabei fragt er mich nach meinen Freizeiten. Leider muss ich von morgens bis abends im Salon stehen und frisieren. Sonntags habe ich frei, wie alle Nihhonjin -Japaner-. Da dies für die Nihhonjin der Familientag ist, fragt er vorsichtig, an welchem Sonntag er mit mir ausgehen dürfe. Ich verspreche ihm, dass ich mir den nächsten Sonntag für ihn freihalte.
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Di Jul 18, 2023 9:22 am

Zuhause erzähle ich Obâ-Chan davon. Sie lächelt mich an und wünscht mir viel Glück. Ich prüfe Amatsuka-Sans Gesinnung und Umgangsformen gewissenhaft fast zwei Jahre lang. Traurig will ich die Verbindung zu ihm beenden, weil er mir immer noch keinen Heiratsantrag gemacht hat, als er sich bei einem Spaziergang vor mich stellt und mich damit am Weitergehen hindert. Nun stellt er mir die Frage aller Fragen! Endlich!

„Anata no na o oshiete moraemasu ka -Darf ich deinen Vornamen erfahren-?“

Ich nicke und lächele erfreut. Dann stelle ich ihm jedoch eine Bedingung:
„Versprichst du mir, dein ganzes Leben lang auf mich zu achten und mich mit aller Kraft zu beschützen?“

Er atmet erleichtert aus und verspricht es mir beim Kami seiner Familie. Nun antworte ich ihm:
„Watashi ha Shiho desu -Mein Name ist Shiho-.“

Damit habe ich seinen Antrag bestätigt. Wir spazieren noch ein wenig weiter und reden über belanglose Themen, bevor uns unsere Schritte nachhause lenken. Amatsuka-San bringt mich wie üblich zur Wohnung meiner Großeltern. Am darauffolgenden Sonntag kommen nun seine Eltern und meine Großeltern zur Yuino zusammen, der Verlobungszeremonie. Dazu besuchen Ojî-San und Obâ-San in meiner Begleitung die Eltern meines Bräutigams, der mir bei der Nennung meines Vornamens auch seinen genannt hat.

Wir haben symbolhafte Geschenke dabei, wie Meeresalgen, einen Kamoku -Fächer- und einen Umschlag mit einer bestimmten Geldsumme. Im Washitsu -Hauptraum- ist der Chabudai -niedriger Esstisch- beiseite geräumt worden. Nach der Begrüßung werden wir dorthinein geführt. Dann gehen wir Frauen gegenüber in den Seiza -Kniesitz-, während die Männer sich im Aguda -Schneidersitz- auf je ein Zabuton -Sitzkissen- setzen. Ich habe einen festlichen Hikifurisode in Hellblau mit vielen zartrosa Kirschblüten angelegt, während meine Großeltern sich in schwarzem Anzug und Kimono neben mir befinden.

Mir gegenüber kniet mein Bräutigam Takumi in einem traditionellen japanischen Gewand aus einer weiten faltenreichen Hose in grau, darüber ein weißes Hemd und eine oberschenkellange schwarze Jacke. Seine Eltern haben die gleiche Kleidung gewählt, wie auch meine Großeltern.

Nun erfolgt der Austausch der Geschenke. Danach werden wir an den Chabudai -Esstisch- gebeten. Eine Tante meines Bräutigams und ihre Tochter in einfachen Yukata servieren das Essen und setzen sich dann hinzu.

Drei Monate danach soll die Shinto kekkonshiki -Shinto-Hochzeit- stattfinden. Dazu übernehmen unsere ehrenwerten Väter das Versenden der Hochzeitskarten. Wir haben im Kotoriragu-Schrein einen Termin bekommen. Vorher haben wir eine amtliche Urkunde mit unseren persönlichen Siegeln versehen.

Am Tag der Shinto-Hochzeit frisiert mich meine Lehrherrin. Sie macht mir die Haare im Marumage-Stil zurecht. Dazu macht sie sich mit einem feinzinkigen Kamm ans Werk, unterteilt mein Haar in Partien, schlägt sie einzeln hoch, vor und zurück, steckt sie fest und bildet mit einem Haarnetz einen Dutt am Hinterkopf. Darüber befestigt sie eine weiße Haube, die Tsuno Kakushi.

Anschließend hilft sie mir in den aufwendigen und mehrlagigen, blütenweißen Hochzeitskimono, den wir geliehen haben, damit unser Budget nicht überlastet wird. Die weiße Farbe des Kimonos symbolisiert Reinheit und Harmonie, sowie die Bereitschaft der Braut, sich mit den Werten meiner neuen Familie zu „färben“ -zu identifizieren-.

Dann wandern wir zum Schrein und betreten das Gelände des Jinja -Schreins- durch das rote Torii. Dahinter müssen wir 785 Stufen erklimmen, bis wir in der Haupthalle angekommen sind. Wir, das Brautpaar, werden dabei nur von unseren Elternpaaren begleitet. Ein Jinja Shinsai -Schreinpriester- holt uns ab und führt uns vor das Shintai, in dem der hier verehrte Kami wohnt. Der Priester führt eine rituelle Reinigung durch. Danach sprechen wir unser Ehegelübde und opfern Zweige des Sakaki-Baumes. Anschließend trinken wir je einen Schluck aus drei Schalen geweihtem Sake. Sie symbolisieren Liebe, Weisheit und Glück. Nun sind wir Herr und Frau Amatsuka.

Draußen vor dem Torii erwartet uns der bestellte Hochzeitsfotograf für eine umfangreiche Fotosession. Die Bilder sind auf besonderem Fotopapier gemacht und sollen angeblich hundert Jahre halten. Zurück führt uns der Weg zu einem Restaurant, das Takumis Eltern angemietet haben. Dort werden die Gäste zum Hochzeitsessen an die Tische gebeten, während wir uns in einem Nebenraum umkleiden. Jeder Gast hat eine entsprechend teure Eintrittskarte erstanden, statt Sachgeschenke zu machen.
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Mi Jul 19, 2023 10:02 am

Ich lege den teuren Hochzeitskimono ab, um zum folgenden Hochzeitsempfang einen leichten Hikifurisode in lebhaftem Karminrot zu tragen, übersät mit vielen Mustern. Takumi wechselt in einen dunklen Anzug. Ein bezahlter Moderator führt ab jetzt durch den etwa anderthalbstündigen Hochzeitsempfang mit dem Hochzeitsessen. Alles ist minutiös durchgetaktet.

Zu Beginn werden Amatsuka-San, Takumis Vater, und der aisuru Ojî-San -liebe Großvater- ans Mikrofon gebeten. Sie sollen in ihrer Rede die Vorzüge ihrer Kinder herausstellen. Nun sollen wir nacheinander ans Mikrofon gehen, um ihnen in emotionalen Reden für die erfahrene Unterstützung während der vergangenen Jahre zu danken.

Dabei sprechen wir durchaus tränenrührige Momente an. Wir überzeugen die Hochzeitsgesellschaft, dass sie die besten Eltern sind, die man sich vorstellen kann. Als meine beste Freundin ihre Rede hält, hört man viele Papiertaschentücher rascheln.

Danach gehen wir herum und verteilen unter vielen Verbeugungen Geschenke an die Gäste, um uns für die Teilnahme an unserer Hochzeit zu bedanken. Dabei handelt es sich um Süßigkeiten und Gedenkteller, hübsch und sorgfältig von uns verpackt.

Nachdem der Empfang vorüber ist, ziehe ich mich noch einmal um. Diese häufigen Outfitwechsel nennt der Japaner o-ironaoshi -Farbwechsel-. Nun tragen wir beide bequeme Kleidung und es geht in verschiedene andere Räume des Restaurants für die After-Partys -Nijikai-, die nach Altersgruppen getrennt gefeiert werden. Hier gibt es wieder Essen. Hinzu kommen Spiele, Musik, Tanz und einige Drinks - das perfekte Umfeld für die Gäste, sich näher kennenzulernen.

Nach dieser Party treffen wir uns mit unseren Eltern, den Großeltern, und engsten Freunden zum zwanglosen Ausklang, zu der After-After-Party -Sanjikai-. Erst jetzt können wir in Ruhe und in der Gesellschaft der besten Freunde essen, mit denen wir den ganzen Tag kaum ein persönliches Wort wechseln konnten.

Nun ist es schon nach Mitternacht, als wir uns zurückziehen können. Das Restaurant hat ein Gästezimmer zurecht gemacht. Dort schlafen wir schnell ein. Am nächsten Morgen frühstücken wir an einem der Tische im Restaurant. Danach verlassen wir die Insel mit der Fähre und fahren mit dem Zug nach Ôsaka, wo Amatsuka Takumi eine große Wohnung angemietet hat. Ich orientiere mich in der Wohnung und schaue mir die Küche an.

Mein Otto -Ehemann- hat die neue große Wohnung noch nicht lange bewohnt und die Vorräte sind auf die Bedürfnisse eines Single zugeschnitten. Ich werde also als Nächstes einkaufen gehen.

Zurückblickend, in den zwei Jahren während wir uns näher kennengelernt haben, ist ein großer Krieg ausgebrochen. Mein aisuru Otto -lieber Ehemann- Takumi arbeitet in einer rüstungsrelevanten Firma als Ingenieur und braucht deshalb nicht zu den Soldaten. Dennoch sind die Zeiten nicht schön, in denen wir jetzt leben.

Wir sind gerade etwa ein Jahr verheiratet, als mein aisuru Ojî-San stirbt. Er ist nur 66 Jahre alt geworden. Wir fahren wieder nach Bandô Furioshûjôjo auf Shikoku zurück und nehmen an der Trauerfeier teil.

Ein Jahr darauf bin ich schwanger und im 17. Jahr Shôwa gebäre ich einen wunderschönen Jungen, dem wir den Namen Daiki geben. Der Name bedeutet ‚der Große, großer Glanz, großes Leuchten‘. Chichi -Papa- in Deutschland lasse ich an allen Stationen meines Lebensweges mit Briefen teilhaben. Auch er schickt mir weiterhin Briefe, wie während meiner gesamten Kindheit. So ist er immer für mich präsent.

Im 13. Jahr Shôwa hat die deutsche Regierung den weltweiten Krieg angezettelt, in dem wir uns jetzt befinden. Sie sind auf dem europäischen Kontinent expandiert, wie auch Nippon -Japan- in Ostasien. Im 15. Jahr Shôwa hat Japan die Amerikaner angegriffen, die nun damit begonnen haben zurückzuschlagen.

Das kaiserliche japanische Militär muss nun immer öfter Niederlagen hinnehmen und schließlich fliegen amerikanische Flugzeuge auch über Japan. Wir müssen mit Klein-Daiki aus Ôsaka fliehen und verstecken uns in Bandô. Die Fabrik, in der mein lieber Mann arbeitet, wurde zerstört. Nachdem die Amerikaner im 19. Jahr Shôwa zwei mokushiroku-tekina Bakudan -apokalyptische Bomben- über Japan gezündet haben, ist der Krieg vorbei. Das kaiserliche Militär kapituliert.
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Do Jul 20, 2023 9:44 am

Bald nach dem Krieg wird die Fabrik wieder aufgebaut. Dort werden jetzt Zulieferteile für die zivile Luftfahrt hergestellt und mein lieber Mann steigt in die Position eines Buchô -Abteilungsleiters- auf. Unser Sohn Daiki ist jetzt drei Jahre alt, als wir wieder eine größere Wohnung in Ôsaka beziehen können. Aisuru Chichi -lieber Papa- wird in diesem Jahr 60 Jahre alt. Leider können wir ihn nicht gemeinsam begehen.

Drei Jahre später etabliert sich eine demokratische Regierung in Deutschland und Papa hat noch zwei Jahre, bis er in Rente gehen kann. Wir schreiben oft miteinander und malen uns aus, wie es sein wird, wenn aisuru Chichi danach bei uns leben könnte. Daiki geht in diesem Jahr, dem 23.Jahr Shôwa, zum ersten Mal in die Schule.

Nach weiteren zwei Jahren, in der westlichen Welt ist es das Jahr 1951, wird aisuru Chichi 65 Jahre alt. Ab jetzt bezieht er eine kleine Rente und braucht nicht mehr arbeiten gehen. Er spricht mit den Behörden und macht ihnen klar, dass er nach Japan auswandern wird. Nun muss er eine Reihe Formulare ausfüllen. Von hier aus wird er sein neues Konto seiner Rentenversicherung bekanntgeben.

Dann ist der Tag seiner Abreise gekommen. Er hat mir den Flugplan der PanAm-Maschine in einem Brief genau beschrieben. Darin liegt auch ein aktuelles Foto von ihm. Auch ich habe aisuru Chichi aktuelle Fotos von uns Dreien gesandt. Daiki ist inzwischen acht Jahre alt geworden. Dass wir ein Zimmer in unserer großen Wohnung für ihn eingerichtet haben, weiß Papa inzwischen auch.

Schließlich fahren wir mit dem Zug von Ôsaka zum Flughafen Tokio-Haneda. Ich bin innerlich aufgewühlt. Von der Zeit, als Papa mich verlassen musste, vor 32 Jahren, habe ich keine Erinnerung. Da bin ich noch zu klein gewesen. Aber durch die Hänseleien der anderen Kinder, die mich immer Hafu -Halbe- genannt haben, hat sich Papa in meine Seele gebrannt.

Seit ich fertig gewesen bin, mit Schule und Ausbildung, ist die Sehnsucht nach Papa immer wieder hochgekommen in mir. Wir haben sie in den Briefen stets thematisiert und Papa hat versprochen, irgendwann zu mir zu kommen. Nun ist es soweit. Endlich!

Wir gehen in die Ankunftshalle und informieren uns, wann die Propellermaschine der Panamerican World Airlines landet. Schließlich ist es soweit. Meine Augen suchen einen einzeln reisenden 65jährigen Mann, der dem Foto gleicht, das er mir gesandt hat. Als ich ihn entdecke, lasse ich Daiki bei Takumi stehen und laufe aisuru Chichi entgegen.

Er hat mich auch gesehen und geht mir entgegen. Dann treffen wir uns. Ich falle ihm in die Arme. Tränen laufen meine Wangen hinunter. Ich rufe aus:

„Chichiyo chichiyo -Vater, mein Vater-!“

Dann richte ich mich auf, sehe, dass auch er Tränen in den Augen hat und angele ein Taschentuch aus einem Ärmel meines Kimonos. Wir trocknen uns die Tränen. Anschließend führe ich ihn zu Takumi und Daiki. Meinen aisuru Otto -lieben Ehemann- stelle ich ihm mit unserem Familiennamen vor und ihn stelle ich meinem Mann als Rishâdoson-San vor, den Namen, den ich selbst vor der Hochzeit noch getragen habe.

Danach gehen wir zu den Gleisen der Keikyû-Bahn, mit der wir nach Ôsaka zurückfahren. Als wir unsere Garderobe betreten, lächelt Chichi und sagt laut:

„O-jama shimasu -Ich störe jetzt-!“

Er stellt seinen Koffer und die Reisetasche ab und sucht nach einem paar passenden Hausschuhen. Daiki nimmt die Reisetasche auf und Chichi folgt mir mit seinem Koffer in die Wohnung. Dort zeige ich ihm mit einer höflichen Verbeugung sein Zimmer. Er betritt seinen Raum und beginnt, den Inhalt seines Koffers in die Schränke zu verstauen.

Dazu lasse ich ihn allein. Ich gehe stattdessen in die Küche, um einen Willkommens-Imbiss zu bereiten. Bald darauf habe ich alles auf dem Chabudai im Washitsu bereitstehen und sende Daiki, seinen Ojî-San herbei zu holen. Er setzt sich im Aguda an den angebotenen Platz und ich bediene ihn. Er bedankt sich jedesmal lächelnd mit dem Nicken seines Kopfes bei mir.
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BeitragThema: Re: Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo-   Vater, mein Vater -Chichiyo chichiyo- Icon_minitime1Fr Jul 21, 2023 9:25 am

Am folgenden Sonntag hat aisuru Otto arbeitsfrei. Ich rege beim Abendessen am Vortag an:
„Die ehrenwerte Obâ-San -Großmutter- ist schon alt. Der Otô-San -Vater- ist jetzt 32 Jahre nicht mehr dort gewesen. Sollten wir morgen nicht einmal mit dem Fährschiff nach Shikoku übersetzen, Buchô-San -Herr Abteilungsleiter-?“

Mein Ehemann nickt lächelnd und erklärt sich zu dem Ausflug bereit:
„Die Idee finde ich gut, Otâ-San -Mutter-.“

In den Tagen bis zum Ausflug setze ich mich zu aisuru Chichi in sein Zimmer. Daiki ist in der Schule und Takumi ist den ganzen Tag im Büro. Ich lasse mir von Mira -Mama- erzählen, die ich im Alter von etwa zwei Jahren verloren habe. Chichi -Papa- hat ein altes Fotoalbum mit langsam verbleichenden Bildern aufgeklappt und zeigt sie mir.

Am Sonntag fahren wir an den Kai und steigen auf die Fähre nach Shikoku. Dort wandern wir nach Bandô, das inzwischen zu einer Kleinstadt geworden ist. Wir klopfen bei Obâ-Chan und ich stelle ihr Chichi vor. Die Beiden haben sich jetzt 32 Jahre nicht mehr gesehen. Sie bittet uns herein und stellt schnell einen Imbiss auf den Chabudai.

Anschließend besuchen wir den Friedhof. Auch Mira -Mama- wird erfreut sein, Chichi wiederzusehen. Als wir am Grab stehen, wo Miras und Ojî-Sans Urnen eingefasst sind, beginnt Obâ-Chan -Oma- zu tanzen. Es ist der Bon-Odori, ein Tanz mit langsamen, bedächtigen Bewegungen. Ich mache den Tanz mit und auch mein Otto -Ehemann, sowie Daiki, tanzen mit. Einen Augenblick später beginnt Chichi uns nachzuahmen und tanzt nun auch den Bon-Odori.

Anschließend wandern wir zum Kotoriragu-Schrein, opfern eine kleine Summe und gehen zurück zu Obâ-Chans Wohnung. Dort helfe ich ihr das Essen zu bereiten.

Nachdem alle beim Essen zusammensitzen, frage ich Chichi:
„32 Jahre sind inzwischen vergangen, aisuru Chichi. Hast du in dieser Zeit eine andere Frau in Deutschland gehabt, nach dem Tod von aisuru hahaoya -lieben Mutter-?“

Er schaut mich ernst an und hebt die rechte Hand. Damit wedelt er vor seiner unteren Gesichtshälfte. Ich mache große Augen und frage nach dem Grund. Aisuru Chichi antwortet mir leise:

„Ich habe Rishâdoson Matsu mehr als alles auf der Welt geliebt. Dann ist sie so plötzlich aus meinem Leben gerissen worden… Ich habe einfach keine vergleichbare Frau gefunden.“

Danach schaut er auf und erklärt mit fester Stimme:
„Deine aisuru hahaoya -liebe Mutter- ist immer bei uns! Sie hat uns wieder zusammengeführt, zu einer Familie gemacht. Was will man mehr?“
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