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BeitragThema: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1So Jun 14, 2020 9:33 am

Noahs Vorgeschichte
In der neuen Heimat, in die Mama mit mir und ihrem neuen Mann gezogen ist, fühle ich mich überhaupt nicht wohl. In den Augen meines Stiefvaters scheine ich ein Weichei zu sein, und er meint wohl, da müsse ich durch.
Auf anderen Gebieten kann ich mich sehr auf ihn verlassen, aber was mein Platz in der Gruppe Gleichaltriger angeht… Nun ist es ja so, dass wir früher auf einem Dorf in Süddeutschland gewohnt haben. Ich habe wenige, aber gute Freunde gehabt. Zusammen haben wir so manchen Unsinn angestellt.
Dann ist Papa krank geworden. Er wurde in das Krankenhaus in der nächsten Stadt gebracht, aber die Ärzte konnten ihm nicht mehr helfen. Zwei Wochen später sind viele Verwandte zusammengekommen, als Mama den Papa beerdigt hat. Viele davon habe ich bis dahin noch nie gesehen.
Ein Jahr nach Papas Tod hat Mama mir einen neuen Mann vorgestellt. Er hat sich sehr um mich bemüht, und ist mir darüber zum Freund geworden. Dann sind wir zum Geburtstag der neuen Großeltern in seine Stadt gefahren. Er hat eine jüngere Schwester, und noch einige andere Verwandte sind dort gewesen. Tante Alice, seine jüngere Schwester, ist auch noch nicht lange verheiratet und hat seit kurzem ein Baby. Dabei ist zum ersten Mal auch die Sprache darauf gekommen, dass Mama und ich zu meinem Stiefvater ziehen sollten.
Zum Beginn des nächsten Schuljahres ist es dann soweit gewesen. Ich bin in eine neue Klasse gekommen. Der Kontakt zu meinen alten Freunden ist verloren gegangen. In meiner neuen Klasse grinst man hinter vorgehaltener Hand, wenn ich mich im Unterricht melde. In den Pausen werde ich wegen meinem Dialekt verspottet. Bald beginnt man auch damit, mich zu ärgern. Ein Höhepunkt ist erreicht, als ich von hinten angerempelt werde und auf den Mund falle. Dabei bricht mir ein Schneidezahn ab.
Nach den dadurch erforderlichen Zahnarztbesuchen werde ich vorsichtiger und ziehe mich zurück. Nach den Hausaufgaben bleibe ich zumeist auf meinem Zimmer und lese viel oder höre Musik. Einmal bekomme ich Comics von Star Wars in die Finger und beginne, sie regelrecht zu verschlingen.
Dann erhält Papa, wie ich Werner, meinen Stiefvater, inzwischen nenne, die Einladung zu Feier des dritten Hochzeitstages von Tante Alice. Natürlich sagt er zu und wir gehen zusammen zu dem Restaurant. Ich erkenne beim Eintreffen ganz in der Nähe einen Kinderspielplatz mit Schaukel, Karussell und anderen Geräten. Neben Oma und Opa sind auch andere Verwandte mit ihren Kindern gekommen, von denen ich der Älteste zu sein scheine. Ich schäle mich aus der Jacke und laufe zu Oma und Tante, um sie freudig zu begrüßen.
Ich bekomme nicht mit, wie Mama sich automatisch nach meiner Jacke bückt, die auf dem Fußboden gelandet ist. Dann haben auch sie die Großeltern und Onkel und Tante erreicht.
Tante Alice stellt uns ihre Freundin und deren Sohn vor, der sicher schon die Schule hinter sich hat. Tante Alice sagt:
„Und das hier ist meine beste Freundin Vanessa. Leider konnte sie vor drei Jahren bei der Hochzeit nicht dabei sein, weil sie und ihr Sohn Dennis zu der Zeit in Nepal lebten. Jetzt ist Dennis aber nach Deutschland zurückgesandt worden, um als Lehrer und Kungfu-Meister zu arbeiten.“
Ich merke auf. Was bedeutet das Gehörte? Ich habe sogleich meine StarWars-Comics im Kopf und frage dazwischen:
„Bist du ein Jedi-Ritter?“
Dennis schaut mich erst verdattert an, lacht fröhlich und streckt seine Hand nach mir aus, um mir übers Haar zu streichen.
„Nein,“ antwortet er lächelnd, und dehnt zwinkernd:
„Aaaaber vielleicht so etwas ähnliches…“
„Wow,“ mache ich und wende mich an Papa: „Kann der Mann mir beibringen, wie man jemanden verprügelt?“
„Noah!“ ermahnt Papa mich.
Er wendet sich erklärend an Dennis: „Noah hat es nicht leicht in der Schule. Mobbing und Prügel, wissen Sie…“
Dennis zieht die Augenbrauen hoch und meint dazu:
„Solche Leute haben selbst Angst. Vorwärtsverteidigung nennt man das. Dazu suchen sie sich den Schwächsten aus, jemand der es nicht schafft, sich Achtung und Respekt zu verschaffen. Das zeugt von schlechtem Charakter!“
Papa nickt. Nacheinander kommen jetzt weitere Gäste an. Vierundzwanzig Personen sind bald anwesend und das Restaurantpersonal beginnt damit, die Speisen und Getränke zu servieren.

Wir setzen uns an den langen Tisch. Ich beobachte Dennis verstohlen beim Essen. Er und seine Mutter verhalten sich höflich zurückhaltend, sind freundlich und fallen nicht weiter auf. Bald habe ich sie vergessen.
Nach dem Essen dürfen wir Kinder nach draußen auf den Spielplatz, während die Erwachsenen noch beim Kaffee zusammensitzen und erzählen wollen. Papa sagt nach einem Moment zu mir:
„Na, Noah, magst du nicht auch spielen gehen? Bei den Gesprächen unter Erwachsenen langweilst du dich bestimmt.“
Er nickt mir aufmunternd zu. Also erhebe ich mich und gehe ebenfalls nach draußen. Ich setze mich auf eine Schaukel und bewege sie lustlos leicht vor und zurück. Da bekomme ich plötzlich einen Stoß in den Rücken. Zum Glück habe ich die Ketten fest im Griff. Trotzdem rutsche ich von der Sitzfläche.
Ich drehe mich um und erkenne vier Jungs, die unbemerkt hinter mir aufgetaucht sind. Einer von ihnen ist aus meiner Klasse. Die anderen werden ein paar Klassen höher sein. Sie stoßen mich mit Schlägen vor die Brust über den Platz. Als eines der Mädchen protestiert, lassen sie kurz von mir ab und machen den jüngeren Kindern Angst. Da man mich festhält, kann ich mich nicht entfernen, während die anderen Kinder in das Restaurant zurücklaufen.
Plötzlich lässt man mich los und ich gehe auf Abstand. Was ich zu sehen bekomme, lässt mich meine Brustschmerzen vergessen und vom Spielplatzrand aus mit offenem Mund zuschauen. Dennis steht mitten unter den Jungs und schlägt und tritt sie zu Boden. Sie stehen auf und wollen sich nun zu viert auf ihn stürzen. Jetzt hält er mal den Einen, mal einen anderen fest und wirft ihn gegen die Anderen oder hinter sich, wobei er sich bückt und sofort herumdreht.
Der Spuk ist schnell vorbei, denn die Jungs suchen das Weite. Dennis kommt nun zu mir und fragt, ob sie mir weh getan haben. Ich verneine es, aber Dennis sagt, ich solle mich auf eine Bank legen. Er tastet mich an den Gelenken und auf der Brust ab. Natürlich verziehe ich nun mein Gesicht.
Dennis nimmt mich kurzerhand in den Kniekehlen und unter den Achseln auf und trägt mich ins Restaurant. Er schaut sich kurz um und legt mich dann auf eine Sitzbank in der Nähe des Eingangs. Die restlichen Kinder folgen uns nun auch ins Innere. Dennis fragt die hinzueilende Kellnerin nach sechs Schnapsgläschen und Watte. Sie schaut verwundert, bringt aber die Gläschen und einen Beutel mit Watte.


Zuletzt von hermann-jpmt am Sa Jun 20, 2020 9:57 am bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Mo Jun 15, 2020 9:47 am

Mama ist inzwischen bei mir und kniet neben meinem Kopf. Sie streichelt mich mit besorgter Miene und schaut verwundert, wie Dennis Wattebällchen formt. Er holt Essstäbchen und ein Feuerzeug aus einer Tasche an seiner Weste und sagt zu Mama:
„Würden Sie ihm bitte das Tshirt hochziehen?“
Papa steht jetzt auch bei mir. Mama schaut zu Papa hoch, der beruhigend lächelnd sagt:
„Mach ruhig, was er sagt.“
Ein Wattebällchen nach dem anderen zündet Dennis nun an und hält es mit den Essstäbchen in das umgedrehte Schnapsglas. Damit nähert er sich den roten Stellen auf meiner Brust und setzt die Gläschen nacheinander auf die Haut, die sich durch den geringen Unterdruck nun ein wenig in das Glas zieht.
Ich schaue verwundert zu und bemerke nach einer Weile:
„Es tut gar nicht mehr weh!“
Nun wendet sich Papa an Dennis und fragt ihn:
„Was war draußen los?“
„Vier Jugendliche haben die Kinder angegriffen. Aber eigentlich war Noah deren Ziel.“
„Ja, Papa,“ bestätige ich und versuche mich aufzurichten. Dabei fallen die Schnapsgläschen herunter. Mama bückt sich und sammelt sie wieder ein. Ich fahre fort:
„Dennis hat nicht viel tun müssen! Sie haben sich selbst geschlagen! Dennis hat nur mal den Einen oder Anderen gestoppt, oder herum gewirbelt…“
Dennis sieht Papa in die Augen, nickt und hebt die gefalteten Hände an sein Kinn.
„Kämpfen geht man am besten aus dem Weg,“ meint er dazu.
Nachdenklich antwortet Papa:
„Mein Sohn wird allzu oft in die Enge getrieben, weil es der Meute Spaß macht - so scheint es…“
„Es sind Hitzköpfe, die sich selbst im Weg stehen, wenn sie zu mehreren auftreten. Für Mann gegen Mann sind sie zu feige!“
„Wie kann sich mein Junge in der Schule Respekt verschaffen?“ fragt Papa. „Die Kerle verstehen doch nur die Sprache der Fäuste… Könnten Sie ihm beibringen, wie man das macht?“
„Respekt verschaffen, von den Anderen geachtet werden… Ich kann es versuchen!“ antwortet Dennis.
„Bitte,“ fleht Papa. „Ich bezahle Ihnen den Kurs!“
„Darum geht es nicht!“ meint Dennis, und macht eine Gedankenpause. „Sie wissen sich keinen anderen Rat?“
„Leider nein.“
Dennis nickt bestätigend:
„Dann besuchen Sie oder ihre Frau, wer gerade Zeit hat, mich mit ihrem Sohn nach den Hausaufgaben nachmittags im Kloster.“
„Okay, danke sehr,“ antwortet Papa erleichtert und bietet Dennis seine Hand an. Dennis schlägt, aufmunternd lächelnd, ein.
Dennis geht anschließend zu seiner Mutter und sagt:
„Wir sollten aufbrechen!“
Zu Tante Alice gewandt, meint er:
„Es tut mir leid, dass sich der Abend so entwickelt hat. Heute ist doch Ihr Freudentag!“
Dennis nimmt nun seine Schultertasche, legt sich den Riemen quer über die Brust, öffnet sie und nimmt zwei weiße Schals heraus, die er Tante Alice und dem Onkel über die Schultern legt. Er verbeugt sich leicht und führt seine gefalteten Hände an seine Lippen. Dabei sagt er:
„Glück und Segen Euch!“
Kurz darauf verlassen sie das Fest.

*

Ich habe nach diesem Wochenende Angst, in die Schule zu gehen. Dennis ist nicht da, und so werde sicherlich ich die Retourkutsche abbekommen. Da Papa schon zur Arbeit gefahren ist, fährt Mama mich den Schulweg und klopft dort an die Tür des Lehrerzimmers. Sie hat mir versprochen mit Herrn Belz zu reden.
Im Unterricht halte ich mich zurück, beantworte Fragen der Lehrer nur, wenn sie mich direkt ansprechen. In den Pausen sehe ich unseren Vertrauenslehrer am Rand des Schulhofes stehen und die Szenerie beobachten.
Am Donnerstagnachmittag hat Papa endlich Zeit mit mir zu dem buddhistischen Kloster zu fahren, in dem Dennis und seine Mutter wohnen sollen.
Wir kommen zu einem zweistöckigen Haus mit Walmdach, das etwas von der Straße zurückliegt, und daher einen breiten Vorgarten mit Rasen und einzelnen Zierbüschen aufweist. Das Haus ist blendend weiß gestrichen, nur das obere Fensterband ist braun abgesetzt. Wir gehen über einen breiten Weg auf die Doppeltür zwischen zwei Säulen zu, die einen überdachten Eingang bilden. Dahinter öffnet sich ein großes Foyer mit senkrecht stehenden Rollen an den Wänden und einem Bodenmosaik, das einen schwarzen und einen weißen Tropfen darstellt, mit einem runden Punkt in der Mitte und alles in einem großen Kreis.
Ein kahlgeschorener junger Mann in rotem Gewand kommt auf uns zu. Papa fragt ihn nach Dennis Bäcker. Als der Mann ihn verständnislos anschaut, sage ich:
„Papa meint Lama Rinpoche!“
Tante Alice hat auf dem Fest gesagt, dass Dennis sich jetzt Lama Rinpoche nennen darf. Der junge Mann nickt lächelnd und bedeutet uns, ihm zu folgen. Er führt uns über die breite Treppe in das oberste Stockwerk. Dort wird ein dumpfer Gesang immer deutlicher, je näher wir einem Raum kommen. Unser Führer sagt:
„Bitte, warten Sie hier! Ich melde Sie an.“
Er betritt den Raum und lässt dabei die Tür offenstehen.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Di Jun 16, 2020 10:22 am

Der Raum ist angefüllt mit rotgekleideten, kahlgeschorenen Männern, die auf dem Boden sitzen. Sie wiegen ihre Oberkörper und lassen diesen unheimlichen Gesang ertönen. Auf einem breiten reichverzierten Stuhl sitzt ein älterer Mann mit untergeschlagenen Beinen. Alle haben sie bei dieser fremdartigen Zeremonie ihre Augen geschlossen. Unser Führer nähert sich einem Mann und lässt sich neben ihm nieder. Ich erkenne in dem Mann Dennis, oder Lama Rinpoche.
Nach einiger Zeit öffnet der Mönch die Augen. Der junge Mann, der uns hierhergeführt hat, verbeugt sich leicht und hebt die gefalteten Hände. Dabei sagt er etwas. Dennis schaut in unsere Richtung und erhebt sich leise. Ohne die Anderen zu stören, kommen beide zu uns heraus.
„Hallo, guten Tag,“ grüßt uns Dennis, verbeugt sich und hebt lächelnd seine gefalteten Hände. Dann bittet er uns, ihm zu folgen. Wieder betreten wir die Treppe. Wir gehen in den Keller des Klosters. Unterwegs erklärt uns Dennis:
„Kungfu wird hier im Westen als ostasiatische Kampfkunst angesehen. Es wurde über Jahrtausende von buddhistischen Mönchen durch genaue Naturbeobachtung entwickelt und dient dem Frieden, nicht dem Prügeln!“
Wir haben bald den Keller erreicht und schauen durch eine Tür in einen Trainingsraum. Junge Männer in einer braunen Kutte, die nicht viel jünger als Dennis sein können, stehen dort in Reih und Glied und ahmen einen Lehrer nach. Der Mann in roter Kutte kommentiert sein Tun und korrigiert einzelne Schüler. Dieser Mönch dürfte etwa so alt wie Papa sein, schätze ich. Dennis lässt uns eine Weile zuschauen, dann sagt er:
„Kungfu durchzieht das ganze Leben! Unsere Klosterschüler machen Übungen, die man zum Beispiel ‚Affe‘ oder ‚Vogel‘ nennt. Hieran erkennen Sie die genaue Naturbeobachtung der Mönche. Natürlich kann man auch ganz alltägliche Bewegungsabläufe zugrunde legen und daraus die Techniken entwickeln, mit denen man mögliche Gegner in Schach hält oder sie sich gegenseitig ausschalten lässt.“
„Dieses ‚Sich gegenseitig ausschalten lassen‘ war das, was Sie bei den Kerlen vor Tagen angewandt haben…“ kommentiert Papa Dennis‘ Erklärung und schaut Dennis fragend an.
„Ja. Es war für mich ganz leicht, denn sie hatten ihre Gehirne nicht im Kopf, sondern in ihren Fäusten. Sie überlegten nicht.“
„Aber wenn man zu lange überlegt, kann es auch zu spät zum Reagieren sein!“ antwortet Papa.
„Deshalb lassen wir unsere Schüler ein kontinuierliches Training durchlaufen. Sie trainieren und wiederholen die Übungen immer wieder und wieder. Die Übungen müssen quasi endlos wiederholt werden. So werden sie zur Choreografie, die ihnen in Fleisch und Blut übergeht. Man wird sie nicht mehr los. Sie werden Teil von allem, was man tut. So sind sie auf jede denkbare Situation vorbereitet. Das ist vielleicht schwer vorstellbar…“
„Ich fürchte, so lange hat Noah keine Zeit mehr!“
„Ist es denn in den letzten Tagen zu weiteren Angriffen gekommen? In der Schule zum Beispiel?“ fragt Dennis mit gekräuselter Stirn.
„In der Schule ist die Pausenaufsicht verstärkt worden. Sie greift frühzeitig ein und sorgt dafür, dass es zu keiner Eskalation kommt. Den Schulweg übernimmt meine Frau. Noah kann nun aber nach den Hausaufgaben nicht mehr vor die Tür,“ berichtet Papa.
„Das ist kein Zustand!“ pflichtet Dennis Papa bei.
Wir sind inzwischen wieder im Foyer zurück. Ich frage Dennis jetzt:
„Was sind das für Rollen an den Wänden entlang?“
„Das sind Gebetsmühlen,“ erklärt mir Dennis lächelnd. „Wenn man sie dreht, nimmt der Wind die Gebete um Frieden, Glück und Gesundheit mit sich fort. Irgendwann wird das eine oder andere Gebet auch erfüllt!“
Ich höre ihm aufmerksam zu und laufe spontan zu den Gebetsmühlen.
„Immer rechts herumdrehen!“ ruft mir Dennis lächelnd hinterher.
Ich laufe einmal um das Foyer herum von einer Gebetsmühle zur Anderen und drehe sie, bevor ich zu den Beiden zurückkomme und von Einem zum anderen schaue.
„Kommen Sie morgen mit ihrem Jungen hierher zurück!“ bietet Dennis uns nun an. „Um wieviel Uhr kann ich damit rechnen?“
„Wir können täglich gegen 16Uhr hier sein,“ antwortet Papa. „Allerdings wird ihn meist seine Mutter bringen müssen. Wie lange wird das Training dauern?“
„Täglich, sagen Sie? Dann reicht erst einmal eine halbe Stunde. Später kann man die Trainingseinheit erweitern. Ich denke, das reicht. Ihre Frau kann in der Zeit Kaffeeklatsch bei meiner ehrwürdigen Mutter halten,“ entscheidet Dennis.
„Und wieviel würde das Training kosten?“ nimmt Papa das Thema Geld wieder auf.
Dennis schüttelt vehement den Kopf und entgegnet: „Ich nehme kein Geld! Wenn Sie möchten, spenden Sie dem Kloster hin und wieder einen kleinen Betrag…“
„Okay,“ meint Papa und lächelt.
Wir verabschieden uns nun von Dennis und gehen zum Auto zurück.
Am Nachmittag des darauffolgenden Tages fährt Mama mit mir zu dem Kloster. Wieder werden wir im Foyer aufgehalten und gefragt:
„Darf ich fragen, wohin Sie möchten?“
Mama erklärt dem jungen Mönch:
„Wir sind mit Lama Rinpoche verabredet.“
„Ah,“ macht der Gelong -Mönch-. „Dann folgen Sie mir bitte. Ich führe Sie gerne zu dem ehrenwerten Lama.“
Es geht wieder die Treppe hinauf. Dieses Mal nimmt er jedoch einen Gang ein Stockwerk tiefer.
Er öffnet eine Tür und schaut in den Raum. Dann bedeutet er uns, ihm leise zu folgen. Der Raum ist fremdländisch eingerichtet, aber man kann einen niedrigen Schreibtisch und Bücherregale erkennen. An einer Seite des Raumes gibt es einen Raumtrenner aus Fachwerk ohne Füllung der Zwischenräume. Dahinter sitzt Dennis mit geschlossenen Augen zwischen den Möbeln auf dem Boden.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Mi Jun 17, 2020 10:23 am

Unser Führer tritt lautlos näher und berührt Dennis leicht an der Schulter. Dennis öffnet die Augen und schaut unseren Führer lächelnd an. Dieser tritt ein wenig zur Seite und gibt den Blick auf Mama und mich frei. Er flüstert Dennis etwas zu. Dennis nickt daraufhin und erhebt sich. Während er sich uns nähert, will unser Führer den Raum leise verlassen.
„Verehrter Bruder,“ sagt Dennis nun. „Würdet Ihr die Dame zu meiner ehrwürdigen Mutter führen?“
Der Mönch nickt und verbeugt sich. Kurz darauf bin ich mit Dennis allein. Ich schaue ihn erwartungsvoll an.
Dennis beginnt: „Ich könnte mit dir durch Parks und Wälder spazieren gehen und dir die Wildtiere zeigen, wie sie sich bewegen. Du hast gestern im Keller unsere Klosterschüler die Bewegungen einiger Wildtiere nachahmen gesehen. Kungfu durchzieht das ganze Leben. Es kann auch ein ganzes Leben benötigen, um darin meisterlich zu werden. Kungfu ist nicht bloß das, was du mit deinen Augen siehst. Es geht tiefer! Es hat etwas mit Charakter und Einstellung zu tun – und mit deinem Umgang mit deinen Mitmenschen, Noah.“
„Was muss ich tun, Meister?“ frage ich eingeschüchtert.
„Hänge zuerst einmal deine Jacke hier an den Haken,“ fordert er mich auf und lächelt mir zu.
Ich habe meine Jacke, wie immer, gedankenlos am Eingang des Zimmers ausgezogen und über einen Hocker fallen gelassen. Also gehe ich zurück zur Zimmertür, hebe sie vom Hocker auf und nähere mich ihm, um sie an einem Haken am Fachwerk aufzuhängen.
Nun folgen in kurzen Abständen Kommandos, die ich zunehmend sinnlos empfinde. Ich befolge sie mit immer größer werdendem Unwillen.
Dennis sagt: „Jacke anziehen! – Jacke ausziehen! – Jacke fallen lassen! – Jacke aufheben! – Jacke hinhängen! – Jacke anziehen! – Jacke ausziehen! – Jacke fallen lassen! – Jacke aufheben! ...“
Irgendwann begehre ich auf:
„Echt, Dennis! Mir reicht’s! Ich habe es gecheckt! Respekt zeigen! Die Jacke an, aus, an, aus… tausendmal! Das ist bescheuert! Mir reicht’s! Ich gehe!“
Ich mache Anstalten meine Jacke anzuziehen, um zu gehen. Dennis hält mich am Arm fest und greift mit der anderen Hand nach.
„Ich spüre keinen Widerstand,“ sagt er. „Sei stark!“
Danach lässt er mich los, nimmt mir die Jacke aus der Hand und lässt sie zwischen uns auf den Boden fallen. Dann kommandiert er:
„Jacke an!“
„Aber die Jacke…“ beginne ich den Satz. Meine Nase kribbelt. Ich verziehe das Gesicht zum Weinen.
„Jacke an!“ wiederholt er energisch.
Also bücke ich mich nach der Jacke. Im gleichen Moment tritt Dennis nach mir. Der Tritt geht über mich hinweg, da ich mich ja gebückt habe. Danach richte ich mich wieder auf und schaue ihn mit großen Augen an.
„Wow!“ ist das Einzige, was mir in dem Moment einfällt zu sagen.
„Siehst du!“ sagt Dennis. „Die Bewegung im rechten Moment ausgeführt, schützt dich vor einem Schlag mit dem Fuß! Du hast mit der Jacke einen ganzen Bewegungsablauf gemacht. Die Einzelschritte habe ich mit Kommandos verknüpft… Konzentriere dich und sei stark! Nicht vergessen, deine Muskeln müssen immer gespannt sein!“
Wieder spricht er die Kommandos und dringt dabei auf mich ein. Ich versuche, den Schlägen und Tritten nach Kommando auszuweichen. Nach einigen Minuten gönnt er mir eine Verschnaufpause.
Meine Reaktion ist wieder nur: „Wow!“
Kurz darauf sagt er:
„Konzentriere dich! Sammele deinen Geist! – Linker Fuß zurück! – Rechter Fuß zurück! – Linker Fuß…“
Dazwischen höre ich die gewohnten Kommandos. Während Dennis so vorrückt, geht er mich weiter an. Ich versuche ihn abzublocken und bücke mich bevor er mich tritt, weil davor immer das Kommando „Jacke aufheben!“ kommt. Vor den Bücherregalen wendet er, übt mit mir das Abblocken und Ausweichen auf der Stelle und danach in Bewegung zurück bis zur anderen Wand bei seinem Schreibtisch.
Schließlich meint er:
„Lassen wir es für heute gut sein! Ich bringe dich zu deiner Mutter.“
Ich bin außer Atem und nicke nur. Meine Jacke ziehe ich an, während wir über die Gänge des Klosters gehen. Unterwegs fragt er mich:
„Dein Vater ist eine Respektperson für dich! Warum ist das bei deiner Mutter nicht der Fall?“
Ich schaue Dennis groß an und antworte:
„Ich habe Mama lieb!“
„Und warum muss dann deine Mutter ständig hinter dir herräumen? Zeige ihr deinen Respekt, indem du nichts mehr herumliegen lässt! Deine Mama hat dich auch sehr lieb! Sie hat dich unter ihrem Herzen getragen. Dafür solltest du dich dankbar zeigen, mein Junge. Kungfu bedeutet auch Charakterbildung! Es ist eine Einstellungssache! Denke immer daran.“
Bald bleiben wir vor einer Zimmertür stehen. Dennis klopft an. Frau Bäcker, seine Mutter, öffnet uns und lässt uns eintreten. Ich ziehe meine Jacke aus und orientiere sich kurz. Dann hänge ich sie an einen Haken neben der Tür und folge Dennis an den Tisch.
Mama schaut auf, als wir hereinkommen. Sie lächelt uns entgegen. Dann macht sie große Augen, als ich die Jacke an den Haken hänge. Jetzt sieht sie Dennis an und ein feines Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. Anschließend bin ich beim Couchtisch angekommen, sehe Dennis daran knien und knie mich neben ihn an den Tisch. Dann setze ich mich auf meine Fersen und schaue ihn erwartungsvoll an.
„Was heißt eigentlich ‚Lama Rinpoche‘?“ frage ich.
„Jahrelang war ich der Schüler Dennis im Kloster in Nepal,“ erklärt er mir. „Kurz bevor wir wieder nach Deutschland zurückgeschickt wurden, hat Seine Heiligkeit, der Abt des dortigen Klosters, mich zum Lama ernannt und mir den Namen Rinpoche gegeben. ‚Lama‘ bedeutet ‚spiritueller Lehrer‘ und ‚Rinpoche‘ kann man mit ‚der Wertvolle‘ übersetzen. Das ist nichts Ungewöhnliches, mein Junge. Auch hinter deutschen Namen steckt eine Bedeutung!“
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Do Jun 18, 2020 9:51 am

Er streicht mir sanft übers Haar und ergänzt: „Noah bedeutet zum Beispiel ‚Ruhe, Trost‘.“
Ich mache große Augen und Mama rutscht näher an mich heran. Sie legt mir ihren Arm um die Schultern. Ich lehne mich bei Mama an. Nun lächelt Dennis.
Mama fragt ihn:
„Wie macht sich Noah?“
„Er zeigt gute Anlagen,“ antwortet Dennis. „Es braucht aber noch etwas, um sie heraus zu bilden.“
„Das freut mich,“ sagt Mama lächelnd, und zu Frau Bäcker gewandt meint sie: „Dann wollen wir aufbrechen. Morgen sind wir ja schon wieder hier.“
Frau Bäcker nickt lächelnd und wir alle erheben uns. Ich habe inzwischen meine Jacke erreicht und ziehe sie mir über.
Mama und Frau Bäcker verabschieden sich freundschaftlich voneinander. Anschließend führt Dennis uns zurück ins Foyer. Dort verabschiedet er sich von uns und sagt zu mir:
„Kungfu liegt in allem, was wir tun, Noah! Auch darin, wie wir andere Menschen behandeln. Ich freue mich auf Morgen!“
„Okay,“ meine ich schüchtern, und nicke lächelnd.
Mama sagt: „Auf Wiedersehen, Herr Bäcker. Oder wie darf ich Sie nennen?“
Dennis lächelt, neigt den Kopf leicht und hebt die gefalteten Hände.
„Nennen Sie mich Herr Bäcker, oder Dennis, oder Lama Rinpoche,“ antwortet er. „Es ist alles richtig. Wichtig ist ihre Einstellung dahinter, mit der Sie mir gegenübertreten.“
Mama lächelt unsicher und verlässt mit mir schnell das Kloster.

*

Bis auf die Sonntage gehe ich jetzt schon seit zwei Wochen meist mit Mama in das buddhistische Kloster in unserer Heimatstadt. Lama Rinpoche, der im bürgerlichen Leben Dennis Bäcker heißt und etwa acht Jahre älter ist als ich, bringt mir die ostasiatische Verteidigungstechnik bei, die vor langer Zeit von Mönchen entwickelt und vervollkommnet worden ist.
Allerdings geht Dennis dabei etwas außergewöhnlich vor, was sicher der Zeit geschuldet ist, denn den Klosterschülern brennt kein Problem unter den Nägeln. Auch leben sie in einer anderen Kultur, wenn auch ebenso in Deutschland wie ich.
Wenn Papa mich ins Kloster bringt, was heute erst das dritte Mal in der Zeit passiert ist, unterhält er sich mit dem Lama. Dennis ruft dann einen Gelong, wie man hier die jungen Mönche nennt, und lässt mich mit ihm Krafttraining machen.
So auch heute: Ich habe zuerst Liegestütz gemacht. Die Füße lagen zuerst auf einem Hocker, später auf einem der niedrigen Tische. Danach habe ich einen Handstand machen müssen, die Füße dabei an die Wand gelehnt. Der Gelong hat einen weiteren Hocker herbeigeholt. Nun soll ich im Handstand auf beide Hocker steigen und wieder herab. Währenddessen hat mich der Gelong an den Beinen festgehalten.
Anschließend hat er meine Arme massiert und mit irgendetwas eingerieben.
Danach ist der Gelong in die Hocke gegangen und hat sich in der Stellung umgedreht, während er mit dem Fuß nach etwas Unsichtbarem getreten hat. Das habe ich nachahmen sollen. Danach habe ich das Stehen auf einem Bein geübt. Das ist ziemlich schwierig gewesen, besonders auf dem linken Bein. Aber der Gelong hat mich stets aufgefangen. Dabei haben wir viel gelacht. So macht mir das Training Spaß!
Schließlich ist meine heutige halbe Stunde vorbei und der Gelong bringt mich zu Dennis zurück. Dort treffe ich Papa im Gespräch über die Wiedergeburt.
„Schauen Sie, was Sie Himmel nennen, heißt bei uns Nirwana,“ sagt Dennis gerade. „Was sie Fegefeuer nennen, bezeichnen wir vielleicht als die Wieder-geburt, obwohl es das nicht wirklich trifft. Die ewige Verdammnis, die Hölle, kennen wir nicht!“
„Ich hörte, dass Sie die Wiedergeburt eines tibetischen Mönches sein sollen, der seine letzten Jahre in Nepal verbracht hat…“ will Papa wissen.
„… und in seinen letzten Lebensjahren immer davon sprach, unseren Glaubens-brüdern im Westen beistehen zu wollen,“ ergänzt Dennis den Papas Satz.
„Sind Sie mir nicht böse,“ antwortet Papa nun lächelnd, „aber ich glaube nicht an die Wiedergeburt!“
„Das verlangt auch niemand von Ihnen!“ stellt Dennis fest. „Hier geht es um Toleranz seinen Mitmenschen gegenüber. Ich gebe Ihnen ein Beispiel unserer Denkweise: Meine Tasse ist das Gefäß, der Körper. Der Tee darin ist die Seele…“
Dennis schlägt die Tasse auf die Tischkante. Sie zerbricht. Der Tee läuft über den Tisch und tropft auf den Boden. Dazu sagt er erklärend:
„Nun ist die Tasse keine Tasse mehr. Aber was ist der Tee auf dem Tisch und dem Boden?“
„Immer noch Tee,“ antwortet Papa.
Dennis erhebt sich und nimmt einen Putzlappen. Damit wischt er den Tee auf.
„Nun befindet sich der Tee im Tuch. Ich könnte das Tuch auswringen und den Tee in eine neue Tasse gießen. Dann hat er ein neues Gefäß.“
„Den würde ich dann aber nicht mehr trinken wollen!“ meint Papa grinsend dazu. Auch ich muss bei der Vorstellung lächeln.
Dennis lächelt ebenfalls, geht zum Putzeimer und lässt das Tuch hineinfallen. Das Experiment ist spaßig, aber doch interessant gewesen.
„Sie erkennen aber nun den buddhistischen Denkansatz,“ meint Dennis. „Wie gesagt, Sie müssen nicht daran glauben!“
Danach wendet er sich mir zu und sagt:
„Übermorgen bin ich wieder für dich da, Noah. Habt eine gute Heimfahrt und dir viel Spaß und Glück in der Schule!“
„Vielen Dank, Dennis! Und, bis Übermorgen dann,“ antworte ich und mache seine Abschiedsgeste nach.
„Wiedersehen,“ sagt Papa und streckt Dennis demonstrativ die Hand hin.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Fr Jun 19, 2020 9:53 am

Dennis drückt sie kurz und lächelt uns zum Abschied zu. Wir verlassen seine Privaträume eigenständig, da wir den Weg nach draußen inzwischen kennen.
Auf der Heimfahrt hänge ich still meinen Gedanken nach. Morgen ist Sonntag und am Montagmorgen schreiben wir eine Klassenarbeit. Die will ich nicht verpatzen.

*

Nachdem wir die Klassenarbeit beendet haben, werden wir in die große Pause entlassen. Wie üblich halte ich mich am Rand des Pausenhofes auf und schaue dem Treiben der anderen Schüler zu. Ich esse mein Pausenbrot und habe meine Brotdose neben mich auf die Bank gelegt.
Zwei der Jungen laufen sich ausgelassen kreuz und quer über den Pausenhof nach. Dabei laufen sie auch nahe an mir vorbei. Der Vordere der Beiden hat ein Füllermäppchen in der Hand, dass sicher dem Hinterherlaufenden gehört. In meiner Nähe wirft der Vordere das Füllermäppchen weg und läuft weiter. Der Hintere hebt sein Mäppchen auf und läuft zu seiner Tasche zurück.
In dem Moment werde ich angerempelt. Ich sehe den Jungen von vorhin nun mit meiner Brotdose davonlaufen. Sofort bin ich auf und verfolge den Jungen. Dann werfen sich mehrere Jungen gegenseitig meine Brotdose zu und lachen mich aus. In meinen Gedanken höre ich Dennis‘ Stimme mir zuflüstern „Ruhe bewahren, Noah!“ Ich erinnere mich an ein kurzes Gespräch beim Training, als er mir sagte „Zwischen ruhig sein und nichts tun gibt es einen großen Unterschied!“
Also bleibe ich stehen und atme mehrmals tief durch, um mich zu beruhigen. Die drei Jungen in meinem Alter, die mir meine Brotdose streitig machen, beginnen nun mich zu provozieren, mich mit Worten zu beleidigen. Mal kommt der Eine, mal ein anderer näher und hält mir die Brotdose hin, die der Eine ihm davor zugeworfen hat.
Schließlich stürme ich auf den los, der mir gerade meine Brotdose lachend entgegenhält. Während er sich wegdreht, stürmen die beiden Anderen von den Seiten auf mich los. Ich bücke mich und springe flach nach vorne. Während ich den Jungen mit meiner Brotdose an den Unterschenkeln erwische und zu Fall bringe, stoßen die beiden anderen gegeneinander und behindern sich einen Moment lang gegenseitig. So habe ich Zeit genug für mich, die Brotdose einzustecken.
Der Junge, den ich zu Fall gebracht habe, dreht sich auf dem Boden zur Seite. In diesem Moment ist die Pausenaufsicht heran und hindert die beiden anderen Jungs daran, sich auf mich zu stürzen. Er schickt sie weg, damit er sich um den Jungen am Boden kümmern kann. Ich knie aber schon neben seinem Kopf und gebe ihm ein Taschentuch, um seine Schürfwunde zu reinigen.
Einen Moment zögert der Lehrer, als er meine Handlung sieht. Danach beugt auch er sich zu dem Schüler hinunter und hilft ihm auf die Beine. Auf dem Weg zum Waschraum, lässt er sich den Hergang von mir erzählen. Dann fragt er den blutenden Schüler:
„Ist es so gewesen?“
Dieser nickt. Der Lehrer holt Luft und öffnet den Mund, vielleicht für eine kurze Moralpredigt. Doch er schaut mich kurz an und fragt dann den anderen Schüler:
„Wenn man dir die Brotdose weggenommen hätte und alles wäre genauso geschehen, nur mit vertauschten Rollen, würdest du dich wie Noah jetzt auch um die Wunde kümmern?“
Der Junge schaut mich groß an, sagt aber nichts. Dann schaut er zu Boden. Bald ist der Junge verarztet und trägt ein Pflaster auf der Stirn. Als wir den Waschraum verlassen, spricht er mich an:
„Hi, ich bin der Markus aus der 6c…“
Ich schaue ihm in die Augen. Er lächelt verlegen. Also antworte ich:
„Ich bin der Noah aus der 6b! Wollen wir Freunde sein?“
„Gern,“ sagt er.
Wir geben uns die Hand und gehen in unsere jeweiligen Klassen, um am weiteren Unterricht teilzunehmen. In der Folgezeit treffen wir regelmäßig in den Pausen zusammen, reden und spielen miteinander. Es kommt zu keinen weiteren Aktionen mehr. Vielleicht trauen sich die Jungs nicht, gleichzeitig gegen zwei vorzugehen?

*

Am Montagnachmittag begleitet Mama mich zum Training. Dennis beginnt damit die Übungen aus der Vorwoche zu wiederholen, wie jeden Montag. Mir liegt aber der Vorfall von heute Morgen auf der Seele. Also spreche ich ihn darauf an:
„Heute Morgen ist in der großen Pause etwas passiert…“
Dennis hält inne und runzelt die Stirn. Er setzt sich auf einen der beiden Hocker im Übungsraum und fordert mich auf:
„Setz dich! Erzähle!“
„Nun ja, man hat mir die Brotdose geklaut. Zuerst bin ich hinterhergelaufen, aber da es gleich drei Jungs in meinem Alter waren, konnte ich sie ihnen zuerst nicht abjagen. Dann habe ich mich an deine Worte erinnert ‚Ruhe bewahren‘. Ich habe sie ruhig beobachtet, um den richtigen Zeitpunkt heraus zu finden. Sie haben sich mir genähert, um mich zu provozieren. Dann habe ich es geschafft, denjenigen zu Boden zu werfen, der meine Brotdose gerade in der Hand hatte. Ich habe die Brotdose eingesteckt und mich danach um die Stirnwunde des Jungen gekümmert.“
Dennis legt mir lächelnd seine Hand auf die Schulter und schaut mir in die Augen. Dadurch werde ich etwas unsicher, aber er lobt mich:
„Das war sehr richtig von dir! So musst du das immer wieder tun, wenn irgend möglich. So gewinnst du ehrliche Freunde und verschaffst dir Respekt unter den Anderen!“
„Ja, stimmt,“ bestätige ich ihm. „Als der Markus auf dem Boden lag und blutete, hat sich ein ganzer Kreis Zuschauer um uns gebildet. Seitdem lässt man mich in Ruhe und der Markus hat mir die Freundschaft angeboten.“
Dennis erhebt sich vom Hocker und fährt mir mit der Hand kurz durch mein Haar.
„Du hast die Philosophie hinter dem Kungfu verstanden, mein Junge,“ sagt er und präzisiert es noch einmal: „Niemals angreifen, nur verteidigen! Und dem Gegner Respekt erweisen!
Dann wollen wir einmal das Gelernte von letzter Woche wiederholen…“
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Sa Jun 20, 2020 9:48 am

Nach der halben Stunde gehen wir wieder gemeinsam zu Mama, die bei Dennis Mutter sitzt und Tee trinkt. Auf dem Weg dorthin frage ich Dennis:
„Gibt es nicht auch Wettkämpfe unter Gleichaltrigen, wo man das Erlernte real anwenden kann. Bis ich wieder einmal in so eine Situation komme, wie heute, können Monate oder Jahre vergehen. In der Zeit kann man viel vergessen haben.“
„So eine Situation kann morgen schon wieder eintreten, oder natürlich auch erst in Monaten oder Jahren. Du musst eben ständig bereit sein, immer im Training bleiben, Noah,“ erwidert er.
„Gibt es keine Wettkämpfe unter Gleichaltrigen?“ lasse ich jedoch nicht locker.
„Unsere Klosterschüler sind viel älter als du. Zu Trainingszwecken gibt es in den Klosterschulen in Nepal schon Wettkämpfe, auch in deinem Alter. Aber das liegt 10.000 Kilometer entfernt…“
„Mein neuer Freund ist so alt wie ich!“ meine ich.
Dennis schüttelt lächelnd den Kopf.
„Ich möchte keine Kungfu-Schule hier in der Stadt gründen!“ sagt er bestimmend. „Mir ging es um dich, um dein Selbstbewusstsein, um deine Charakterbildung. Sobald du dir Respekt verschafft und Freunde gefunden hast, ist meine Aufgabe erledigt. Du trittst dann ganz anders auf als früher!
Und natürlich, musst du am Ball bleiben, ständig weiter trainieren!“
„In Nepal sind die Klosterschüler jünger?“ frage ich lauernd.
„Ja,“ gibt Dennis zu. „Dort kommen sie mit fünf oder sechs Jahren zu uns und verlassen die Schule mit etwa fünfzehn, um eine Ausbildung zu machen – wenn sie nicht im Kloster bleiben.“



Li Yong Tai
Mein Name ist Li Yong Tai. Meine ehrenwerten Eltern sind mit mir aus Hongkong geflüchtet, als ich gerade zwei Jahre alt gewesen bin, und haben hier in Deutschland eine zweite Heimat gefunden. Hier können wir ohne Angst vor dem großen Feind leben.
Seit Großbritannien seine Kronkolonie an China zurückgegeben hat, sind die Menschen dort nicht sicher, die für die Einhaltung der Menschenrechte auf die Straße gehen. So ist es auch meinem ehrwerten Vater ergangen. Er ist verhaftet worden und erst nach Zahlung einer Kaution freigekommen. Ohne das Geld hätte ihm die Verbringung nach China in ein ‚Umerziehungslager‘ gedroht.
Damit das bei einer erneuten Verhaftung nicht geschieht, hat er die Flucht gewählt. Von meinen ehrenwerten Großeltern weiß ich daher nur aus Erzählungen.
Da der Schulunterricht in Deutschland den Buddhismus nur am Rande berührt, hat mein ehrwürdiger Vater Erkundigungen eingezogen und mir einen Platz in der einzigen buddhistischen Klosterschule in Deutschland gesichert.
Ein Jahr bin ich schon dort, als eine deutsche Nonne -Gelongma- mit Namen Vanessa Nähkurse zu geben beginnt. In den Gesprächen untereinander höre ich, dass sie vorher zehn Jahre mit ihrem Sohn in einem Kloster in Nepal gelebt hat. Ihr Sohn ist zum Lama geweiht worden, bevor sie nach Deutschland zurückgekommen sind.
Ich melde mich neben dem Studium der buddhistischen Philosophie zu ihren Nähkursen an, nachdem mein ehrenwerter Vater telefonisch sein Einverständnis erklärt hat.
Nach einigen Monaten höre ich während der Ferien zuhause zufällig in einem Gespräch, dass meine ehrenwerten Großeltern von den Behörden in Hongkong schikaniert werden, obwohl sie ein unauffälliges Leben führen. Ich verbeuge mich tief vor meinem ehrenwerten Vater und frage ihn:
„Ehrenwerter Vater, darf ich einen Vorschlag machen?“
Der Vater unterbricht sein Gespräch mit erstaunter Miene. Mein Verhalten ihm gegenüber ist ja eher europäisch. Dennoch erlaubt er mir, meinen Gedanken auszusprechen. Ich verbeuge mich tief vor ihm und frage:
„Erlaubt mir der ehrenwerte Vater, dass ich mit unserer Geschichte zu meiner Gelongma gehen darf, mit der Bitte zu fragen, ob die Mönche -Gelong- dort eine Problemlösung kennen?“
Mein ehrenwerter Vater denkt nach und nickt dann. Er legt mir seine Hand auf die Schulter und sagt:
„Wir müssen leider nach jedem Strohhalm greifen, der sich bietet. Schaden kann es jedenfalls nichts, wenn du das Thema dort ansprichst, liebe Tochter!“

*

Zurück im Kloster nach den Ferien, brauche ich einige Tagen, um Mut zu fassen. Dann öffne ich mich Gelongma Vanessa, als wir zufällig unter vier Augen sind. Sie hört mir aufmerksam zu und sagt anschließend, ich solle erst einmal wieder an meine Arbeit gehen. Heute Abend nach dem gemeinsamen Abendessen soll ich sie dann in ihrem Zimmer besuchen.
Beschwingt gehe ich wieder an den Zuschneidetisch, wo ich im Augenblick beschäftigt bin. Wie vereinbart, gehe ich vom Speisesaal aus zu Gelongma -Nonne- Vanessas Zimmer. Sie kocht gerade Tee und will drei Gedecke auf den Couchtisch stellen. Also erwartet sie noch einen Gast. Ich verbeuge mich und frage:
„Verehrte Mimo, darf ich das Eindecken übernehmen?
Sie erlaubt es. Wenig später klopft es an der Zimmertür. Die Mimo -Frau/Mutter (hier als ehrenvoller Titel gebraucht)- geht zur Tür und öffnet sie. Herein tritt ein Lama, was ich am safrangelben Gewand unter dem weinroten Mantel erkenne. Sofort beuge ich mich derart in seine Richtung, dass meine Stirn fast den Boden berührt. Anschließend drehe ich den Kopf ein wenig und schaue zu dem ehrenwerten Lama neugierig hoch.
Er hat, wie die Mimo, keine asiatischen Gesichtszüge. In diesem Moment streckt er mir seine Hand entgegen, die Handfläche nach oben gerichtet und hebt die Hand leicht an. Dabei sagt er mit sanfter Stimme:
„Erhebe dich, meine Tochter!“
Ich komme in aufrecht kniende Stellung hoch und erkenne dabei, dass der ehrenwerte Lama nur wenig älter ist als ich.
Er lässt sich am Tisch nieder und ich setze mich wieder auf meine Fersen. Dabei schaue ich schüchtern vor mich hin. Eine Sekunde vergeht vielleicht, dann besinne ich mich wieder meines Auftrages und ergreife die Teekanne auf dem Tisch, um für den ehrenwerten Lama eine Teezeremonie zu gestalten, wie ich sie oft von meiner ehrenwerten Mutter gesehen habe, wenn die Familie hohe Gäste bewirtet. Der ehrenwerte Lama hebt die gefalteten Hände an sein Kinn und verbeugt sich, dankbar lächelnd.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1So Jun 21, 2020 9:52 am

„Hab Dank, meine Tochter,“ kommentiert er meine Aktion.
Die Mimo, die bisher geschwiegen hat, ergreift nun das Wort:
„Dies ist Yong Tai… eine meiner Schülerinnen. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt. Ich denke, du solltest dir einmal anhören, was sie zu sagen hat.“
Der ehrenwerte Lama schaut mich interessiert an. Zuerst schaue ich wieder zu Boden, drehe mich etwas und verbeuge mich noch einmal in seine Richtung.
„Nun, Yong Tai?“ ermuntert er mich mit seiner sanften Stimme.
Ich atme ein und beginne:
„Die ehrwürdige Mimo -Frau, Mutter- hat mich ermuntert, offen über das Schicksal meiner Familie zu sprechen, ehrenwerter Lama.“
„Ja?“ fragt er.
„Es ist so, dass meine ehrenwerten Großeltern in unserer Heimat zur Zeit unter Druck gesetzt werden, damit mein ehrenwerter Vater mit seiner Familie zurückkehrt. In der Heimat droht ihm aber die Verhaftung, und meiner ehrenwerten Mutter und mir das Umerziehungslager.
Meine ehrenwerten Eltern sind mit mir vor etwa 14Jahren nach Deutschland gekommen, weil der ehrenwerte Vater in der Heimat gegen die Chinesen und deren Einfluss in Hongkong demonstriert hat und deshalb von den Chinesen schon einmal verhaftet worden ist.
Nun liegen unsere Hoffnungen hier im Kloster.“
Der Lama greift über den Tisch, nimmt meine Hand und bedeckt sie mit seiner anderen Hand. Spontan beuge ich mich vor und berühre seinen Handrücken mit meiner Stirn. Ich frage:
„Ist es möglich, meine ehrenwerten Großeltern aus Hongkong herauszuholen, um ihnen hier einen Lebensabend in Freiheit und ohne Repressalien zu gönnen?“
Der Lama nickt lächelnd und fragt zurück:
„Gibt es sonst noch Verwandte in Hongkong, in anderen Städten oder in Taiwan?“
„Die ehrenwerten Großeltern durften nur ein Kind haben. Sie sind vor Jahrzehnten aus der Provinz nach Hongkong gereist und dort geblieben.“
„Ah, ihr habt schon eine Odysee hinter euch…“ kommentiert er meine Erklärung. „Ich werde Seiner Heiligkeit deine Geschichte vortragen! Gemeinsam werden wir eine Lösung finden!“
Vor Freude verbeuge ich mich noch einmal neben dem Tisch bis meine Stirn wieder den Boden berührt. Anschließend schickt mich die Mimo auf mein Zimmer. Vor Erleichterung habe ich das Gefühl, den Weg dorthin schwebend zurückzulegen.
Am nächsten Morgen erscheint nach dem Frühstück ein Gelong -Mönch- in dem Unterweisungsraum, in dem eine Gelongma mit uns über die buddhistische Philosophie redet. Er geht an der Zimmerwand entlang auf die Gelongma -Nonne zu und flüstert ihr etwas zu. Dann schauen beide zu mir herüber. Die Gelongma hebt die Hand mit nach oben gerichteter Handfläche schwungvoll. Ich erhebe mich und suche meinen Weg in Richtung Tür, möglichst ohne die anderen Schülerinnen zu stören. Der Gelong nimmt den gleichen Weg und sagt an der Tür zu mir:
„Seine Heiligkeit wünscht die Schülerin Li Yong Tai zu sprechen.“
Ich nicke und hebe die gefalteten Hände an das Kinn.
„Ich bin bereit!“ antworte ich und folge dem Gelong durch die Gänge.
Als wir den Thronsaal erreicht haben und der Gelong mir bedeutet, ihm hinein zu folgen, falle ich nach dem Eintreten auf die Knie und verbeuge mich ehrfurchtvoll in Richtung des Mannes auf dem Thron.
„Komm näher, meine Tochter!“ fordert Seine Heiligkeit mich mit sanfter mitfühlender Stimme auf.
Ich wage es nicht, mich zu erheben, so sehr hält mich die Situation gefangen. Daher rutsche ich auf Knien näher, immer wieder den Boden mit der Stirn berührend.
„Berichte mir vom Schicksal deiner ehrenwerten Familie,“ ermuntert mich Seine Heiligkeit.
Ich wiederhole, was ich am Vorabend dem ebenfalls anwesenden Lama schon berichtet habe.
„Kennst du den Weg vom Flughafen zur Adresse deiner ehrenwerten Großeltern?“ fragt Seine Heiligkeit nachdem ich geendet habe.
Ich schüttele traurig den Kopf. Die ganze Zeit wage ich es nicht, den Blick zu heben.
„Aber deine ehrenwerten Eltern haben die Adresse?“
Ich nicke eifrig und hebe die gefalteten Hände an meine Lippen.
„Wir werden deiner ehrenwerten Familie helfen!“ kündigt Seine Heiligkeit mir an. „Dafür muss ich aber mit deinem ehrenwerten Vater sprechen! Ist es möglich, dass er das Kloster in Kürze aufsucht?“
Als ich das vernehme, schießen mir Tränen in die Augen und laufen die Wangen hinunter. Ich kann nicht anders, als mich platt auf den Boden zu werfen. Meine Schultern zucken durch das Weinen, mein Körper fühlt sich kraftlos an. Gleichzeitig durchströmt mich ein starkes Glücksgefühl. Der junge Lama erhebt sich nun und nähert sich mir, um mich sanft an den Schultern anzuheben. Während ich mich bei ihm anlehne, trocknet er mir die Tränen.
„Berichte deinen ehrenwerten Eltern von der Unterredung und dass dein ehrenwerter Vater baldmöglichst das Kloster aufsuchen soll,“ sagt er mit leiser sanfter Stimme.
Ich bin so froh! Am liebsten wäre ich ihm in westlicher Manier um den Hals gefallen. Ich habe mich erkundigt und erfahren, dass er Lama Rinpoche -der Wertvolle- heißt. Ich mag ihn sehr!
Mich erhebend, verlasse ich rückwärtsgehend mit vielen Verbeugungen den Raum.

*

Noah möchte sich beweisen und hat mich, Dennis, gefragt, ob wir Kungfu-Wettkämpfe unter Gleichaltrigen in Nepal kennen. Natürlich lassen wir in Nepal unsere Schüler zu Trainingszwecken gegeneinander antreten und geben verschiedenfarbige Gürtel als Auszeichnung. Richtige Wettkämpfe sind das jedoch nicht.
Kommerzielle Kungfu-Schulen veranstalten allerdings Wettkämpfe zwischen den Schulen. Dabei wird aber die buddhistische Philosophie eher vernachlässigt zugunsten des Wettkampfgedankens.
Mir kommt da eine Idee, über die ich mit Noahs Vater sprechen muss. Als Noah wieder einmal mit seinem Vater ins Kloster kommt und ein Gelong mit ihm Kraft- und Reaktionstraining macht, spreche ich den Vater darauf an:
„Herr Mann, waren Sie schon einmal in Hongkong?“
„Nein,“ meint er und macht ein verständnisloses Gesicht. „Wieso?“
„Hongkong ist eine Mehrmillionenstadt, wie zum Beispiel auch New York. Sie liegt an der chinesischen Pazifikküste und war früher britisches Mandatsgebiet. Als die Briten sich zurückzogen, wurde Hongkong ein selbstverwalteter Stadtstadt. Heute ist die Stadt eine chinesische Sonderverwaltungszone, weitgehend selbständig, aber unter starkem chinesischem Einfluss.
Himmelstrebende Hochhäuser gibt es dort und auch traditionelle Architektur. Sie hat grüne Parks, von denen zwei auch für die Touristik interessant sind…
Ich frage, weil Noah mir mit einer Asienreise in den Ohren liegt.“
„Ich weiß,“ antwortet sein Vater und schaut mich zweifelnd an. „Er möchte Land und Leute kennenlernen und auch an einem Wettkampf teilnehmen…“
„Ich bin gegen einen Wettkampf, nur um des Wettkampfes Willen. Ich möchte ihm beibringen, dass Kungfu eine Lebenseinstellung ist und dem Frieden dient. Wir werden angehalten für alle Geschöpfe Mitgefühl zu empfinden, selbstlos für den Schwächeren einzutreten. Sie könnten mir dabei helfen!“
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Mo Jun 22, 2020 8:54 am

Herr Mann kräuselt die Stirn:
„Wie kann ich Ihnen dabei helfen, Herr Bäcker?“
Ich schenke ihm reinen Wein ein und erkläre:
„Ich stehe vor einer Reise nach Hongkong, um zwei alte Herrschaften heraus zu holen, die Großeltern einer unserer Schülerinnen. Bisher ist geplant, dass ich in Zivil reise – ein Lama würde sofort verhaftet, zumindest aber beschattet – und die Schülerin als Kontaktperson mitnehme.
Noch unauffälliger wäre es, wenn ich als ihr Neffe reise. Wenn also Sie und ihr Sohn einen Urlaub von wenigen Tagen dort verbringen und ich sie als ihr Neffe begleite. Unsere Schülerin macht dann die Hostess, die Gästebetreuerin.“
„Das muss ich aber erst mit meiner Frau besprechen!“ entscheidet Herr Mann. „Da ist noch die Kostenfrage…“
„Natürlich!“ gebe ich ihm Recht. „Das Kloster bucht eine Pauschalreise für alle beteiligten Personen, Flug, Hotel und Verpflegung inklusive!“

*

Einen Monat später sitzen wir im Flugzeug von Frankfurt über Dubai nach Hongkong, ein 20stündiger Flug. Dort angekommen, lassen wir uns ins Hotel fahren. Wir haben im 43.Stockwerk drei Zimmer mit Zwischentüren gebucht und beziehen sie kurz nach unserer Ankunft. Noah ist ganz außer sich vor Aufregung und klebt mit der Nase an den wandhohen Fensterscheiben aus Sicherheitsglas.
Um das lange Sitzen auszugleichen, rege ich den Besuch eines Parks an. Dort macht Noah große Augen. Neben der alten chinesischen Architektur und den fremden Pflanzen faszinieren ihn die vielen fremden Menschen, die auf dem Rasen Tai Chi praktizieren, eine chinesische Atemtechnik.
Nach einer Stunde Aufenthalt gehen wir wieder ins Hotel zurück. Unterwegs fragt Herr Mann Yong Tai:
„Yong Tai, kennst du eigentlich solch eine Landschaft, wie die die wir eben gesehen haben.“
„In meiner Heimatstadt gibt es einen ‚Ostasiatischen Garten‘“, erklärt sie ihm, „aber der ist nichts gegenüber diesen hier. Der Eindruck ist auch für mich überwältigend gewesen.“
Wir übernachten im Hotel und frühstücken am Morgen in einem großen Hotel-Restaurant, in dem nur europäische Geschäftsleute anwesend zu sein scheinen. Dementsprechend ist das Frühstück eher französisch als asiatisch.
Am Vormittag nehmen wir die U-Bahn, um in den Stadtteil an der Peripherie zu kommen, in dem Yong Tais Großeltern wohnen. Hier sind die Häuser höchstens dreistöckig. Unsere junge Gästeführerin orientiert sich an den Straßennamen und hat einen Stadtplan im Handy.
Von der U-Bahn-Haltestelle dauert es noch eine halbe Stunde zu Fuß bis wir vor einem Tor stehen. Sie drückt dagegen und es öffnet sich quietschend. Links von uns sitzt ein Mann hinter einem Fenster.
Yong Tai geht darauf zu und klopft an die Tür daneben. Der Mann erhebt sich und steht kurz darauf in der Tür. Sie begrüßen sich nach Landesart mit Ver-beugen und reden eine Weile auf Chinesisch miteinander. Danach schließt sich die Tür und Yong Tai kommt zu uns zurück.
„Meine ehrenwerten Großeltern bewohnen das Appartement 305. Das hat mir eben der Hausmeister berichtet.“
Sie führt uns nun quer über den Hof bis zu einem Eingang, der von der Figur des chinesischen Glücksdrachens eingerahmt ist. Hinter dem Eingang zeigt sie uns einen Aufzug mit schmiedeeiserner Schiebetür. Dennis öffnet die Tür und wir betreten einen altertümlichen, ruckelnden Aufzug. Im Dritten Stock verlassen wir ihn und stehen in einem Gang, an dessen einer Seite Fenster zu dem Innenhof hinausgehen, durch den wir hereingekommen sind. Auf der anderen Seite des Ganges reihen sich nummerierte Türen aneinander. Wir suchen die 305 und Yong Tai betätigt die Klingel.
Es dauert eine Weile, bis eine alte Frau uns die Tür öffnet. Sie überblickt kurz die Gruppe, die im Gang vor ihr steht und wendet sich dann an Yong Tai, die sich verbeugt und die alte Frau anspricht. Sie holt ihr Handy aus der Tasche und spielt ihr die Videobotschaft ihres Vaters vor.
Unter vielen Verbeugungen dürfen wir nun eintreten. Die alte Frau hat Tränen in den Augen und ruft nach ihrem Mann, der sich bald darauf zu uns gesellt. Wir werden an den Tisch gebeten und kurz darauf stehen Tee und je eine Schale mit Hähnchenteilen und Bambussprossen in Brühe vor uns – natürlich mit Essstäbchen.
Da nur Yong Tai und ich damit zurechtkommen, holt die alte Dame noch Löffel aus Porzellan für Noah und seinen Vater herbei. Währenddessen muss Yong Tai viel erzählen und immer wieder streicht ihre Großmutter ihr über die Wange und wischt ihre Tränen an ihrer Kleidung ab.
In der ganzen Zeit sind wir quasi Statisten, da wir die Sprache nicht beherrschen und uns nur über das Mienenspiel mitteilen können.
Nach einer ganzen Weile spricht uns der alte Herr auf Englisch an und will von uns wissen, wie man denn so lebt in Deutschland. So berichten auch wir ihm aus Deutschland, wobei ich Herrn Mann die Gesprächsführung überlasse.
Am frühen Nachmittag meldet sich Yong Tais Handy. Wir schauen uns teils erschrocken, teils erstaunt an. Yong Tai nimmt das Gespräch an und ruft erstaunt aus: „Papa!“
Dann gibt sie das Handy an ihren Großvater weiter. Vater und Sohn reden nun eine Weile über Videotelefonie auf Chinesisch miteinander. Schließlich steht der alte Herr auf, öffnet eine Schublade und entnimmt ihr einige Dokumente, die er in eine Tasche steckt.
Da wir unwissend am Tisch sitzen, erklärt Yong Tai:
„Mein ehrenwerter Vater ist vor vier Wochen nach Honolulu geflogen, nachdem feststand, wann wir fliegen würden. Er ist auf Hawaii mit einem ehrenwerten Herrn bekannt, der mit Immobilien viel Geld gemacht hat. Der ehrenwerte Herr hat sich angeboten, meinem ehrenwerten Vater zu helfen. Nun ist er mit dem ehrenwerten Herrn und dessen Männern draußen vor der Küste und schickt nach Sonnenuntergang ein Boot an den Strand. Wir sollen mit der U-Bahn zu dem Strandbad fahren und in nördlicher Richtung am Wasser entlangwandern. Mein ehrenwerter Vater kann mein Handy orten und weiß so, wo wir sind.“
„Ahso,“ meint Noahs Vater. „Dann könnten wir uns ja auch hier trennen. Wir fliegen planmäßig zurück und du fährst mit deinen Großeltern über den Pazifik.“
Yong Tai macht ein tief enttäuschtes Gesicht. Ich schalte mich ein:
„Theoretisch könnten wir das so machen, Herr Mann. Aber es wäre ein Affront gegenüber diesen Leuten hier. Höflicherweise sollten wir die Einladung annehmen und die Gastfreundschaft der Leute genießen.“
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Di Jun 23, 2020 9:43 am

„Mein ehrenwerter Vater würde sich freuen, Sie alle kennenzulernen und Sie dem ehrenwerten amerikanischen Herrn vorzustellen!“ betont Yong Tai, durch mich ermutigt.
Also ist es abgemacht. Wir fahren mit kleinem Gepäck, auch wir haben unsere Reisedokumente dabei, zu dem Strandbad und halten uns links. Bald verlassen wir die Absperrungen und wandern über einen naturbelassenen Strand.
Nachdem es dunkel geworden ist, hören wir als Erstes Motorengeräusche, so laut wie ein Hubschrauber. Wieder rutscht uns das Herz in die Hose. Ich bin entschlossen, unsere Haut gegenüber den Chinesen so teuer wie möglich zu verkaufen. Dann leuchtet ein Scheinwerfer von See kommend den Strand aus und hat uns schnell erfasst.
Kurz darauf stoppt ein Luftkissenboot auf dem Strand. Inklusive der zwei Mann Besatzung sind wir acht Personen. Mehr Leute passen auch nicht auf das Boot. Nachdem wir hineingeklettert sind, kann ich Yong Tais Vater erkennen. Er aber wehrt alle Wiedersehensfreude ab und verweist auf „Später, bitte!“
Der andere Mann im Boot hat das Fahrzeug gedreht und strebt auf die See zurück, auf ein unbekanntes Ziel zu. Bald taucht das Fahrzeug tiefer ins Wasser ein. Die Schürze wird eingezogen, die für das Luftkissen unter dem Boot gesorgt hat. Zwei Rotore am Heck bringen uns durch die Brandung und mit 30 Knoten Geschwindigkeit hinaus auf den Pazifik.
Außerhalb der von Hongkong beanspruchten Zone, in internationalen Gewässern, wartet eine große Yacht. Wir klettern eine Treppe hinauf, die hinter uns hochgezogen wird. Auch das Fahrzeug wird an Bord genommen. Uns zeigt man nun unsere Kabinen, während die Yacht Kurs Hawaii nimmt. Zwei Wochen wird die Seereise dauern.

*

Mein Name ist Noah. Ich habe eine unbeschwerte Zeit mit Yong Tai auf dem Schiff. Wir haben uns angefreundet und hecken manchen Spaß gemeinsam aus. Anfangs habe ich zufällig ein paar Sätze mitbekommen, die Papa mit Yong Tais Papa gewechselt hat, als ich aus unserer Kabine in den Salon zum Essen gekommen bin. Papa hat gefragt:
„Warum sind wir nicht einfach zum Flieger und ganz normal mit Ihren Eltern über Dubai nach Deutschland geflogen?“
„Wir fliegen über Honolulu und San Francisco,“ beruhigt Herr Li meinen Vater. „Ich wollte sichergehen, dass Sie nicht alle am Flughafen verhaftet worden wären…“
„Oh, so schlimm?“ staunt Papa.
„Sie kennen die chinesischen Behörden nicht und die Lager…“ antwortet Herr Li.
Papa nickt stumm.
Später, als wir wieder in der Kabine sind, kommt Dennis zu uns herein. Ich will gerade Yong Tai besuchen.
„Hey,“ sagt er lachend zu mir. „Versenkt das Schiff nicht!“
Fröhlich lachend verabschiede ich mich und laufe zu Herrn Li. Ich begrüße ihn, wie Dennis es mir beigebracht hat und frage ihn höflich, ob ich wieder mit Yong Tai spielen darf. Herr Li antwortet:
„Sie braucht etwas Ruhe! Du nicht? Komm in einer Stunde wieder, Noah.“
„Okay!“ sage ich und gehe zur Kabine zurück, die ich mit Papa teile. Dort sagt Dennis gerade:
„… Seien Sie mir nicht böse, dass ich bei dieser Reise mehreres gebündelt habe. Nun wird es doch kein Kurzurlaub in Hongkong, dafür ein Urlaub auf Hawaii.“
„Sie hätten mir aber sagen müssen, dass diese Reise kein unbeschwerter Trip werden würde!“ meint Papa.
Dennis zuckt die Schultern und fragt zurück:
„Wären Sie dann bereit gewesen, mich als mein Onkel zu begleiten? Mit einer stärkeren Tarnung als ohne Sie in den Rachen des chinesischen Drachens? Und mit einer besseren Chance auf ein gutes Ende der Geschichte für meine Schülerin und deren Großeltern…“
Papa schüttelt den Kopf und ich mache Fauchgeräusche und tue so, als würde der Drachen, den Papa mir in der Hotellobby gekauft hat, um die beiden Männer fliegen.
„Ich verspreche Ihnen, dass dies die erste und letzte Reise dieser Art für Sie sein wird! Ich werde Sie kein zweites Mal fragen!“
„Ich nehme Sie beim Wort!“ sagt Papa und wendet sich dann mir zu.
Kurz darauf verabschiedet sich Dennis. Er wäre in seiner Kabine zu finden, sagt er im Hinausgehen. Ich lege mich in meine Koje und lese in einem Abenteuerbuch, das ich an Bord in der Bibliothek gefunden habe.

*

Wenn ich, Yong Tai, nicht mit Noah das Schiff erkunde und der Mannschaft „Löcher in den Bauch“ frage, bin ich meist bei den ehrenwerten Großeltern. Mein ehrenwerter Vater hält sich zumeist bei seinem amerikanischen Freund in der Eignerkabine auf.
Oft praktizieren meine ehrenwerten Großeltern TaiChi. Ich schaue zu und ahme sie nach, bis Noah hereinkommt und fragt, ob ich mit ihm spielen möchte. Einmal habe ich lächelnd zu ihm gesagt:
„Du bist ein fröhlicher, witziger Junge!“
Dabei habe ich ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange gegeben. Ich mag ihn sehr, auch wenn ich fünf Jahre älter bin. Er hat immer solch spontane Einfälle, die mich zum Lachen bringen. Aber man muss ihn auch manchmal bremsen, damit er der Besatzung nicht auf die Nerven geht. Dann lade ich ihn zu einem Brettspiel im Salon ein.
Die Zeit auf dem Meer vergeht auf diese Weise wie im Flug. Oft können wir Wale beobachten. Oder ist es etwa so, dass sie uns beobachten? So vieles lässt mich kindlich staunen. Dann laufen wir in Honolulu ein.
Der ehrenwerte Herr, der uns so sehr geholfen hat, lädt uns in seine Villa ein und organisiert Besichtigungsfahrten. Wir verbringen eine wundervolle Zeit. Nachdem wir etwa zwei Wochen auf Hawaii sind, werde ich zu meinem ehrenwerten Vater gerufen. Der ehrenwerte Herr und Lama Rinpoche sind auch anwesend. Mein ehrenwerter Vater eröffnet mir, dass der ehrenwerte Herr mir eine Ausbildung zur Immobilienkauffrau anbietet. Ich mache große Augen. Bin ich denn für diesen Beruf wirklich geeignet?
In die Stille meldet sich der ehrenwerte Lama zu Wort:
„Li Yong Tai, habe keine Angst vor der Zukunft und der damit verbundenen vorübergehenden Trennung von deiner ehrenwerten Familie! Du kannst alles schaffen, was du ernsthaft angehst. Bewahre dir deine Neugier und Interesse. Bewahre dir dein Mitgefühl, aber beharre auch auf Standpunkten, die du für richtig hältst. Ich wünsche dir alles Glück der Welt!“
Nach einer kurzen Gedankenpause beuge ich meinen Kopf vor dem ehrenwerten Lama Rinpoche und wende mich meinem ehrenwerten Vater zu:
„Ja, ehrenwerter Vater, ich bin bereit! Ich werde dich nicht enttäuschen!“

*
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Mi Jun 24, 2020 9:19 am

Seit dem Hongkong-Abenteuer sind sieben Jahre vergangen. Viel ist in der Zeit geschehen. Herr Lis Freund hat auf der Seereise zurück nach Hawaii neben den beruflichen Gesprächen über Satellit viel mit Herr Li und mir, Dennis, über die Situation der Buddhisten in Deutschland gesprochen.
Das Ergebnis dieser Gespräche hätte ich mir nie zu träumen gewagt: Einer seiner Mitarbeiter hat Monate später unser Kloster an der sächsisch-bayrischen Grenze besucht. Er hat einen Katalog mit Luftbildern mitgebracht. Darauf kann man Gebirgstäler im deutschen Mittelgebirge erkennen.
Ich soll nun die Bilder mit dem Bild der Umgebung meines früheren nepalesi-schen Klosters vergleichen, wie ich es in Erinnerung habe. Das ausgesuchte Gebirgstal will die Immobilienfirma des Freundes von Herrn Li erwerben und ein buddhistisches Kloster hineinbauen.
Nach einigem hin- und herblättern zeige ich auf ein weites Tal, in dem sich eine Bundesstraße an einer Steilwand entlang schlängelt. Ich frage den Mann:
„Wie weit außerhalb der nächstgelegenen Ortschaft liegt das Tal?“
Der Mann schaut mich verständnislos an und antwortet:
„Dieses Tal ist etwas abgelegen. In beiden Richtungen der Bundesstraße kommen kleine Dörfer in dreißig bis fünfzig Kilometer Entfernung. Die nächste größere Stadt liegt 200 Kilometer entfernt.“
Ich lächele ihn an und sage:
„Dann ließe sich dort eine Raststätte mit großem Parkplatz an der Bundesstraße bauen. Dahinter, in den Hang hinein käme dann das Kloster mit Ställen und anderen Wirtschaftsgebäuden. Hinter dem Eingangsgebäude befände sich ein Innenhof mit Säulengängen am Rand und ein hinterer Gebäudeteil mit einem Stupa…“
„Ah…“ lächelt der Mann, „Sie bevorzugen die ganz große Lösung!“
Ich lächele zurück und meine:
„Wir wollen weitgehend autonom leben, unsere Nahrungsmittel und Energie selbst erzeugen. Die Straße ermöglicht den Gläubigen, das Kloster einfach mit dem Auto zu erreichen. Der Rastplatz mit Gästezimmern im Komfort von Jugendherbergen ermöglicht es ihnen, erst am nächsten Tag die möglicher-weise weite Heimreise anzutreten. Das Restaurant des Rastplatzes kümmert sich um ihr leibliches Wohl.
Natürlich darf der Rastplatz jedem Vorbeifahrenden offenstehen, der Hunger verspürt oder eine Pause braucht!“
Der Mann nickt. Nach einer Gedankenpause meint er:
„Beim Kloster selbst bevorzugen Sie also ebenso die große Lösung?“
„Jaein,“ meine ich. „Schaf-, Ziegen- und Hühnerställe, sowie Weiden und Felder - Metzgerei und Mühle sollten im Untergeschoß vorhanden sein, um autark sein zu können. Eine Näherei… Darüber eine Klosterschule mit Schulhof. Räume für die Gläubigen und die Mönche… Nicht ganz so groß wie in Nepal, da hier nicht so viele Schüler, Mönche und Nonnen leben werden.“
Wieder nickt der Mann. Er macht sich Notizen. Anschließend verabschiedet er sich und sagt, dass er darüber mit seinem Chef reden will.
In der Folgezeit ist an der Stelle ein neues Kloster entstanden. Den alten Standort unseres Klosters haben wir an einen sozialen Verein übergeben, der die Fahrradwerkstat mit übernehmen will. Außerdem soll dort eine Nahrungsmittel-Ausgabestelle eingerichtet werden und Schlafplätze für Obdachlose.
Die Näherei meiner Mutter ist komplett an den neuen Standort umgezogen. Für die Landwirtschaft und die Herberge haben wir Lamas aus Nepal zugewiesen bekommen.
Inzwischen haben wir der Immobilienfirma schon ein Drittel der Kosten in Raten zurückzahlen können. Bankzinsen fallen nicht an, da die Firma sie uns spendet.
Und noch etwas ist geschehen: Nach der Rückkehr in Deutschland und mit Beginn des neuen Schuljahres bricht der Kontakt zu Noah ab. In Gedanken wünsche ich ihm alles Gute für sein Leben. Sein Vater hat es mir wohl übelgenommen, ihn und Noah in das Hongkong-Abenteuer hineingezogen zu haben.
Wir haben seit je her losen Kontakt mit dem Kloster Ryumon Ji in Weiterswiller, fünfzig Kilometer nördlich von Straßburg. Dort lehrt Seine Heiligkeit Trülku Khön Dungsay das Oberhaupt der Sakya-Schule. Er hat zwei Söhne Lama Khön Trizin und Lama Khön Gyana. Die Sakya Schule, eine der vier Schulen des tibetischen Buddhismus, lehrt nicht die sexuelle Enthaltsamkeit für Mönche, da ja auch die Familie Khön seit 900 Jahren den Trülku stellt, der dieser Schule vorsteht.
Wir haben vereinbart, dass wir untereinander Lehrer austauschen und im ständigen religiösen Dialog bleiben.

*

Jetzt, nach sieben Jahren ohne Kontakt zu Noah, und nach dem Umzug unseres Klosters in einen zentraleren Bereich Deutschlands, der von den Medien begleitet worden ist, erhalte ich einen Brief. Noah, inzwischen 19 Jahre alt, fragt an, ob er eine Zeitlang das Klosterleben kennenlernen darf. Er hat die Schule beendet und auf einem Berufskolleg das Abitur gemacht. Nun wäre es an der Zeit, sich um eine Ausbildung zu kümmern. Er aber hat sich beim Bundesfreiwilligendienst gemeldet und will die Zeit in unserem Kloster verbringen, um sich in dieser Zeit über Verschiedenes klarzuwerden, wie er schreibt.
Er ist inzwischen alt genug, selbständig über sein Leben zu entscheiden. Also schreibe ich ihm nach Rücksprache mit Seiner Heiligkeit unserem Khenchen Lama zurück, dass er willkommen ist. Er soll nur schreiben, wann sein Zug in der nächsten Großstadt hält. Wenige Wochen danach fahre ich mit einem Überlandbus zum Zielbahnhof und warte auf den jungen Mann.
Nach einer schüchternen Begrüßung seinerseits fahren wir mit dem Überlandbus in das 30 Kilometer entfernte Dorf. Unterwegs lasse ich mir von ihm über sein Leben in den vergangenen Jahren berichten. Sein Schulfreund Markus hat jetzt eine Ausbildung im Bankfach begonnen. Eigentlich haben Markus und Noahs Vater ihm zugeredet, sich ebenfalls dort zu bewerben. Aber Noah meint, die Entscheidung noch ein paar Jahre aufschieben zu können.
„Etwas in meinem Herzen zieht mich zu euch ins Kloster. Darüber muss ich mir erst einmal klar werden,“ meint er.
Wir nehmen ein Taxi für die restlichen Kilometer bis zum Rastplatz an der Bundesstraße. Während dieser Fahrt erkläre ich ihm den Fahrplan für seine Zeit in unserem Kloster:
„Du wirst als Klosterschüler in der buddhistischen Philosophie ausgebildet. Kungfu steht ebenfalls auf dem Lehrplan. Ebenso wirst du dich in Meditation üben. Einmal im Jahr werden alle Klosterschüler geprüft. Irgendwann steht jeder Klosterschüler vor der Entscheidung, sich in der Wirtschaft draußen zu bewerben oder dem Kloster zu dienen und Mönch zu werden.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Do Jun 25, 2020 9:45 am

Würdest du als Mönch im Kloster bleiben, entscheiden deine Handlungen und Meditationsfertigkeiten, wann du ein Lama wirst.“
„Das ging bei dir aber ziemlich schnell, Dennis,“ hält er mir vor. „Du warst in meinem jetzigen Alter schon ein Lama!“
Ich lächele ihn an und sage:
„Ich gelte als Reinkarnation eines geachteten Lamas und stand deshalb unter ständiger besonderer Beobachtung. Das war wirklich nicht leicht. Nach zehn Jahren Klosterschule bin ich daher nicht erst Gelong geworden, sondern wurde sofort zum Lama geweiht, weil meine Prüfer sich sicher waren…“

*

Drei Jahre ist Noah nun schon im Kloster. Nach Ende des Bundesfreiwilligen-dienstes ist er geblieben. Außerhalb der Schulzeit wurde er mein persönlicher Schüler. Er macht unter meiner direkten Aufsicht seine Hausaufgaben und vervollkommnet seine Fertigkeiten in Kungfu und Meditation. Mit meiner Hilfe hat er in den Jahren so viel angenommen, wie ich in all den Jahren in Nepal. Daneben führen wir viele Gespräche über den Buddhismus im Allgemeinen und die buddhistischen Mönche im Besonderen. Auch die verschiedenen Schulen des tibetischen Buddhismus kommen dabei zur Sprache, und deren Unterschiede. Irgendwie kommen wir bei den Gesprächen auch auf unser Hongkong-Abenteuer zu sprechen. Das sei etwas gewesen, das ihm gefallen hätte, meint er. Sein alltägliches Leben seither, sei eher langweilig verlaufen.
Ich ziehe die Augenbraue hoch und erkläre:
„Abenteuer, ha! Große Erlebnisse, Nervenkitzel… Nach solchen Dingen sehnt sich ein Gelong -Mönch- nicht! Du bist leichtfertig! … Du musst ruhiger werden!“
„Aber Tsopo -Meister-,“ bittet er nun. „Ich habe schon viel gelernt! Ich werde dich nicht enttäuschen! Ich möchte irgendwann Gelong werden…“
„Hüte dich vor Zorn, Furcht und Aggressivität! Sie ergreifen schnell von dir Besitz! Du musst diese Gefühle bekämpfen!“
„Sind diese Gefühle so stark?“ fragt er, leicht verunsichert.
„Nein, aber sie sind schneller an der Oberfläche deiner Gedanken. Sie sind verführerischer. Nur wenn man Ruhe bewahrt, erkennt man die Unterschiede zwischen Yin und Yang. Nur wenn man den inneren Frieden bewahrt, kann man ihn auch nach außen tragen!“
Ich lasse Noah eine Gedankenpause, um das Gehörte zu verarbeiten.
„Ein Gelong nutzt sein Wissen immer zur Verteidigung,“ rede ich weiter, „niemals zum Angriff!
So, damit sollte es für heute gut sein. Geh auf dein Zimmer und meditiere! Befreie deinen Geist von allen Fragen, werde ruhig. Zweifelst du an dir, dann wirst du versagen. Lerne, dich zu beherrschen!“

*

Nach einem Essen im Thronsaal soll ich zurückbleiben, während die anderen Lamas den Raum verlassen, um ihre verschiedenen Tätigkeiten aufzunehmen. Als ich mit Seiner Heiligkeit alleine bin, schlägt er den Gong. Ein Gelong führt einen älteren Zivilisten herein. Erfreut erkenne ich Herrn Li. Vor Seiner Heiligkeit kniet der Mann nieder und verbeugt sich tief.
Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, ergreift das Wort:
„Erhebe dich, mein Sohn!“
Herr Li erhebt sich. Nun, auf Augenhöhe mit dem sitzenden Khenchen Lama, sagt Herr Li:
„Ich freue mich, dass Eure Heiligkeit mir diese Audienz gewährt. Ich habe ein besonderes Anliegen: Meine liebe Tochter, die einmal hier Klosterschülerin war, ist inzwischen zur Leiterin der Abteilung Europa des amerikanischen Immobilienkonzerns aufgestiegen, der dieses Kloster erbauen durfte. Sie hat in der letzten Zeit mehrere Drohbriefe erhalten und fühlt sich im Augenblick nicht sicher. Der Konzern hat ihr einen gepanzerten Wagen gestellt und Personen-schützer. Sie besteht aber darauf, einen ehrenwerten Lama in ihrer Nähe zu wissen, um ruhig schlafen zu können…“
Seine Heiligkeit und ich tauschen Blicke. Dann fragt er den Mann:
„Ihr Name ist Li? Es geht um die ehemalige Schülerin Li Yong Tai?“
„Ja, Eure Heiligkeit.“
„Das ganze Geld der Welt kann dem Menschen keine Sicherheit geben. Personenschützer tragen Waffen. Das führt dazu, dass auch die Gegenseite Waffen in Erwägung zieht. Eine Spirale ohne Ende entsteht…
Ich werde Lama Rinpoche mit der heiklen Aufgabe betrauen. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass er den Anforderungen gewachsen ist. Deine verehrte Tochter wird sich seinen Anordnungen zum Thema Sicherheit beugen! Auch ihre Mitarbeiter müssen sich daran halten!“
„Das wird sie!“ versichert Herr Li. „Und sie wird auch ihre Mitarbeiter dahingehend anweisen!“
„Lama Rinpoche wird sich in Kürze bei der verehrten Li Yong Tai melden!“
„Ich danke Eurer Heiligkeit für Sein Wohlwollen!“ antwortet Herr Li und bewegt sich langsam rückwärts zu Tür des Thronsaales.
Als ich mit Seiner Heiligkeit alleine bin, wendet er sich an mich:
„Bruder Rinpoche, du wirst einen schusssicheren Anzug tragen müssen!“
Ich nicke und hebe die gefalteten Hände zum Kinn. Dabei spreche ich eine erste Vermutung aus:
„Entweder ist die Schwester der Mafia im Weg oder der große Feind im Norden (-von Tibet-) hat die Aktion in Hongkong nicht vergessen…“
„Du wirst es herausfinden, Bruder Rinpoche!“
„Ja, Eure Heiligkeit,“ antworte ich und bin entlassen.
Ich gehe vom Khenchen Lama zu Noah. Er sitzt meditierend in seinem Zimmer, wie so oft schon in letzter Zeit. Eine wärmende Flamme der Freude steigt dann jedesmal in mir auf, wenn ich ihn so vorfinde. Noah befindet sich auf dem rechten Weg!

*

Zu Beginn einer Meditation schließt man die Augen und schaltet so erst einmal alle visuellen Ablenkungen aus. Nun kann man seinen Geist beobachten und den inneren Dialog seiner Gedanken verfolgen, sobald man seine Aufmerksamkeit entspannen und sich nicht auf eine Aufgabe oder ein Thema konzentriert.
Jeder kennt in sich die eine Stimme sagen:
„Wenn ich mir das jetzt nicht kaufe, dann verpasse ich die Gelegenheit und ärgere mich nachher.“
Die andere Stimme hält dagegen:
„Wenn ich mir das jetzt kaufe bin ich am Ende des Geldes für den langen Rest des Monats.“
Nun setzt man sich erst einmal hin, beruhigt den Geist. Egal wo man sitzt, Hauptsache ruhig sollte es für die nächsten zehn Minuten sein. Man lässt seinen Gedanken einfach freien Lauf und beobachtet sie. Man denkt mal an dieses Thema, mal an jenes Thema. Das, was nun die Gedanken beobachtet, mischt sich in alle Gedanken und Impulse ein, erwägt diesen oder jenen, verwirft, kategorisiert und so weiter. Man könnte das als „kritisches Bewusstsein“ bezeichnen. Verschiedene Wünsche, Hoffnungen, Pläne etc. tauchen auf und der innere Kritiker bewertet sie.
Dieser Kritiker in uns macht uns zunehmend das Leben schwer, denn er lässt nichts aus. Irgendwann findet er nichts mehr zum Kritisieren. Der Zustand der Neutralität ist erreicht. Der Kritiker hat Pause und es bleibt nur die nicht wertende Aufmerksamkeit übrig.
Man will in der Meditation also vorerst seinen denkenden, analysierenden und ständig kommentierenden Geist beruhigen. Und die erste Stufe beginnt damit, dass man sich hinsetzt und alles beobachtet, was da im Geist so abgeht. Natürlich werden die Alltagskonflikte und die Probleme hochgespült.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Fr Jun 26, 2020 8:55 am

Dann folgt die Stufe, in der man die Wurzeln jener Probleme angeht, die dafür sorgen, dass der Quell der unerfreulichen und schließlich der angenehmen Gedanken einfach nicht abreißt. Selbst wenn man richtig verliebt ist und nur den Anderen im Kopf hat, ist der Geist nicht im Hier und Jetzt sondern mit einem inneren Film beschäftigt. Ein derartiger Geist ist abgelenkt, undiszipliniert. Es ist nicht so, dass man denken oder auch nicht denken kann was und wie man will.
Mit dem Willen kommt man an den Bewusstseinszustand des Zeugen nicht heran, man muss ihn sich erarbeiten, indem man die Konfliktpunkte und die Quelle der Störgedanken und der Störgefühle in angemessenem Tempo löst.
Es folgt nun die Phase der Bearbeitung der persönlichen Probleme und damit schließlich eine Beruhigung der äußeren Störfaktoren. Das dauert gewöhnlich seine Zeit, Monate, meistens einige Jahre. Und dann, wenn man tatsächlich in die Stille des Geistes fällt, wenn einen das Aufblitzen der Leere und die gleichzeitige Freude des ersten vollkommen gedankenfreien Augenblicks überrascht, erinnert man sich vielleicht im Nachhinein wie man als Kind den Kopf in den Nacken legte und einen vereisten Winterapfel am Baume in der untergehenden Sonne glitzern sah. Ohne Worte.
Da ist es, das namenlose Staunen. Reine Beobachtung. Keine Wertung. Das Bewusstsein denkt nicht während es etwas wahrnimmt. Natürlich nimmt es den Apfel wahr und so weiter, doch der Denkapparat ist offline. Natürlich ist aus einer noch einmal höheren Perspektive betrachtet der Geist „noch“ mit der „Erfindung“ eines Apfels und der eines Wahrnehmenden beschäftigt, doch die Analyse dieses Zustandes geht in den Bereich des metasphärischen Bewusstseins in dem sich alle Wahrnehmungen bereits als „Traumgebilde“ entpuppen.
Das Zeugenbewusstsein kann auch diese „phantastischen“ Zustände wahrnehmen, doch das „alltägliche“ Zeugenbewusstsein findet noch „bodenständig“ und in diesem Dasein statt, ganz im Hier und Jetzt. Das heißt auf dem Wochenmarkt, im Kino, während des Liebesaktes oder in einem Gespräch das mit vollkommener Aufmerksamkeit geführt wird.

*

Hier etwa wird sich Noah bei seinen Meditationsübungen befinden. Bis hierher wird er inzwischen vorgedrungen sein.
Mich geräuschlos neben ihn niederlassend, warte ich ab. Eine ganze Weile später öffnet Noah die Augen und wendet sich mir zu. Ich hebe die gefalteten Hände und sage:
„Seine Heiligkeit schickt mich nach Hamburg, um einer bedrängten Schwester zur Seite zu stehen.“
„Hat Lama Rinpoche einen Auftrag für mich, für die Zeit seiner Abwesenheit?“ fragt Noah in ruhigem Ton.
„Deine Meditationsübungen haben dich die Angst, den Zorn und die Aggressivität beherrschen gelernt?“ frage ich zurück.
Noah macht große Augen. Ich erkläre es ihm:
„Seine Heiligkeit hat mir empfohlen, bei meinem Auftrag einen schusssicheren Anzug zu tragen. Das Kleidungsstück ist schwer, aber es schützt vor feigen Heckenschützen, die aus dem Verborgenen agieren.
Um den Anzug zu beherrschen, muss man zuerst einmal Krafttraining im Anzug machen. Auch Reaktionstraining… Man darf den Anzug nicht mehr als Bürde empfinden, quasi vergessen, dass man ihn trägt. Das dauert ein paar Tage intensiven Trainings! Man muss lernen, auch im Anzug selbstsicher und beherrscht zu sein!“
„Ich darf dich begleiten!“ schließt er erfreut aus meinen Ausführungen.
„Langsam!“ bremse ich ihn. „Zuerst wirst du mit mir im Anzug trainieren. Dies sind weitere Übungen auf deinem Lebensweg. Welche Richtung dein Lebensweg nimmt, weiß man immer erst an den Scheidepunkten!“
Ich erhebe mich und zusammen gehen wir in die Kleiderkammer. Dort ziehen wir eine weite Hose in grauem Außenstoff an. Es folgen Schnürstiefel und eine lange Jacke. Darunter trage ich mein safrangelbes Tshirt und Noah sein dunkelrotes. So angezogen gehen wir in einen kleinen Trainingsraum und beginnen mit dem Krafttraining. In einer Trainingspause fragt Noah:
„Eine bedrängte Schwester in Hamburg… Was ist da los, Tsopo -Meister-?“
„Wir sollen sie beschützen. Sie hat zwar schon Personenschützer von ihrer Firma gestellt bekommen. Aber sie fühlt sich in Gegenwart eines buddhistischen Mönches aus unserem Kloster sicherer. Sie kennt unseren Ehrenkodex und unsere Fertigkeiten in Verteidigung.
Eine Anzeige bei der Polizei läuft auch schon, wegen Drohbriefen. Der Auftrag wäre mit der Verhaftung der Schuldigen beendet.“
„Das klingt unspektakulär!“ meint Noah.
„Das sollte es auch sein, mein junger Schüler!“ antworte ich. „Aber die Situation könnte eskalieren, und dann heißt es, unter allen Umständen Ruhe bewahren!“
„Dazu fühle ich mich in der Lage,“ meint er.
„Hm,“ mache ich, und schaue ihm in die Augen. „Würdest du mich begleiten, wirst du in Situationen kommen, in denen du Angst hast. Das ist menschlich! Du darfst dich von ihr aber niemals beherrschen lassen! Auch dann nicht, wenn es sich dabei um die Angst um nahestehende Personen handelt!
Wenn jemand zum Beispiel deine Mutter angreift und sie sinkt verletzt zu Boden: Niemals darfst du dich dem Zorn hingeben und blinder Aggressivität den Vorrang in deinen Gedanken einräumen. Damit würdest du dich schwächen und deiner Mutter einen Bärendienst erweisen, statt ihr zu helfen!“
Als ich seine Mutter in die Überlegungen hineinziehe, werden Noahs Augen groß. Sein Atem geht schneller. Also senke ich die Hand und fordere ihn auf:
„Ausatmen!“
Dann hebe ich die Hand und sage:
„Einatmen!“
Dies wiederhole ich mehrmals, bis er sich beruhigt hat. Anschließend meine ich:
„Siehst du! Die Angst um eine nahestehende geliebte Person lässt dich noch immer alles vergessen, was du bisher gelernt hast. Du bist noch nicht bereit!“

*

Wir erreichen Hamburg. Ich habe Noah mitgenommen, um seinen Charakter weiter zu bilden und damit seine Ausbildung weiterzuführen. Außerdem kennt er unsere Auftraggeberin aus seiner Kindheit.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Sa Jun 27, 2020 9:10 am

Vom Hamburger Hauptbahnhof werden wir mit einer schweren Limousine abgeholt und ins Bankenviertel gefahren. Dort hat unsere Auftraggeberin die oberen Etagen eines Bürohochhauses angemietet. Die oberste Etage dient ihr als Wohnung, mit einer Reihe Gästezimmer und Zimmer für Hausangestellte.
Aus der Tiefgarage fahren wir in Begleitung des Chauffeurs mit dem Aufzug in die neunte Etage. Unwillkürlich werfe ich einen Zipfel meines roten Mantels der Mönchskleidung über meine Schulter. Noah, der genauso gekleidet ist, schaut mich an. Ich lächele und er erwidert es.
Aus dem Aufzug betreten wir ein wohnlich eingerichtetes Foyer. Unsere Auftraggeberin empfängt uns in Begleitung eines Mannes in schwarzer Lederkleidung mit einer Schusswaffe im Schulterhalfter.
Ich verbeuge mich und begrüße sie, bevor sie ein Wort an uns richten kann:
„Verehrte Frau Li, es ist mir eine große Freude, Euch gesund wiederzusehen.“
Sie neigt höflich ihren Kopf und antwortet:
„Die Wiedersehensfreude ist ganz meinerseits! Ich hätte Euch gerne schon viel früher und unter anderen Umständen wiedergesehen, ehrenwerter Lama Rinpoche…“
Sich Noah zuwendend, ergänzt sie erstaunt:
„Noah, du? Meine Güte, bist du groß geworden!“
Mein Begleiter, bisher stumm die neuen Eindrücke verarbeitend, antwortet ihr:
„Du aber auch… Ich meine… Du bist noch schöner geworden!“
Sie lacht fröhlich auf und neigt ihren Kopf.
„Noah,“ erklärt sie ihm. „Du wirst für mich immer der kleine Junge von damals sein, mit seinen witzigen Einfällen.“
Ich schalte mich ein und verspreche ihr:
„Ich kann Euch versichern, dass Sie unsere Anwesenheit nicht behelligen wird, verehrte Frau Li!“
Li Yong Tai bietet uns Platz an. Wir setzen uns in die Sitzgruppe. Ihr Begleiter bleibt stehen und stellt sich vor:
„Ich bin der Personenschützer der Dame. Sie hat mich über Ihren Auftrag informiert. Die Situation ist gefährlicher als die Chefin bereit ist zuzugeben!“
„Ich brauche keine weiteren schießwütigen Cowboys,“ weist sie ihn zurecht. „Ich brauche Antworten! Ich will wissen, wer mich töten will und warum!“
„Wir sind hier, um Euch zu beschützen!“ werfe ich dazwischen. „Nicht um Nachforschungen anzustellen. Dafür ist hierzulande die Polizei zuständig!“
Noah mischt sich ein und verspricht:
„Wir werden herausfinden, wer dahintersteckt, Yong Tai!“
Ich wende mich Noah zu und weise ihn zurecht:
„Wir werden unseren Auftrag nicht ausweiten, mein junger Schüler!“
Noah rudert etwas zurück, als er antwortet:
„Natürlich dient das nur dazu, sie zu beschützen, verehrter Tsopo -Meister-!“
Yong Tai ist unserem verbalen Schlagabtausch mit gerunzelter Stirn gefolgt. Sie wirft vermittelnd ein:
„Vielleicht werden allein durch Eure Anwesenheit die Geheimnisse gelüftet – in der Art, dass der oder die Verbrecher sich aus der Deckung wagen…
Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet. Ich ziehe mich zurück.“
Wir erheben uns höflich und neigen den Kopf. Sie geht davon. Es ist ja auch schon später Abend. Als wir mit dem Personenschützer allein sind, sagt dieser:
„Mich beruhigt es, dass Sie hier sind!
Ich halte mich zumeist im provisorischen Kontrollzentrum auf. Nach Mitternacht löst mich mein Kollege ab. In den Treppenhäusern, unten im Eingang und im Aufzug sind Kameras installiert und die Chefin trägt einen Sender am Körper, für den Fall, dass sie entführt wird.
Ich zeige Ihnen eben noch Ihre Zimmer!“
Er führt uns zu der Zimmerflucht für Gäste und öffnet zwei in asiatischem Stil eingerichtete Zimmer. Ich bedanke mich und wünsche eine ‚Gute Nacht‘.
Am folgenden Morgen essen wir mit Li Yong Tai. Ihre Köchin hat das Frühstück zubereitet. Dann fährt sie eine Etage tiefer in ihre Geschäftsräume. Wir begleiten sie und schauen uns alle Räume an. Dabei wechseln wir immer ein paar Worte mit den Angestellten.
Bis zum späten Nachmittag gibt es keine besonderen Vorkommnisse. Dann betritt ein Mann im Anzug und Aktenkoffer die Geschäftsräume, der durchaus ein Banker sein könnte. Die Rezeptionskraft bittet ihn, sich zu setzen und kurz zu warten. Er gibt sich sehr nervös. Irgendwann, als er sich unbeobachtet fühlt, öffnet er seinen Aktenkoffer und lässt ein Gerät wie einen Saugroboter frei. Er schaltet ihn ein und lässt ihn laufen.
Kurz darauf meldet er sich bei der Rezeptionskraft und meint:
„Ich denke, ich komme morgen wieder. Ich habe noch weitere Termine.“
Sie lächelt ihn freundlich an und antwortet:
„In Ordnung, dann bis Morgen!“
Ich stoppe das Gerät, das der Mann zurückgelassen hat und drehe es um. Unten blinkt eine rote LED. Nun nehme ich es hoch und laufe damit zu dem Personenschützer.
„Das hat ein Besucher zurückgelassen!“ sage ich gehetzt und bin schon am Aufzug.
Noah ist zur Stelle. Ich sage schnell zu ihm:
„Bleibe du hier! Ich folge einem Verdächtigen!“
Mit einem Spezialschlüssel nutze ich den Expressaufzug, der mich sofort nach unten bringt. Dort sehe ich den Mann gerade das Gebäude verlassen. Draußen wird es allmählich dämmrig.
Ich beeile mich, hinter ihm her zu kommen. Er will gerade in einen Wagen einsteigen, der in der Nähe geparkt ist. Dabei erkennt er mich, schlägt die Wagentür wieder zu und überquert die Straße. Schräg gegenüber liegt eine Bar. Ich gebe eine Beschreibung des Fahrzeugs und des Kennzeichens mit meinem Handy an den Personenschützer weiter und betrete die Bar.
Kurz orientiere ich mich, dann gehe ich zum Tresen und bestelle ein Getränk. Während ich mein Glas hebe, spüre ich eine Waffe im Rücken. Ich wirbele herum und schlage sie dem Mann aus der Hand. Sofort weichen andere Gäste zurück. Der Mann taumelt rückwärts und ich setze sofort nach. Bald liegt er am Boden und ich fessele seine Hände auf den Rücken.
Jetzt ziehe ich den Mann auf die Beine und schaue mich suchend nach der Waffe um, aber sie ist verschwunden. Dem Barmädchen zunickend, verlasse ich mit dem Mann die Bar, um ihn unserem Sicherheitspersonal zu übergeben. Vor dem Eingang der Bar peitscht ein Schuss.
Ich spüre einen Schlag an der Schulter. Mein Gefangener sackt zusammen. Ihn auf beiden Armen über die Straße tragend, erreiche ich bald Li Yong Tais Geschäftshaus und fahre mit dem Expressaufzug hoch. Mit einiger Mühe betrete ich den Raum, der zum provisorischen Kontrollzentrum umfunktioniert worden ist. Der Mann hinter dem Laptop macht große Augen.
„Haben Sie…?“ beginnt er.
Ich schüttele den Kopf und erkläre ihm:
„Wie könnte ich, ohne Waffe? Ich wollte ihn zur Befragung zurückbringen. Draußen auf der Straße peitscht plötzlich ein Schuss, streift mich und trifft ihn. Zu viele Zeugen…Darum konnte ich ihn nicht liegenlassen. Nun werden wir der Polizei einiges erklären müssen…“
„Womit Sie Recht haben!“ meint der Mann.
Ich bin nun erst einmal in Hamburg gebunden. Also müssen wir uns aufteilen, überlege ich. Darauf spreche ich Noah an, der hinzugekommen ist:
„Noah, die Dame muss sofort aus der Schusslinie! Die Gegenseite ist nervös geworden. Begleite Du sie zu ihren Eltern nach Frankfurt. Nimm den gepanzerten Wagen!“
Der Personenschützer hat soeben die Polizei von dem Vorfall informiert und sagt:
„Mein Kollege wird den Wagen fahren!“
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1So Jun 28, 2020 9:12 am

Ich nicke. Noah zieht mich einen Schritt weg. Er hat etwas auf dem Herzen. Wir verlassen den Raum und gehen in Richtung Li Yong Tais Büro.
„Sie hat mich gestern bei der Ankunft fast nicht wiedererkannt, Tsopo -Meister. Ich habe in der Vergangenheit jeden Tag an sie gedacht, seit unserem Abschied auf Hawaii – und sie hat mich vollkommen vergessen!“
Ich schaue Noah an und entgegne ihm, während ich meine Hand auf seine Schulter lege:
„Du konzentrierst dich auf das Negative, Noah! Du musst als zukünftiger Gelong -Mönch- auf deine Gedanken achten! Sie WAR erfreut, dich zu sehen!“
„Es gefällt mir nicht, darauf zu warten, dass ihr etwas geschieht!“
„So darfst du es nicht sehen! Wir nehmen Sie aus der Schusslinie, indem sie den Ort wechselt. An den weiteren Aktionen des Gegners sehen wir dann, ob die Angriffe ihr persönlich gelten, oder ihr als Managerin der Immobilienfirma.
Was hat übrigens die Untersuchung des Roboters ergeben?“
„Er wurde unschädlich gemacht. Er hatte eine kleine Bombe eingebaut!“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Einer Eingebung folgend, frage ich:
„Japanisches oder chinesisches Fabrikat?“
„Herstellungsort Hongkong,“ antwortet Noah.
Wir haben Li Yong Tais Büro erreicht. Ich informiere die ehrenwerte Dame über meinen Entschluss. Der zweite Personenschützer ist inzwischen hinzugetreten und informiert Li Yong Tai über die Geschehnisse des heutigen Abends. Auch er ist der Meinung, dass sie Hamburg für ein paar Tage verlassen soll. Während Noah und der Personenschützer bei der Dame bleiben, gehe ich zum Kontrollzentrum zurück. Wir warten auf das Eintreffen der Polizeibeamten.
„Ich hoffe, mein Schüler wird nichts Unüberlegtes machen,“ sage ich, wie im Selbstgespräch.
Der Personenschützer schaut vom Monitor auf und meint:
„Ehrlich gesagt, würde ich mir mehr Sorgen um die Chefin machen.“
Ich schaue den Mann lächelnd an.

*

„Mir gefällt die Vorstellung nicht, mich zu verstecken!“ sagt Yong Tai, während sie in ihrer Wohnung einige Sachen in einen Koffer packt.
„Lama Rinpoche wird sicher bald die Hintermänner des Attentäters gefunden haben,“ versuche ich sie zu beruhigen.
„Ich habe nicht fünf Jahre dazu verwendet, das Europa-Geschäft zu forcieren, nur um mich mitten in der Arbeit weg zu ducken!“
Yong Tai ist immer noch erregt.
„Manchmal müssen wir loslassen und tun, was von uns verlangt wird,“ entgegne ich mit sanfter Stimme.
Sie hält in ihrem Tun inne und richtet sich mit einem zusammengelegten Kleid im Arm vor ihrem Koffer auf, um sich zu mir umzudrehen. Mich erstaunt anschauend, stellt sie fest:
„Noah! Du bist erwachsen geworden!“
„Lama Rinpoche gelingt es, das nicht zu bemerken!“ antworte ich ihr in bitterem Ton.
„Unsere Lehrer sehen immer zuerst unsere Fehler,“ meint sie beschwichtigend. „Daran wachsen wir.“
Nachdem sie das Kleid vorsichtig in den Koffer gelegt hat, richtet sie sich wieder auf und wendet sich mir zu.
„Noah!“
Ich schaue sie an.
„Versuche,“ bittet sie mich mit ernstem Gesicht, „nicht so schnell erwachsen zu werden!“
„Aber ich BIN erwachsen!“ halte ich ihr vor. „Das hast du selbst gesagt!“
Dabei blicke ich sie voller Zuneigung an. Sie schüttelt den Kopf und wendet den Blick ab.
„Bitte, Noah!“ sagt sie. „Sieh‘ mich nicht so an!“
„Warum nicht?“ frage ich.
„Es ist mir irgendwie unangenehm…“ meint sie.
Ich mache einen Rückzieher. Die gefalteten Hände hebend und den Kopf leicht neigend, sage ich:
„Entschuldigung, ehrenwerte Dame!“
Innerlich lächele ich. Ich bin ihr nicht gleichgültig. Sie fühlt etwas in meiner Nähe.
Endlich schließt sie die Koffer. Der Personenschützer und ich nehmen je einen Koffer auf. Anschließend gehen wir zu den Aufzügen und nehmen den Expressaufzug zur Tiefgarage des Bürohauses.
Im Aufzug sagt sie zu mir:
„Auf einmal habe ich Angst!“
Ich antworte ihr:
„Der erste Auftrag ohne Lama Rinpoche an meiner Seite! Mir geht es genauso. Aber keine Sorge. Es wird schon schiefgehen!“
Ich lächele sie an und sie lacht befreit auf.
In der Tiefgarage gehen wir zu der gepanzerten Limousine und packen die Sachen in den Kofferraum. Danach nehmen wir auf der Rückbank Platz. Der Personenschützer setzt sich ans Steuer und fährt den Wagen die Rampe hoch.
Dabei äußere ich Zweifel:
„Mir gefällt es nicht, dass wir vielleicht die Leute hinter uns her zu deinen Eltern lotsen, falls man uns beobachtet. Weißt du noch, wie sie deine ehrenwerten Großeltern benutzt haben, um an deine Eltern zu kommen?“
Yong Tai antwortet: „Falls es die gleichen Hintermänner sind… Was sollen wir deiner Meinung nach tun?“
„Fahren wir zu deiner Vertragswerkstatt. Der Verkauf und die Auftrags-Annahme dürften noch geöffnet sein. Dort stellen wir den Wagen ab und fahren mit einem andersfarbigen Wagen weiter, sobald ein schwarzer Wagen vom Hof fährt. Dann folgen sie erst dem Schwarzen und wir sind ihnen durch die Maschen geschlüpft!“
„Das ist brillant!“ pflichtet mir Yong Tai bei und weist den Fahrer an, die Werk-statt anzusteuern.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Mo Jun 29, 2020 8:35 am

Wir betreten das Gebäude der Autowerkstatt nach einer kurzen Fahrt und Yong Tai fragt nach dem Chef. Der Mann fährt unseren Wagen auf die Hebebühne und einen weißen Wagen mit verdunkelten Scheiben in die Halle. Wir packen um und warten eine Stunde, bis der Chef als Letzter Feierabend macht. Dann fahren wir gleichzeitig mit ihm vom Hof, grüßen kurz und weiter geht’s mit einem Mietwagen.
Gegen ein Uhr in der Nacht erreichen wir das Haus der Familie Li im Frankfurter Umland. Yong Tai hat ihre Mutter unterwegs über das Handy erreicht und unser Kommen angekündigt.
Während der Fahrt auf der Autobahn spricht mich Yong Tai unvermittelt an:
„Ein Leben als Mönch ist sicher nicht einfach… Nicht an die Orte reisen zu können, die irgendwann dein Interesse geweckt haben, oder einfach nur Dinge tun zu können, die du magst…“
Ich ergänze sie lächelnd:
„…oder mit denen zusammen sein zu können, die ich liebe…“
Yong Tai schüttelt verhalten den Kopf und hakt nach:
„Ist es dir überhaupt erlaubt zu lieben? Ich dachte immer, das ist Mönchen untersagt. Sie leben in Askese…“
Ihr lächelnd in die Augen blickend, antworte ich:
„Abhängigkeit ist verboten, persönlicher Besitz ist verboten… Aber Selbstlosigkeit, Eintreten für den Schwächeren, Mitgefühl, welches ich als bedingungslose Liebe definieren würde, ist das Wesentlichste im Leben der Mönche. Liebe zur Natur, zu den Geschöpfen des Himmels, der Erde und des Wassers – und natürlich zu einer nahestehenden Person, die ich kenne… Man kann also sagen, dass wir zur Liebe ermutigt werden.“
Yong Tai hört meinen Ausführungen zu und stellt nun fest:
„Du hast dich so sehr verändert, seit damals!“
Ich antworte ihr:
„Du hast dich überhaupt nicht verändert. Du bist genauso wie ich dich in meinen Träumen in all den Jahren gesehen habe!“
Sie schaut mich verwirrt und zurückhaltend an.
Nachdem wir bei ihren Eltern angekommen sind, beziehen wir drei Gästezimmer. Beim Frühstück, schon sechs Stunden später, spricht Herr Li die Sicherheit der Familie an. Er entscheidet, dass der Personenschützer den Wagen wieder nach Hamburg zurückbringen soll. Dann soll er mit der Bahn zurückkommen und sein Gästezimmer im Haus beziehen. In der gegenwärtigen Situation würde es ausreichen, wenn in Hamburg und in Frankfurt je ein Vertreter der Security anwesend ist.
Nachdem der Mann uns verlassen hat, schaut Herr Li uns beide lange an. Schließlich sagt er:
„Yong Tai, du musst dich eine Weile zurückziehen! Buche einen Flug nach Honolulu. Ich werde meinen Freund dort informieren. Deine Angestellten werden die Geschäfte auch ohne dich fortführen können? Im Zweifelsfall wird dein Chef einen Vertreter senden!“
„Ehrenwerter Vater,“ antwortet sie und verbeugt sich. „Ich möchte mich nicht verstecken.“
„Der chinesische Drache wird erst ruhen, wenn ich tot bin,“ spricht Herr Li düster aus. „Bis dahin wird er jedes Druckmittel nutzen, dessen er habhaft werden kann!“ Er schaut mich an und ergänzt: „Der junge Gelong wird dich begleiten und in deiner Nähe sein! Einen loyaleren Beschützer kann ich mir nicht vorstellen!“

*

Zwei Tage darauf landen wir gegen Abend auf Hawaii. Yong Tais Firmenchef, der Freund der Familie Li, hat einen Wagen geschickt, dessen Fahrer uns in einer Villa am Hang des Kilauea absetzt, mitten in üppiger Vegetation. Wir beziehen unsere Zimmer und wünschen uns eine Gute Nacht.
Nach einer schlaflosen Nacht trete ich beim ersten Morgenrot hinaus auf die Terrasse. Dort lasse ich mich zum Meditieren auf den Terracotta-Fliesen nieder. Den traumhaften Sonnenaufgang bekomme dadurch nicht mit.
Alles beginnt mit der Selbstbeobachtung während des Sitzens in meditativer Stille. Die Aufmerksamkeit nimmt wahr, dass sich der Geist bestimmte Gedankenbilder spinnt, doch sie identifiziert sich nicht mit der Geschichte, lässt sich nicht von ihr ködern. Der ‚Beobachter‘ hält keinen Gedankensplitter an.
Das unkontrollierte, alltägliche Bewusstsein lässt sich einfangen, lächelt der sehr attraktiven Chinesin in meiner Nähe zu und stellt sich vor, was wohl geschähe, wenn man den Mut hätte, sie darauf anzusprechen und und und…
Die Gedanken, die in meinem Kopf kreisen, beeinflussen auch meine Physis. Daher sollte ich mich nicht wundern, dass ich die letzte Nacht schlaflos verbracht habe. Ich werde mich jetzt und hier einer Selbsterforschung widmen. Auf diese Weise eröffnet sich mir die Möglichkeit, eine gewisse Beeinflussung meines Denkens vorzunehmen. So erschaffe ich mir hilfreiche Vorstellungen im Geist. Yong Tai fühlt etwas in meiner Nähe, will es sich nur nicht eingestehen. Ich darf sie nicht mit meinen Gefühlen überrumpeln. Das lässt sie zurückweichen. Sie mag das Kind in mir, die witzigen Einfälle des kleinen Jungen von damals.
Sobald ich mir bewusst darüber werde, dass vorgestellte Bilder eine Wirkung haben, kann ich das Prinzip für die Beruhigung des Geistes, für die tiefere Meditation und die Entwicklung des Zeugenbewusstseins anwenden.
Hat man mit einiger Übung diesen Zustand erreicht, beginnen der Ausbau und die Pflege dieses vom zwiegespaltenen Denken befreiten, des „störungsfreien“ Bewusstseins. Mein Ich-Bewusstsein beginnt nach diesem Zustand zu streben, von dem Lama Rinpoche immer gesprochen hat.
In den späten Morgenstunden betritt jemand die Terrasse. Die Augen öffnend erkenne ich Yong Tai. Sie trägt ein rückenfreies Kleid. Ich erhebe mich und zusammen treten wir an den Rand der Terrasse.
„Hier ist alles so leicht und unbeschwert,“ meine ich.
Während sie stumm in die Ferne schaut, berühre ich sie sanft an ihrem Schulterblatt und lasse den Finger ganz sanft über ihre Rippen abwärts wandern. Sie wendet sich mir zu und schaut mich mit sehnsuchtsvollen Augen und offenen Lippen an. Ich halte ihrem Blick lächelnd stand. Unsere Lippen nähern sich einander und vereinigen sich zu einem innigen Kuss. Für einen langen Moment genießt Yong Tai die intime Nähe.
Plötzlich wendet sie sich ab und sagt, als schelte sie sich selbst:
„Nein! Ich hätte das nicht tun dürfen!“
Entschuldigend antworte ich:
„Es tut mir leid!“
Wir schauen beide in eine andere Richtung in die Weite der Natur, bis die hawaiianische Köchin uns an den gedeckten Tisch ruft. Den Rest des Tages gehen wir uns weitgehend aus dem Weg. Bei zufälligen Begegnungen bleiben wir auf höflicher Distanz.
Am darauffolgenden Tag lassen wir uns vom Gärtner des Anwesens über die Insel fahren. Am Morgen habe ich noch gedacht, Yong Tai sagt die Fahrt ab, aber die Anwesenheit des Angestellten gibt ihr wohl die nötige Sicherheit. Höflich halte ich ihr die Fondtüre auf und setze mich vorne neben den Fahrer. Wir besuchen mehrere touristisch interessante Ziele.
Außerdem erklärt der Gärtner uns unterwegs die Natur. In der Nähe eines Wasserfalles lässt Yong Tai halten. Der Fahrer holt eine Decke und einen großen Korb aus dem Kofferraum. Yong Tai dirigiert ihn damit auf die Wiese neben der Straße. Ich helfe dem Mann, das Picknick vorzubereiten. Anschließend verzieht er sich mit einem Lunchpaket hinter das Steuer des Wagens.
Wir sitzen alleine auf der Decke, zwischen uns der Korb. Ich bin erstaunt, dass Yong Tai mich bedient. Sie fragt nach meinen Wünschen und lädt danach meinen Teller voll. Höflich warte ich, bis auch sie sich bedient hat.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Di Jun 30, 2020 9:03 am

Im folgenden Smalltalk fragt sie mich, wie es mir in den vergangenen Jahren ergangen ist. Ich erzähle ihr, dass mein Vater mir nach dem Hongkong-Abenteuer verboten hat, das Kloster noch einmal zu betreten.
„Das kann ich gut nachvollziehen!“ meint sie. „Zum einen wars du in einem Alter, indem die Schule das Wichtigste für dich sein sollte. Zum anderen wird er befürchtet haben, dass es zu weiteren Abenteuern dieser Art hätte kommen können.“
Auch ich bin neugierig auf Yong Tais bisheriges Leben. Irgendwann im Gespräch erzählt sie mir von einer Schwärmerei im Alter von 12 Jahren. Auch ich spreche an, dass ich im Alter von 13Jahren einmal in ein Mädchen verliebt gewesen bin, die allerdings keine Notiz von mir genommen hat.
Innerlich warte ich auf eine Gelegenheit, den kleinen Jungen in mir heraus zu lassen.

*

Heute haben wir eine Erkundung der Insel geplant. Unser Gärtner, ein native Hawaiian, wird den Wagen fahren und uns die Gegend und deren Tiere und Pflanzen erklären. Von unserer Köchin habe ich einen Picknick-Korb füllen lassen für eine Pause unterwegs. Ich habe da eine Wiese an einem Wasserfall im Blick. Den Platz habe ich in der Ausbildung oft mit anderen Mädels aufgesucht. Es ist ein romantischer Ort.
Während sich der Gärtner diskret ins Fahrzeug zurückzieht, beginne ich mit Noah unbeschwerten Smalltalk.
Als wir den Picknick-Korb weitgehend geleert haben, steht Noah plötzlich auf und läuft in Richtung des Wasserfalles davon. Ich schüttele den Kopf. Mal wieder einer dieser spontanen Einfälle, die ich trotz allem an ihm so liebe…
Ihm hinterher schauend sammele ich schon einmal das Geschirr und Besteck ein. Plötzlich sehe ich ihn vornüber hinfallen. Er bewegt sich kurz und bleibt dann im Gras auf dem Bauch liegen.
Besorgt springe ich auf und laufe zu ihm. Schon von unterwegs rufe ich ihm zu:
„Noah! Noah, ist alles in Ordnung?“
Bei ihm angekommen, knie ich mich neben ihn und drehe ihn auf den Rücken. Lachend greift er nach mir und zieht mich zu sich herunter. Leicht verärgert rolle ich mich weg. Er macht die Rolle mit und so wälzen wir uns wie zwei Kinder lachend im Gras. Schließlich kommen wir atemlos zur Ruhe.
Nun liege ich auf ihm. Ich stemme mich hoch und schaue in sein glückliches Gesicht. Irgendwie fühle ich mich wie damals, als ich im Alter von 12Jahren für einen Jungen geschwärmt habe. Noah hat es geschafft, mein rationales Gedankenkonstrukt zu durchbrechen, das meine Gefühle eingesperrt gehalten hat. Ich beuge mich zu ihm hinunter und küsse ihn auf die Stirn. Dann springe ich auf und laufe mit wehenden Haaren lachend zum Wagen zurück.
Er rappelt sich auf und folgt mir. Beim Picknick-Korb erreicht er mich. Er umfasst meine Schultern von hinten und legt seine Wange an meine. Dabei flüstert er:
„Wie schön du riechst!“
Gemeinsam packen wir die Sachen zusammen und tragen sie zum Wagen zurück. Die Rückfahrt zur Villa verbringen wir nebeneinandersitzend auf der Rückbank. Als wir am Abend beim Kaminfeuer sitzen, beichtet mir Noah, meine Hand haltend:
„Seit den Tagen damals auf der Yacht gab es nicht einen einzigen Tag, an dem ich nicht an dich gedacht habe. Nun, da ich dir wieder nahe bin, schmerzt es sehr. Je näher ich dir bin, desto schlimmer wird es. Bei dem Gedanken, nicht bei dir sein zu können, kann ich nicht atmen. Ich werde verfolgt von dem Kuss, den du mir nie hättest geben sollen. Mein Herz schlägt schneller, in der Hoffnung, dass dieser Kuss keine Narbe hinterlassen wird.“
Während er spricht, rückt er näher an mich heran. Ich winde mich innerlich wie äußerlich. Er sieht es und fragt:
„Was kann ich tun? Ich werde alles tun, worum du mich bittest!“
Ihn offen anschauend, sage ich:
„Du darfst nichts erzwingen wollen, Lieber! Gib der Liebe Zeit zu wachsen. Es ist nicht einfach! Wir leben in einer harten Welt. Du bist auf dem Weg ein Lama zu werden, ein Erleuchteter, ein spiritueller Lehrer. Ich bin im gehobenen Management eines weltweit agierenden Unternehmens. Wenn du deine Gedanken ganz zu Ende denkst, dann führen sie uns zu einem Ort, an den wir nicht gehen dürfen… Unabhängig davon, was wir füreinander empfinden.“
„Dann empfindest du genauso?“ fragt er.
„Ich lasse nicht zu, dass du deine Zukunft für mich aufgibst!“ sage ich mit fester Stimme und rücke ein paar Zentimeter ab.
„Du verlangst von mir, vernünftig zu sein. Das kann ich in deiner Nähe nicht!“ antwortet er und schaut mich flehend an.
Ich erhebe mich und erwidere ihm: „Ich werde mich nicht darauf einlassen!“, obwohl mir mein Herz längst etwas anderes zuflüstert.
Noah ist ebenfalls aufgestanden. Er entfernt sich zwei Schritte und dreht sich dann zu mir um. Er sagt:
„Aber was wäre, wenn… Stelle dir einmal vor, es könnte unser Geheimnis sein.“
Meine Gefühle klammern sich inzwischen ebenfalls an diese Möglichkeit. Dennoch sage ich, ihn entgeistert anschauend:
„Wir können nicht mit einer Lüge leben! Das halten wir nicht durch. Könntest du so leben? Könntest du es, Noah?“
Nach kurzer Überlegung antwortet er:
„Nein! Du hast Recht. Es würde uns zerstören.“
Wir gehen uns ein paar Tage aus dem Weg. Ich weiß nicht, ob Noah überhaupt etwas isst. Schließlich kann ich es nicht mehr mit ansehen und bringe ihm ein Tablett mit hawaiianischer Kost. Ich finde ihn meditierend.

*

Ich, Noah, habe die meiste Zeit der folgenden Tage meditierend verbracht, nur unterbrochen von Spaziergängen durch die überwältigende Natur Hawaiis. In meinen Meditationen versuche ich, mich immer weiter zu entwickeln. Ich trete quasi neben mich und beobachte meine Gedanken und Gefühle, mein inneres Wesen also. Mein ICH kann mein inneres Wesen nicht fühlen, das kann es nur selbst tun.
Der innere Beobachter, das ‚Zeugenbewusstsein‘, ist nun das Bewusstsein des inneren Wesens, das geweckt werden muss. Denn solange das innere Wesen sich selbst aber nicht bewusst erkennt, bleibt es inaktiv – es schläft. In diesem Stadium befinde ich mich noch.
Wenn Erkennen möglich werden soll, muss es zwei geben: einen Erkennenden und ein Erkanntes, also Dualität.

*

Bei meinem Näherkommen öffnet Noah die Augen und schaut mich prüfend an.
„Ich habe hier etwas für dich,“ sage ich mit sanfter Stimme und frage ihn: „Hast du Hunger?“
„Gerne,“ antwortet Noah und lächelt mich an.
Ich setze mich ihm gegenüber auf den Boden, zwischen uns das Tablett, und bleibe bei ihm bis er seinen Hunger gestillt hat.
„Ich habe es mir überlegt,“ beginne ich dann. „Wir sind erwachsen und können über unseren Lebensweg selbst entscheiden. Wenn ich in mich hineinhorche, fühle ich tiefe Zuneigung für dich. Ja, auch ich sehne mich nach deiner Nähe…“
Er schaut mich von der anderen Seite des Tabletts an, als wäre ich ein Geist. Seine Augen beginnen zu strahlen. Unvermittelt schnellt er mit dem Oberkörper über das Tablett auf mich zu und wirft mich dabei um. Wir rollen ein wenig über den Teppich. Wieder bin ich obenauf – sicher, weil er es zulässt -, stemme mich hoch und fordere:
„Versprich mir, dass du die Ideale des Mönchtums hochhältst! Keine Abhängigkeiten, kein Besitz, Selbstlosigkeit, Mitgefühl, Liebe… Auch wenn dein Lebensweg dich in die freie Wirtschaft führen sollte!“
Es hört sich erleichtert und glücklich an, als er mir antwortet:
„Das will ich dir gerne versprechen! Hoch und heilig!“
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Mi Jul 01, 2020 8:21 am

Dann umfasst er meinen Nacken und zieht mich zu sich herunter. Es folgt ein langer und inniger Kuss. Etwas atemlos in seinen Armen liegend, ergänze ich:
„Kein Zorn, keine Furcht, keine Aggressivität! Sonst würdest du unsere Liebe zerstören!“
„Ich verspreche dir, mein ganzes Leben an mir zu arbeiten,“ antwortet Noah mit ernstem Gesicht.
Wieder küssen wir uns leidenschaftlich. In eine Atempause hinein sage ich:
„Mein Siddharta! Mein Prinz!“
In den folgenden Wochen unternehmen wir viel gemeinsam. Am witzigsten und zugleich emotionalsten habe ich darunter den Besuch in einer Karaoke-Bar empfunden. Er betritt die Bühne und sucht eine Melodie heraus. Dann erklärt er vor allen Leuten:
„Dieses Lied widme ich der schönsten und liebenswertesten Frau, die ich kenne!“
Danach singt, oder besser: grölt er mein Lieblingslied. Das Publikum in der Bar geht lachend mit und mimt die Background-Sänger. Anschließend klatscht der ganze Saal.
Wir schlafen schon längst im breiten Bett meines Schlafzimmers zusammen. Anfangs hat er mich schüchtern gestreichelt. Ich habe seine Hand geführt. Irgendwann rückt er nahe an mich heran und legt seine Hand um meine Schultern. Ich flüstere:
„Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass mich jemand so lieb festgehalten hat.“
Er legt seine Wange an meine und antwortet:
„Du siehst wunderschön aus!“
Da Noah damit offensichtlich an mir vorbeiredet und doch dabei ein liebes Kompliment macht, muss ich lachen. Ich drehe mich auf den Rücken und gebe ihm einen Kuss.

*

Ein halbes Jahr später komme ich gerade von der Untersuchung bei meinem Frauenarzt, der meinen Verdacht bestätigt hat. Noah steht im Eingang der Villa, als ich aus dem Wagen steige. Wir laufen aufeinander zu, umarmen und küssen uns.
Nachdem er mich losgelassen hat, streichele ich ihn zärtlich. Mir kommen nur die Worte „Oh, Noah!“ über die Lippen. Wieder drücken wir uns stumm aneinander. Schließlich kann ich es doch aussprechen:
„Noah, ich bin schwanger!“
Er hebt mich an und dreht sich mit mir um seine Achse. Dabei lächelt er glücklich und hat feuchte Augen.
„Das ist… Das… Oh, das ist wunderschön!“ stammelt er.
Ich schaue ihn mit ängstlichen Augen an und flüstere:
„Was sollen wir jetzt machen?“
Noah lacht glücklich und antwortet:
„Auf keinen Fall werden wir uns jetzt Sorgen machen! Einverstanden?“
Wieder fallen wir uns in die Arme und küssen uns. Tränen der Erleichterung laufen mir über die Wangen und werden von seinen Lippen aufgefangen.

*

In den folgenden Wochen planen wir unsere Hochzeit. Wir informieren unsere Eltern und machen einen Termin fest. Eine Woche vorher wollen sie kommen und insgesamt drei Wochen bleiben. Ich schwebe in höheren Sphären in den Wochen bis dahin. Eine kleine Privatmaschine meines Unternehmens wird die insgesamt 20 Hochzeitsgäste über New York und San Franzisko zu uns nach Hawaii fliegen. Die Gästevilla, in der wir seit über einem halben Jahr wohnen, schenkt mein Arbeitgeber mir zur Hochzeit.
Dann ist der Tag gekommen, an dem unsere Eltern, Großeltern und Noahs Patenfamilie ankommen sollen. Wir fahren mit einem gemieteten Bus zu dem kleinen Sportflughafen und warten im Abfertigungsgebäude. Heute ist ein schöner Tag. Nur wenige Wolken sind am Himmel zu sehen. Plötzlich erkennen wir aus der angekündigten Anflugrichtung einen Feuerball, der schnell größer wird.
Ich schreie auf und sinke Noah haltlos schluchzend in die Arme. Wenige Minuten später kommt eine Angestellte des Flugplatzes auf uns zu und sagt:
„Es tut uns leid, aber wir haben die Maschine im Landeanflug verloren… Alles Nötige zur Aufklärung wurde schon in die Wege geleitet. Warten Sie bitte zuhause auf weitere Details. Sobald wir mehr wissen, werden wir Sie informieren!“
In den nächsten Wochen ist Noah ganz besonders bemüht um mich. Er begleitet mich überall hin. Anfangs haben wir Angst gehabt, dass wir unser Kind verlieren, aber der Arzt kann uns beruhigen.
Eines Abends, ich stehe auf dem Balkon des Schlafzimmers über der Terrasse und bürste mein Haar, sage ich zu Noah:
„Noah, ich möchte, dass unser Kind hier geboren wird!“
Er lehnt in der Balkontür und schaut mich stolz und glücklich an. Nun umwölkt sich seine Stirn. Er fragt:
„Warum nicht in der Wöchnerinnenabteilung des Krankenhauses unten in der Stadt?“
„Hier fühle ich mich wohl. Ein Arzt ist schnell zur Stelle. Ich habe darüber schon mit meinem Frauenarzt geredet!“ antworte ich und strahle ihn an.
Er bemerkt stockend:
„Du bist so… wunderschön!“
„Das liegt daran, dass ich dich so sehr liebe.“
Noah löst sich aus dem Türrahmen und kommt näher. Er schüttelt den Kopf, lächelt mich an und sagt:
„Nein… Nein, das liegt daran, dass ICH dich so sehr liebe.“
Ich lege den Kopf schief, schaue ihn prüfend an und antworte:
„Es liegt daran, dass WIR UNS so sehr lieben!“
Mitten in der darauffolgenden Nacht wache ich auf. Ich taste nach Noah und greife ins Leere. Also drehe ich mich vollends zu ihm um. Sein Platz neben mir ist leer. Ich stehe auf und finde ihn auf dem Balkon. Er schaut in die Sterne.
„Was bedrückt dich, Noah?“ frage ich besorgt.
Er schüttelt den Kopf und behauptet:
„Es ist nichts!“
Ich lege meine Hände von hinten um seine Schultern, lehne mich an ihn und frage:
„Wie lange wird es wohl dauern, bis wir in Allem ehrlich zueinander sein können?“
Er dreht sich zu mir um und umarmt mich fest. Dann sagt er:
„Ich hatte einen bösen Traum.“
Neugierig hake ich nach: „Und?“
Er flüstert: „Ich träumte von dir!“
Besorgt fordere ich ihn auf:
„Erzähle ihn mir!“
Er löst sich von mir, atmet einmal tief ein und sagt:
„Es war nur ein Traum!“
Noah entfernt sich von mir, atmet tief ein und aus und dreht sich in der Balkontür wieder zu mir um:
„… dass du bei der Geburt des Babys sterben wirst…“
Erschreckt frage ich: „… und das Baby?“
Noah schüttelt heftig den Kopf, als wollte er böse Geister vertreiben. Er antwortet:
„Ich weiß es nicht…“
Ich nähere mich ihm, umfasse ihn an der Brust, lehne meinen Kopf an sein Herz und sage tröstend:
„Es war nur ein Traum! Dieses Baby wird unser ganzes Leben verändern!“
Er nimmt mich sanft in den Arm und küsst mich auf die Stirn, während ich mich an ihn kuschele.
„Dieses Baby ist ein Wunder!“ sagt er.
Wir gehen zurück ins Bett. Ich halte Noah fest im Arm. Er flüstert mir ins Ohr:
„Mit uns wird es ewig halten! Weißt du, wieso ich das weiß? Weil ich mich morgens beim Aufwachen immer zuerst darauf freue, dein Gesicht zu sehen!“
Er küsst mich leidenschaftlich. Atemlos flüstere ich danach:
„Und ich kann nicht einschlafen ohne dich, Noah!“
„Ich bin ja da, Liebes!“ tröstet er mich. „Meine Gedanken sind immer bei dir!“

*
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Do Jul 02, 2020 9:07 am

Der Tag der Entbindung rückt näher. Wegen einer Unpässlichkeit bleibe ich, Noah, im Bett. Yong Tai schiebt mir das Frühstück auf einem Servierwagen ans Bett und verabschiedet sich unter Küssen. Heute ist der voraussichtlich letzte Untersuchungstermin beim Frauenarzt. In den nächsten Tagen wird er auf Abruf bereitstehen, um Yong Tai bei der Hausgeburt zur Seite zu stehen.
Ich habe gerade eine Tasse Tee in der Hand, als ich diesen Donnerschlag höre, der das ganze Haus erzittern lässt. Sofort bin ich auf dem Balkon. Der Kilauea zeigt ein friedliches Gesicht. So wie ich gerade angezogen bin, laufe ich hinunter ins Foyer. Unsere Köchin kommt mir mit schreckgeweiteten Augen entgegen.
Die Treppe und der Privatweg bis zur Gartenmauer ist mit wenigen Sätzen genommen. Vor mir breitet sich ein Bild des Grauens aus. Haltlos weinend sinke ich auf die Knie. Die Köchin ist mir langsam gefolgt. Nun fasst sie mich an den Schultern und sagt:
„Kommen Sie wieder ins Haus, Sir! Dafür sind jetzt Andere zuständig!“
Ich erhebe mich langsam und folge unserer Angestellten. Sie sagt, dass ich mich in den Sessel setzen soll, dann informiert sie die Polizei. Wiederholt muss ich den Detectives unsere Geschichte erzählen.
In der Villa kann ich nicht mehr leben. Also kündige ich der Köchin und dem Gärtner und beziehe ein Zimmer in einem Hotel in Honolulu. Nachdem die Erbschaftsangelegenheiten geregelt sind, fliege ich als gebrochener Mann von Selbstvorwürfen zerfressen nach Deutschland zurück. Warum habe ich nicht am Steuer gesessen, wie sonst immer?
Mein erster Gang führt mich in das Kloster und zu Lama Rinpoche. Ich berichte ihm, was sich seit unserer Ankunft auf Hawaii zugetragen hat. Ich schließe mit der niederschmetternden Aussage:
„Ich weiß nicht mehr weiter, Tsopo -Meister-. Mein Leben ist sinnlos ohne sie!“
Mein väterlicher Freund und Mentor schaut mich lange an. Dann antwortet er:
„Dir ist ein großes Vermögen zugefallen, das du irgendwie verwalten musst. Du hast aber keine Ausbildung bisher. Ich rate dir, mache eine Banklehre. Lerne mit viel Geld umzugehen und es zu mehren! Dann überlege dir, wofür du den Geldzuwachs ausgeben willst.“
„Aber ohne Yong Tai hat alles keinen Sinn!“
„Denke daran, was ich dich gelehrt habe: der Tod ist nicht das Ende! Dann bekommt dein Leben wieder einen Sinn, wenn du ihn auch jetzt noch nicht erkennst. Komm gerne im Laufe deiner Ausbildung immer wieder hierher zurück! Du hast meditieren gelernt! Nutze deine Fähigkeit.“
Ich nicke dankbar und sage:
„Ich danke Euch, mein Tsopo.“
Danach bewerbe ich mich bei verschiedenen Banken und erhalte die Chance, eine Ausbildung zu beginnen. Während meiner Urlaube reise ich gerne und ziehe mich immer wieder ins Kloster zurück.
Während meiner Aufenthalte bei Lama Rinpoche erzählt er mir in langen Gesprächen von seiner Vergangenheit, um mir ein Beispiel zu geben. Er beginnt damit, wie plötzlich zwei Männer in Mönchsgewändern im Wohnzimmer gesessen haben.
„Tags vorher habe ich eine unscheinbare Schale vor dem Sportplatz gefunden,“ berichtet er. „Ich habe sie mir von allen Seiten angesehen. Sie erschien mir irgendwie vertraut. Also habe ich sie eingesteckt, wenn auch die Anderen in meiner Sportgruppe gelästert haben über den ‚Müll‘.“
Er macht eine Pause und ergänzt dann:
„Die Mönche haben gesagt, dass die Schale einem verstorbenen Lama gehört hat, und dass sie annehmen, ich sei dessen Wiedergeburt. Das müsse aber in Nepal genauer geprüft werden.
Ich bin dann mit meiner ehrenwerten Mutter in das Kloster nach Nepal gereist, wo der verstorbene Lama früher gewirkt hat und verschiedener Prüfungen unterzogen worden. Man war sich schließlich sicher, dass in mir der ehrenwerte Lama Sherab weiterlebt.
In der Folgezeit bin ich in allem geschult worden, was ein späterer Mönch wissen muss. Ich habe allerdings auch einen gewissen Ehrgeiz in die Ausbildung gesteckt, und erstaunte damit meine Lehrer. Alles weitere weißt du ja grob: Ich bin zum Lama geweiht und nach Deutschland zurückgeschickt worden, um die Bestimmung von Lama Sherab zu erfüllen.“
Ich nicke.
„Was schlägt mir mein Tsopo -Meister- für die weitere Zukunft vor?“
„Schließe erst einmal deine Ausbildung mit Bravour ab, dann sehen wir weiter!“


Wiedergeburt
Vier Jahre sind seitdem vergangen. Nun bin ich, Noah, 28Jahre alt. Nach den drei Jahren Banklehre bin ich wieder ins Kloster zurückgekehrt. Es ist der beste Platz, um zur Ruhe zu kommen, Geborgenheit zu fühlen. Während der letzten Meditation habe ich eine Vision. Darüber spreche ich bei nächster Gelegenheit mit Lama Rinpoche.
„Tsopo Rinpoche, man sagt, du wärest die Wiedergeburt eines bedeutenden Lamas aus Nepal,“ sage ich einleitend. „Könnte es sein, dass auch gewöhnliche Menschen wiedergeboren werden?“
„Als du vor deiner Ausbildung, frisch von Hawaii, zu mir gekommen bist, habe ich dir gesagt, dass wir alle ‚gewöhnliche Menschen sind‘, Noah! Es gibt keine Bevorzugung oder Benachteiligung! Der Tod ist nicht das Ende! Einzig je nach Lebensweise im jetzigen Leben, werden wir im nächsten Leben als Pflanze, Tier oder auch als Mensch wiedergeboren – oder erreichen das Nirwana bei untadeliger, heiliger Lebensweise.“
Ich schaue Lama Rinpoche direkt an und erkläre ihm nun meine Anfangsfrage:
„Ich meditiere in meiner freien Zeit. Während der letzten Meditation habe ich Yong Tai gesehen. Sie hat sich im Verlauf der Erscheinung in ein Kind verwandelt…“
„Das kann zweierlei Gründe haben,“ meint der Lama reserviert. „Entweder ein Mara -böser Geist- sucht den Kontakt zu dir und will dich zur negativen Seite hinüberziehen, weil du verführbar geworden bist, da du anscheinend noch immer nicht wirklich loslassen kannst.
Oder du hast doch losgelassen, gibst der bedauernswerten Li Yong Tai ihren Frieden – und sie strebt aus Liebe zu dir zurück…“
„Was soll ich jetzt tun?“ frage ich den Lama.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Do Jul 02, 2020 8:23 pm

„Behalte sie in liebevoller Erinnerung, aber lasse sie los. Gib sie frei! Bleiben deine Visionen, dann suche nach ihr. Denn was du frei gibst und es strebt aus sich heraus zu dir zurück, ist dein! Nicht jedoch das, was du nicht loslassen kannst!
Suche nach einem Kind, das zum Todeszeitpunkt gezeugt und neun Monate später geboren wurde.“
„Was ist mit dem Kind, das sie unter ihrem Herzen trug?“
„Es könnte direkt ins Nirwana übergegangen sein, so wie auch die Christen glauben, dass solche unschuldigen Kinder sofort ins Paradies kommen.“
Bedächtig nickend, bedanke mich für seinen Rat. Ich klammere mich nicht mehr in Gedanken an Yong Tai, sondern lasse ihr ihren Frieden. Tatsächlich verflüchtigt sich die Vision, wird immer undeutlicher. An Yong Tai denke ich nur noch in großer Dankbarkeit, dass ich diese wundervolle Frau kennengelernt habe.
Einige Monate später sehe ich während einer Meditation zuerst einen unförmigen Schatten. In weiteren Meditationen wird der Schatten immer deutlicher. Es erscheint eine Frau mit Baby im Arm, deren Gesicht noch nicht erkennbar ist. In späteren Meditationen erkenne ich Yong Tai, die mir zulächelt und über einen Weg geht, an dessen Rand Pflanzen wachsen, wie ich sie von Hawaii kenne.
Wieder hole ich mir Rat bei Lama Rinpoche. Er ermuntert mich:
„Dann musst du nach Hawaii reisen und dort suchen!“
Ich fliege einige Wochen darauf mit einer Linienmaschine nach Honolulu und suche das dortige buddhistische Kloster auf. Seiner Heiligkeit, dem Khenchen Lama des Klosters erzähle ich alsdann meine Geschichte. Er lässt mich geduldig ausreden und nickt mir lächelnd zu.
„Ich werde einen der Brüder beauftragen, für dich die Augen offen zu halten!“ verspricht er mir anschließend. Ich soll ihm meine Adresse dalassen und erst einmal abwarten. Zuerst will man sich auf Zwillinge konzentrieren, die neun Monate nach dem Attentat geboren worden sind.
An einem Nachmittag Tage darauf klingelt es an der Tür meiner kleinen Wohnung. Als ich öffne, stehe ich einem Lama gegenüber. Ich lasse ihn eintreten und biete ihm Tee und Gebäck an. Er berichtet mir eine traurige Geschichte:
„Wir haben ein Kinderheim auf der Insel, das von christlichen ‚Barmherzigen Schwestern‘ geleitet wird. Sie kümmern sich speziell um Waisen, deren Mütter bei der Geburt gestorben sind und die keine weiteren Angehörigen haben. Dort lebt ein Zwillingspärchen, das am errechneten Zeitpunkt geboren ist. Der Vater der Kinder ist unbekannt. Die Mutter hat die schwere Geburt leider nicht über-lebt. Bisher fanden sich auch keine Adoptiveltern für die beiden Mädchen.“
„Das heißt,“ meine ich. „Die Beiden kommen in die engere Wahl und es könnte die Reinkarnation von Mutter und Kind sein…“
Ich versinke in Gedanken. Wenn wir auf der richtigen Spur sind, wäre das wunderbar!
„Wir werden sie prüfen müssen, damit man sicher sein kann, es sind die Wiedergeburten, die ich suche,“ sage ich und schaue meinem Gegenüber in die Augen.
„Wenn Sie möchten, besuchen wir das Kinderheim sobald es Ihnen passt!“ bietet mir der Lama an.
„Wie wäre es morgen Vormittag?“ schlage ich vor.
Der Lama nickt und verabschiedet sich bald.
Am nächsten Morgen fahre ich zu einem Spielzeugladen und erstehe zwei Säcke voll Puppen, Teddybären und Spielzeugautos für die Kinder des Kinderheims. Yong Tais alte Puppe aus ihrer Kindheit und den Plüschdrachen, den ich ihr damals auf der Fahrt von Hongkong nach Hawaii geschenkt habe, stecke ich zu den Spielwaren mit hinein.
Mein nächstes Ziel ist das buddhistische Kloster in Honolulu. Dort warte ich auf den Mönch. Nach einer kurzen freundlichen Begrüßung leitet er mich zu dem Kinderheim. Auf dem Weg dorthin fragt er mich:
„Haben Sie an persönliche Gegenstände ihrer Frau gedacht?“
Ich nicke lächelnd und sage:
„Kleider oder Schmuck wären nichts für fast fünfjährige Kinder. Vor allem, wenn sie sich in einer größeren Gruppe mit anderen Kindern befinden. Auf dem Weg ins Kloster bin ich heute Morgen zu einem Spielwarengeschäft gefahren und habe die unterschiedlichsten Puppen und Stofftiere gekauft. So hat jedes Kind etwas. Da hinein habe ich einen Drachen aus Hongkong gegeben und eine Puppe, die meine Frau immer als ihre Lieblingspuppe bezeichnet hat. Wir können die Auswahl der Kinder beobachten und jedes Kind darf sein Spielzeug behalten.“
„Das halte ich für vernünftig!“ pflichtet mir der Lama bei.
Am Kinderheim angekommen, trage ich das Spielzeug in den transparenten Säcken, während der Lama mir die Türen öffnet. Mein Begleiter hat das Kinderheim telefonisch informiert. Die Kindergärtnerin ist ebenso neugierig und schaut interessiert, was nun passiert, bereit bei einem Streit gleich schlichtend einzugreifen. Ich öffne nun den Sack als wäre ich Father Christmas und die Kinder fallen darüber her.
Zwei identisch aussehende hawaiian Natives in verschiedenfarbiger Kleidung greifen sich sogleich die Puppe und den Drachen. Sie laufen damit sofort in eine Zimmerecke und lassen niemand der anderen Kinder mehr an sich heran, was das Eingreifen der Kindergärtnerin doch noch nötig macht.
Ich packe den Rest des Spielzeugs in die Säcke zurück, und sage der Kindergärtnerin, dass dies für die anderen Spielgruppen im Heim gedacht ist. Sie schickt mich damit ins Büro, wo ich die Säcke an eine Wand stellen darf.
Dort frage ich sogleich die Büroangestellte:
„Könnten Sie mir bitte den exakten Geburtstag der Zwillinge nennen?“
„Ach, Sie meinen Anne und Andrea?“ fragt sie zurück.
Ich zucke mit den Schultern und nicke.
„Wenn es zurzeit die einzigen Zwillinge in ihrer Betreuung sind…“ meine ich dazu.
Sie blättert sie in ihren Unterlagen und nennt mir ihren Geburtstag. Sie sagt:
„Die Zwillinge haben schon viel mitgemacht in ihrem jungen Leben. Niemand wollte sie adoptieren. Ein paarmal waren sie zur Probe bei verschiedenen Ehepaaren, aber die Leute haben den Kopf geschüttelt. Sie sagten, die Mädchen würden weinen und einnässen, die Nahrung verweigern und einiges mehr…“
„Ich möchte die Beiden gerne auch einmal probeweise annehmen,“ sage ich spontan.
Die Frau hinter dem Schreibtisch schaut mich erstaunt an.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Do Jul 02, 2020 8:33 pm

„Sind Sie verheiratet? Haben Sie Zeit, sich zu kümmern. Sind Großeltern da, die sie liebevoll betreuen, während Sie arbeiten? Haben Sie starke Nerven und eine Engelsgeduld?“ zählt sie die wichtigen Punkte auf.
Ich lächele und antworte:
„Ich bin verwitwet und arbeite im Bankfach von zuhause aus! Ja, ich kann mich rund um die Uhr kümmern, sollte das einmal nötig sein. Außerdem habe ich genug Geld, so dass es ihnen an nichts fehlen wird.“
Nun lächelt auch die Frau und meint:
„Ich werde mit der Mutter Oberin darüber reden! Kommen Sie gerne über-morgen wieder und dann wünsche ich Ihnen viel Glück für die Probewoche!“
Zwei Tage später bin ich wieder zurück in dem Kinderheim, um Anne und Andrea für die Probewoche abzuholen. Unterwegs habe ich noch einmal das Für und Wider gedanklich abgewogen, und bin zu der Überzeugung gelangt, dass ich das Richtige tue.
Die Mädchen kommen auf mich zu gelaufen, als sie mich sehen und hängen sogleich an meinen Hosenbeinen. Ich beuge mich zu ihnen herunter und nehme sie auf die Arme. Sogleich umschlingen sie meinen Hals und schmiegen sich an mich. Ich lache und lasse sie gewähren. Zu der Bürokraft sage ich nun aber:
„So kann ich den Koffer mit ihren Sachen aber nicht tragen. Würden Sie ihn mir bitte zu Auto bringen?“
„Gerne,“ antwortet sie, sprachlos vor Staunen. „Sie müssen wissen, solch eine unproblematische Übergabe hatten wir bei den Zwillingen noch nie! Und auch bei den anderen Kindern: Sie sind normalerweise zuerst sehr zurückhaltend…“
Unterwegs zum Auto frage ich:
„Sie haben ihr Spielzeug nicht mehr… Haben Sie die Puppe und den Drachen mit in den Koffer getan?“
„Ja, genau!“ sagt sie und nickt. „Wir mussten ihnen das Spielzeug wegnehmen. Es hat Streit gegeben, weil die Zwillinge die Sachen den anderen Kindern nicht zum Spielen ausleihen wollten… Ein Verhalten übrigens, das wir so noch nicht beobachtet haben.“
Beim gemieteten SUV angekommen lasse ich die Mädchen herunter und schließe den Wagen auf. Die Beiden setze ich auf die Rücksitze und schnalle sie an. Mit einem Tastendruck auf den Schlüsselbund öffnet sich das Schloss der Hecktür. Ich nehme der Schwester den Koffer ab und lege ihn hinter die Fondsitze.
Nun öffne ich den Koffer und nehme die Spielzeuge der Mädchen heraus. Diese reiche ich den Mädchen über die Sitzlehne nach vorne. Sofort drücken sie Puppe und Drache an sich und lächeln mich glücklich an. Ich merke mir, wer von beiden welches Spielzeug nimmt, dann klappe ich den Koffer wieder zu und schließe die Wagentür.
Anschließend verabschiede ich mich von der Schwester mit Handschlag und vertröste sie auf unser nächstes Zusammentreffen in sieben Tagen. Danach gehe ich zur Tür auf der Fahrerseite, setze mich hinter das Steuer und schnalle mich ebenfalls an. Kurz winke ich der Schwester am Straßenrand zu, dann fahre ich los.
Durch den Verkehr in Honolulus Avenues quäle ich mich zu meiner Mietwohnung, die wir eine halbe Stunde später erreichen. Unterwegs schauen die Mädchen interessiert aus dem Fenster, sind aber ansonsten still. Ich parke den Wagen vor dem Appartementhaus, in dem ich wohne und nehme zuerst den Koffer aus dem Auto. Danach befreie ich die Mädchen aus den Gurten und lasse sie aussteigen. Nachdem ich den Wagen verschlossen habe, gehen wir auf das Gebäude zu.
Die Mädchen folgen mir still. Kurz darauf stehen wir vor der Tür des Appartements 1215, das ich für die Dauer meines Aufenthaltes gemietet habe. Ich öffne und lasse die Mädchen an mir vorbei eintreten. Nachdem ich die Wohnungstür hinter mir geschlossen habe, laufen Anne und Andrea los und erkunden die Wohnung.
Neben der kleinen Garderobe öffnen sie die erste Tür seitlich und staunen über das große Badezimmer. Kurz darauf erobern sie den Livingroom mit einer großen Sitzlandschaft und Riesen-Bildschirm an der Wand. Die Mädchen machen große Augen.
„Is this your own Cinema?“ fragt Andrea.
Ich muss lächeln und antworte ihr:
„Yeah, I can show you lots of movies, if you want…“
„Yeahhh!“ Sie wirft sie auf die zur Sitzlandschaft gehörende Couch und schaut mich schuldbewusst an. Etwas schüchterner kommt nun die Frage:
„Do you have ‚Bugs Bunny‘?“
Innerlich grinsend bestätige ich ihr das. Disneys Zeichentrickfilme kommen wohl nie aus der Mode. Ich nehme die Fernbedienung vom Coffeetable und wähle den Disneykanal. Anne krabbelt nun auch auf die Couch, auf die ich mich inzwischen auch gesetzt habe.
Während sie sich bei mir anlehnt und ich nach einer Weile meinen Arm um ihre Schultern gelegt habe, liegt Andrea auf dem Bauch, stützt ihr Kinn in ihre Hände und streckt ihre Füße in die Luft. Darüber vergehen die ersten zwanzig Minuten, solange der Zeichentrickfilm dauert.
Anschließend klettert Andrea als erste von der Couch und entdeckt das Schlafzimmer. Da ich das Appartement möbliert gemietet habe, steht dort in Raummitte ein Doppelbett. Wie im Livingroom besteht auch hier die Außenwand aus einem raumhohen Fenster aus Spezialglas. In beiden Räumen wird die Fensterwand von einer Glastür unterbrochen, die auf einen Balkon hinausführt, der so breit ist, wie das Appartement selbst.
Auch das muss Andrea natürlich sofort ausprobieren. Schnell bin ich hinter ihr her und sage:
„Bitte nicht auf das Balkongeländer klettern, Andrea! Du würdest mich sonst sehr traurig machen, solltest du abstürzen. Und natürlich wird Anne noch trauriger sein!“
„Okay, Daddy!“ sagt sie und drückt meinen Oberschenkel kurz, bevor sie wieder ins Schlafzimmer zurückläuft.
Einen Moment bleibe ich auf dem Balkon zurück. Eine Welle von Glück durchströmt mich. ‚Daddy‘ hat sie gesagt! Ich könnte in diesem Moment die ganze Welt umarmen…
Dann folge ich ihr. Andrea ist in der Zwischenzeit weitergelaufen und kommt mir nun in Begleitung ihrer Schwester entgegen.
„Where will we sleep?“ fragt sie nun.
„You both sleep in this big bed. I will sleep in the living room,“ antworte ich ihr. „Aber das ist nur vorübergehend! Wir werden bald eine weite Reise machen…“
„Where?“ kommt sofort ihre nächste Frage.
„We will look at Europe!“ gebe ich etwas nebulös bekannt.
Nun meldet sich Anne:
„I’m hungry…“
Ich nicke und frage zurück:
„Was habt ihr im Kinderheim mittags zu essen bekommen?“
„Hmm,“ macht Andrea.
Wieder muss ich innerlich grinsen. Nun frage ich erwartungsvoll:
„Was möchtet ihr denn essen?“
„Hamburger with french fries!“ ruft Andrea spontan aus.
Natürlich! Eben, während des Zeichentrickfilms wurde das beworben. Nun muss Andrea das auch ausprobieren. Es ist etwas ganz anderes, als das Essen im Kinderheim!
Ich rufe die Speisekarte einer bekannten Hamburger-Kette auf den Bildschirm und lasse die Mädchen auswählen. Danach wähle ich auch ein Menü vom Bildschirm und rufe dann die nächste Filiale an. Dort gebe ich die Bestellung an und nenne meine Adresse. Eine halbe Stunde später klingelt der Bote an der Tür. Ich nehme ihm die Tüte ab und halte meine Kreditkarte an sein Lesegerät.
Mit einem freundlichen Lächeln und einem „Guten Appetit“ verabschiedet er sich. Ich bringe die Tüte an den Couchtisch und verteile den Inhalt vor die Mädchen. Eine kleine Flasche Cola findet sich auch darin. Also bringe ich noch drei Gläser an den Tisch und gehe in den ‚Schneidersitz‘ gegenüber der Couch, auf der jetzt beide Mädchen sitzen.
Nach dem Essen bringe ich die leeren Schachteln in die Küche. Dann frage ich die Beiden:
„Have you ever been to the beach?“


Zuletzt von hermann-jpmt am Fr Jul 03, 2020 7:32 pm bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Fr Jul 03, 2020 9:22 am

Statt einer vernünftigen Antwort hängen mir beide freudestrahlend am Gürtel:
„Yeah! We go to the beach!!“
Also packe ich beide wieder in den Wagen und wir fahren zur Waikiki Beach. Vor den Wellen haben sie großen Respekt, aber ich kann sie den ganzen Nachmittag mit Strandspielen beschäftigen. Zum Abschluss nehmen wir noch einen kleinen Imbiss am Strand ein, bevor wir nachhause fahren. Dort erobern sie sofort das große Bett im Schlafzimmer.
Ich ermahne sie, zuerst noch ins Bad zu kommen und sich die Zähne zu putzen. Dabei gebe ich ihnen ein Vorbild und mache es ihnen gleich. Nachdem sie sich für die Nacht umgezogen haben und im Bett liegen, nehme ich ein Kinderbuch, das von einem fernen Prinzen mit Namen Siddharta Gautama erzählt. Ich erkläre ihnen mit einfachen Worten das Umfeld, in der die Geschichte spielt und beginne zu lesen. Darüber sind die Mädchen bald eingeschlafen.
Anschließend baue ich die Couch im Livingroom zum Bett um und bin auch bald eingeschlafen. Die nächsten Tage verlaufen ähnlich. In den Morgenstunden arbeite ich am Computer. Während die Mädchen Filme schauen, bespreche ich mich mit Mitarbeitern der Bank, die Yong Tais Erbe verwalten. An den Nachmittagen spiele ich mit den Mädchen am Strand und nachdem sie ausgepowert sind, lese ich ihnen aus dem Buch über Buddha kindgerechte Geschichten vor, bis sie eingeschlafen sind.
Dann neigt sich die Woche ihrem Ende zu, in der Anne und Andrea zur Probe bei mir wohnen. Ich muss sie wieder zum Kinderheim zurückbringen und dort die Adoption in die Wege leiten. Am letzten Tag fahren wir nachmittags zu einem Indoor-Playground ‚Funwourld‘. Dort gibt es ein dreidimensionales Labyrinth aus einem Klettergerüst und verschiedenen gewundenen Röhren. Das alles ist über einem riesigen Kissen mit Gummihaut errichtet.
Wir Erwachsene haben dort keinen Zutritt. Also habe ich mich an einen der Tische daneben gesetzt, drei Gläser Saft bestellt und versuche den Mädchen mit den Blicken zu folgen. Immer wieder entschwinden sie meinen Blicken. Dann sehe ich sie wieder. Sie winken mir kurz zu und sind dann wieder in einer der Röhren verschwunden.
Am nächsten Morgen fahren wir wieder ins Kinderheim zurück. Wir gehen gleich ins Büro.
„Ah, Mister Mann, da sind sie ja!“ begrüßt mich die Angestellte und fragt die Mädchen:
„Hi, wie hat es euch denn gefallen bei Mister Mann?“
Andrea ist wieder die Erste, die antwortet.
„He is a good man! We have a room for our own. He read fearys in the evening!“
Anschließend erhebt sie sich, kommt hinter ihrem Schreibtisch hervor und sagt zu mir:
„Wir sollten zur Schwester Oberin gehen. Sie erledigt das Weitere. Sie sind sich sicher, dass sie auf lange Sicht mit Anne und Andrea klarkommen?“
Ich bestätige ihr das. Man spürt, dass die Angestellte sehr aufgeregt ist. Sie taxiert mich und die Mädchen auf dem Weg zum Büro der Oberin mehrfach verstohlen mit großen Augen. Anscheinend vergleicht sie dabei die früheren erfolglosen Adoptionsversuche mit unserem heutigen Auftreten. Anne geht diszipliniert an meiner Hand, während Andrea an meiner rechten Seite neben dem Koffer hergeht, den ich trotz allem mit zurückgenommen habe.
Als wir das Büro der Schwester Oberin in solch trauter Eintracht betreten, fragt sie, erwartungsvoll lächelnd:
„Hallo, Mister Mann! Und? Wie war die Woche mit den Wildfängen?“
Ich muss lachen.
„Absolut harmonisch, Schwester Mary! Nur auf der Fahrt hierher waren sie still… Haben sie die Adoptionspapiere bereit?“
Die Hände der Schwester zittern leicht, als sie in eine Schreibtischschublade greift. Sie holt Formulare daraus hervor und füllt sie mit meiner Hilfe aus. Die Mädchen sitzen derweil ruhig auf zwei Stühlen und beobachten genau, was wir tun. Schließlich sind wir fertig. Schwester Mary hat zwischendurch immer wieder zu den Mädchen hingeschaut und dabei unmerklich mit dem Kopf geschüttelt. Sie sagt nun, dass sie die Formulare an die staatlichen Stellen weitergibt und ich abschließend von dort schriftlich informiert werde.
Als wir uns erheben und zum Abschied die Hand schütteln, rutschen die Mädchen von ihren Stühlen und kommen auf mich zugelaufen.
„Daddy, jetzt fahren wir aber in den Tierpark!“ erinnert mich Andrea an mein Versprechen von heute Morgen, während Anne sich an mich drückt.
Ich fahre Andrea zart über ihren Kopf und nehme Anne auf den Arm. Dann verlassen wir das Kinderheim. Ich lächele glücklich. Unser jetziges Auftreten und das bisherige Gebaren der Zwillinge verursachen bestimmt eine Menge Gesprächsstoff unter dem Personal des Heims.
Wie vereinbart, lenke ich den Wagen vom Kinderheim zum Zoo. Der Hololulu Zoo befindet sich im Kapiolani Park zwischen Waikiki Beach und Diamond Head. Der Eintritt ist nicht teuer und für den Parkplatz werden nur geringe Gebühren pro Stunde erhoben.
Nachdem ich den Wagen abgestellt habe, gehen wir zuerst etwas essen, bevor wir den Zoo betreten. Am Eingang löse ich dann die Tickets für uns drei. Farbenprächtige Flamingos heißen uns willkommen, sobald wir das Gelände des Zoos betreten. Ganz in der Nähe stelleneine Unzahl weiterer tropischer Vogelarten ihr leuchtendes Gefieder zur Schau.
Ein Stück weiter begegnen wir Reptilien wie Komodowarane, Krokodile und Leguane. Die Zwillinge haben große Augen, sie sind sehr beeindruckt. Aber weiter geht’s. Danach können wir Giraffen, Erdmännchen, Geparden und Erdferkeln einen Besuch abstatten. Überall bleiben die Mädchen stehen, schauen sich alles genau an und zeigen mir, wie beeindruckt sie sind.
Nacheinander spazieren wir vom Tropical Forest -Tropenwald-, zu den Pacific Islands -Pazifik-Inseln- und schließlich zur African Savannah -afrikanische Savanne-. Die Gehege der insgesamt 1200 Tiere sind ihren natürlichen Lebensräumen so genau wie möglich nachempfunden worden. Auch dieses Umfeld beeindruckt Anne und Andrea stark. In den Zoo Gardens, dem angeschlossenen botanischen Garten, können sie die einheimische Flora und Fauna von Hawaii bewundern.
Als wir in der Mitte des Zoos angekommen sind, sind die Beiden kaum noch zu halten. Dort befindet sich der beliebte ‚Keiki Zoo‘, der Kinderzoo. Viele Kinder wuseln hier herum und freunden sich mit verschiedenen Tieren an, darunter Hängebauchschweine, Schildkröten und Lamas. In der Nähe befinden sich ein Spielplatz und das stets beliebte Tigergehege.
Hier stelle ich fest, dass der Zoo das Mitbringen eigener Speisen und alkoholfreier Getränke erlaubt. Es gibt hier auch einen ‚Kapahulu Market‘, auf dem verschiedene Lunch-Portionen für jeden Geschmack angeboten werden.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Sa Jul 04, 2020 8:58 am

Ich kaufe den Mädchen und mir je ein Getränk und stelle fest, dass wir es uns während der Dauer unseres Besuchs kostenlos nachfüllen können.
Als wir den Zoo verlassen wird es schon dunkel. Zuhause angekommen, können die Mädchen noch nicht schlafen, so aufgekratzt sind sie. Ich setze mich also neben ihr Bett und lasse sie erzählen bis sie müde werden.
Als meine finanziellen Angelegenheiten soweit geregelt sind, dass Yong Tais Vermögen selbst unter Berücksichtigung der Geldentwertung in 17 bis 20 Jahren doppelt so viel wert sein wird, buche ich Flugtickets für uns über San Franzisko und New York nach Frankfurt.
Ich will Lama Rinpoche, meinen Mentor aufsuchen und mit ihm über Anne und Andreas Zukunft reden. Der Khenchen Lama in Deutschland macht mich auf das Kloster der Sakya-Schule im Elsaß aufmerksam. Das ist nun keine 10.000 Kilometer entfernt, wie das Kloster, indem Lama Rinpoche ausgebildet worden ist.
Die dortige Klosterschule erscheint mir für die Mädchen geeignet. Nach der Schule können sie in der Umgebung des deutschen Klosters ihre Ausbildung machen. So brauchen wir keine Weltreisen zu unternehmen. Ich reise also mit den Zwillingen nach Weiterswiller, etwa fünfzig Kilometer von Straßburg entfernt.
Man begegnet mir mit Wohlwollen, so dass ich meine Mädchen dort auf der Klosterschule anmelde und mich in den Klosterbetrieb integriere. Ich stelle meinen Mitbrüdern mein berufliches Fachwissen in den Beratungen zur Verfügung.
Bevor wir nach Straßburg weiterreisen, weiht mich seine Heiligkeit, der Khenchen Lama des deutschen Klosters, zum Gelong -Mönch-. Inzwischen bin ich 34 Jahre alt. Beim Schulabschluss der Mädchen werde ich also 44 Jahre alt sein. Ob ich es in dieser Zeit zum Lama -spirituellen Lehrer- schaffe, weiß der Himmel…

*

Unser neuer Daddy hat mit uns Hawaii, unsere bisherige Heimat, verlassen und fliegt mit uns über San Franzisko in ein fernes Land, das er Deutschland nennt und wo man eine andere Sprache spricht. Nach einem ganzen Tag im Flugzeug landen wir endlich dort.
Daddy fährt mit uns in einem Zug und anschließend in einem Bus zu einem kleinen Ort mit alten Häusern, wie ich sie in dem Märchenbuch gesehen habe, aus dem Schwester Betty uns manchmal vorgelesen hat. Dort übernachten wir in einem Zimmer über einem Pub.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück fragt Daddy nach der Telefonnummer für ein Taxi. Danach spazieren wir durch das Dorf und schauen uns alles an. In der Nähe der Kirche gibt es einen Spielplatz. Ich schaue zu Daddy auf. Er lächelt und nickt. Also nehme ich Anne an die Hand. Zusammen laufen wir zu den Spielgeräten und toben eine Weile darauf herum. Daddy setzt sich auf die Bank am Rand des Platzes und schaut uns lächelnd zu.
Nach einer ungewissen Zeit bin ich nur noch alleine auf der Turnstange. Daran kopfüber herunterhängend, sehe ich Anne neben Daddy sitzen. Sie lehnt sich an ihn und schaut meinem Treiben zu. Bald darauf habe auch ich die Lust am Herumtoben verloren und laufe zu den Beiden.
„Kann es weitergehen?“ fragt Daddy nun und rückt meine Kleidung zurecht.
Ich nicke. Anne zieht Daddy am Ärmel und sagt:
„Ich habe Hunger!“
Wir stehen auf und Daddy geht mit uns zum Pub zurück. Dort fragt er die Frau etwas in der fremden Sprache. Die Frau nickt lächelnd und schaut uns an. Daddy führt uns zu einem Tisch. Wir setzen uns und bald bringt uns die Frau je einen Hamburger und Fritten, während sie Daddy einen Teller mit Kartoffeln und Fleisch in Soße vorsetzt. Dazu erhält Daddy ein Schälchen mit Salat. Daddy löst eine Schnur am Fleisch und wickelt sie ab. Anne macht große Augen und ich frage:
„Warum machst du das, Daddy?“
„Nun, ohne die Schnur hätte das Fleisch in der Pfanne sicher nicht die Form behalten,“ erklärt Daddy. „Nun iss deinen Teller leer! Dann geht es weiter!“
Nach dem Essen bestellt Daddy telefonisch ein Auto. Ich bin überrascht als es eintrifft, denn ich habe mir ein YellowCab vorgestellt. Hier haben diese Autos eine Eierschalen-Farbe, erklärt Papa. Der Fahrer bringt uns und die Koffer nach einer kurzen Fahrt zu einem großen Parkplatz, hinter dem ein Restaurant liegt mit vielen Fenstern in den Stockwerken darüber. Rechts und links davon sehen wir viele Wiesen mit einzelnen Baumgruppen. Auf diesen Wiesen weiden Tiere.
Ich frage ihn:
„Dürfen wir herumlaufen, Daddy?“
Daddy lächelt und antwortet:
„Eingeschränkt ja! Behaltet mich beim Herumlaufen immer im Auge! Der Blickkontakt darf nie abreißen. Ihr kennt euch hier ja nicht aus! Und passt auf die Autos auf!“
Ich lächele froh und fordere Anne auf, mitzukommen. Wir laufen quer über eine Wiese auf die Weiden zu. Plötzlich ist Daddy verschwunden. Anne meint ängstlich:
„Andrea, komm! Wir suchen Daddy!“
Wir laufen zu dem großen Gebäude mit dem Restaurant und suchen den Eingang. Plötzlich ganz allein auf der Welt zu sein, macht auch mir Angst! Daddy sitzt mit den Koffern an seinen Seiten auf einem Sessel. Ein Stein fällt mir vom Herzen.
„Hallo, ihr Beiden!“ ruft er uns entgegen. „Kommt, wir beziehen unsere Zimmer!“
Er führt uns zu einem Aufzug. Damit fahren wir in die dritte Etage. Daddy sucht die Zimmernummern und öffnet zwei nebeneinander liegende Zimmer. Darin stehen je ein Etagenbett und ein Wandschrank. In Fensternähe gibt es eine Tür, durch die man ein kleines Bad betreten kann. Das Bad hat eine zweite Tür, durch die wir in das Zimmer nebenan kommen. Interessant finde ich den Schließmechanismus: Wenn jemand das Bad von innen abschließt, gehen beide Badtüren nicht auf. Eine schwache Lampe über der Tür zeigt dann an, dass das Bad besetzt ist. Daddy verbietet uns, abzuschließen. Stattdessen sollen wir rufen „Closed!“, wenn er zufällig die Tür öffnen sollte.
Danach leert er einen Teil der Koffer in den Wandschrank und legt die Koffer auf das obere ungenutzte Bett in seinem Zimmer. Ich darf meinen Drachen, den ich von Daddy im Kinderheim bekommen habe, auf das obere Bett in unserem Zimmer legen. Anne legt ihre Puppe in das Bett darunter. Anschließend zieht Daddy seinen dunklen Anzug aus und hängt ihn in den Schrank. Stattdessen holt er ein dunkelrotes Longshirt aus einem Koffer und zieht es über. Dann schlüpft er in eine graue Hose und Slipper. Darüber wirft er sich einen dunkelroten Mantel. Anschließend sagt er lächelnd:
„Kommt mit, Anne und Andrea. Wir machen gemeinsam einen kleinen Spaziergang. Nehmt ruhig eure Lieblingsspielzeuge mit!“
Aufgeregt laufen wir ins Zimmer nebenan. Ich klettere auf die Leiter und angele nach meinem Drachen. Anne nimmt ihre Puppe auf den Arm. Wir verlassen das Haus durch den Hinterausgang. Staunend sehe ich ein großes Gebäude vor mir, zu dem ein Sandweg und eine breite Treppe hinaufführen. Während das Motel hinter uns außen sandfarben erscheint, strahlt das Gebäude vor uns in hellem Weiß. Die Fensterreihe des oberen Stockwerkes verbindet ein erdbrauner Streifen und darüber hat es ein rotes Dach, während das Gebäude hinter uns oben flach abschließt.
Auf meine Frage hin: „Daddy, what’s that?“ erklärt er: „That’s a Monastery.“
Wir gehen an der Hand von Daddy auf das Gebäude zu und erklimmen die Treppe. Oben gibt es zwei Doppeltüren, von denen Daddy die Rechte öffnet und wartet, bis wir das Gebäude betreten haben.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1So Jul 05, 2020 9:19 am

Die Einrichtung der Eingangshalle ist mir total fremd. Ich muss die neuen Eindrücke erst einmal aufnehmen und verarbeiten. Jetzt verstehe ich irgendwie, warum Daddy die Kleidung gewechselt hat. Er wirkt jetzt, als passe er in dieser Aufmachung hierher. An den Wänden rechts und links und auch an der gegenüberliegenden Wand sind senkrecht stehende Rollen angebracht. Sie sind braun und mit fremden Zeichen bemalt.
Anne fängt sich als Erste. Sie fragt Daddy:
„Daddy, may I drive the rolls?“
„Yeah,“ antwortet Daddy. „But only to he right!“
Ich frage Daddy zurückhaltend, während Anne von einer zur anderen Rolle läuft und sie anstößt:
„What does it mean, Daddy?“
„Auf den Zylindern, man nennt sie Gebetsmühlen, stehen Gebete. Wenn man sie dreht, trägt die Luft sie mit sich fort. Mit Glück wird das eine oder andere Gebet erhört,“ erklärt er mir.
Bevor ich eine weitere Frage stellen kann, kommt ein Mann in der gleichen Kleidung wie Daddy auf uns zu. Einem Impuls folgend verstecke ich mich hinter Daddy und schaue neugierig, was passiert. Der Mann begrüßt ihn herzlich und zeigt mit der Hand auf eine Treppe. Daddy schaut nach mir und ruft Anne herbei. Zusammen folgen wir dem Mann die Treppe hinauf und durch die Gänge. Unterwegs frage ich:
„Daddy, who’s that man?“
„He’s a monk!“ erklärt mir Daddy.
Ich runzele die Stirn, schaue zu Daddy hoch und frage nun:
„Are you a monk, too?“
Daddy lächelt fröhlich und meint:
„May be soon, Andrea…“
Wir betreten zusammen einen Raum mit vielen Büchern und einem Schreibtisch. Hinter einem Raumteiler aus Balken kann ich eine Couch und einen niedrigen Tisch erkennen. Ein Mann in ähnlicher Kleidung sitzt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden und schaut uns entgegen. Das Longshirt dieses Mannes hat eine mattgelbe Farbe. Unser Begleiter lässt uns allein und Daddy sagt:
„Sit down, quiet, please.“
Er selbst setzt sich in der gleichen Art wie der Mann nieder, an den niedrigen Tisch. Anne setzt sich zu Daddy auf den Boden, während ich die Couch bequemer finde. Nun faltet Daddy die Hände und neigt seinen Kopf, dann reden beide Männer in der fremden Sprache miteinander. Der Mann in dem gelben Long-shirt schaut uns zwischendurch immer wieder einmal an, auch mein Drachen scheint ihn zu interessieren.
Eine ganze Weile später stehen Daddy und der Mann auf. Daddy sagt zu uns:
„Wir bringen euch eben zu den Klosterschülerinnen zum Abendessen. Ich gehe mit Lama Rinpoche zum Abt des Klosters, um dort mein Abendessen einzunehmen. Ich muss auch noch etwas wichtiges mit Seiner Heiligkeit besprechen. Danach hole ich euch ab und wir gehen zum Schlafen in unsere Zimmer.“
„Daddy? Will you read a story before sleeping?“ frage ich.
„Yes, I will!“ verspricht er mir.
Ich umarme ihn und wir folgen Daddy und dem Mönch zum Speisesaal. Dort finden wir schon junge Frauen und ein paar Ältere vor. Wir werden freundlich aufgenommen. Einige können sich mit uns auf Englisch unterhalten. Daddy und der Mönch sind inzwischen weitergegangen.

*

Nach dem Essen bleiben Lama Rinpoche und ich, der Schüler Noah Mann, beim Khenchen Lama sitzen. Ich berichte Seiner Heiligkeit von den letzten Ereignissen auf Hawaii und frage:
„Ich möchte die Mädchen einerseits mit der asiatischen Lebensweise vertraut machen und sie eine Klosterschule besuchen lassen. Dazu, denke ich, ist das Kloster nahe Katmandu sehr geeignet. Was haltet Ihr davon?“
„Du sagst, du erkennst in Anne deine verstorbene Frau Li Yong Tai wieder… und Andrea müsste demnach die Seele deiner ungeborenen Tochter beherbergen…“
„Ja, Euer Heiligkeit. Obwohl gleichaussehend, kann man beide leicht auseinan-der halten. Anne ist anlehnungsbedürftig, zurückhaltend, trotzdem neugierig. Ihr erster Griff unter all den Spielsachen galt Yong Tais Lieblingspuppe, die sie seitdem nicht mehr aus den Augen lässt.
Andrea ist immer zu irgendwelchen Streichen aufgelegt und zieht Anne oft mit. Ihr erster Griff galt dem Stoffdrachen, den ich vor langer Zeit von meinem Vater in Hongkong geschenkt bekam. Ich habe ihn Yong Tai damals beim Abschied auf dem Flughafen von Honolulu zur Erinnerung geschenkt. Andrea hat viel von meinem Charakter…“
Seine Heiligkeit nickt. Er meint:
„Das Kloster nahe Katmandu, wo Lama Rinpoche seine Ausbildung begonnen hat, ist weit entfernt. Hast du schon einmal etwas über die Sakya-Schule gehört?“
„Ja, Euer Heiligkeit,“ antworte ich, etwas irritiert. „Im tibetischen Buddhismus gibt es vier Schulen. Eine davon ist Sakya. Anders als in den anderen Schulen, bei denen die Nangwa -Reinkarnation- des vorherigen Trülku -Oberhauptes- gesucht wird, wird dort seit der Gründung vor 900 Jahren der erstgeborene Sohn des bisherigen Trülku sein Nachfolger.“
„Das heißt also, in der Schule Sakya wird nicht so viel Wert auf die Askese gelegt. Sollte in einem Gelong die Liebe zu einer weiblichen Person in seiner Nähe entfacht werden, heiraten sie und zeugen Kinder. Die Tugenden des Mönchtums sind damit natürlich nicht außer Kraft gesetzt! Die Tugend des Mitgefühls gegenüber allen Lebewesen wurde damit ausgeweitet…
Warum rede ich davon? Ich kenne deinen Lebensweg, mein Bruder, und sehe Parallelen bei der Sakya-Schule. Nun gibt es in wenigen hundert Kilometern eine Sakya-Schule. Sie liegt im Elsaß, nur fünfzig Kilometer von Straßburg entfernt. Dort bist du mit den Zwillingen am besten aufgehoben.
Wenn du magst, nehme ich Kontakt dorthin auf.“
Ich verbeuge mich tief vor dem Khenchen Lama und bestätige, dass die Zwillinge dort am besten aufgehoben wären. Danach erhebe ich mich und bewege mich langsam rückwärts zur Tür. Lama Rinpoche und ich verlassen den Thronsaal. Draußen fragt mein Tsopo -Meister- mich:
„Habt ihr schon eine Unterkunft, Noah?“
„Ja,“ bestätige ich. „Ich habe zwei Zimmer in der Raststätte draußen gemietet.“
Er nickt und antwortet:
„Das wird das Beste für die Mädchen sein… Sie erst langsam daran gewöhnen, dass ihr Vater ein Mönch ist.“
Ich schaue Lama Rinpoche prüfend an. Die Weihe zum Gelong -Mönch- fehlt mir noch. Bisher habe ich den Status eines Klosterschülers inne. Lama Rinpoche hält meinem Blick stand und zeigt ein feines Lächeln.
„Kommt Zeit, kommt Rat, Noah!“ meint er nur.
Wir gehen zu den Klosterschülerinnen zurück. Der Speisesaal ist leer, aber eine Gelongma -Nonne- weiß, wo sich meine beiden Mädchen aufhalten. Im Wohntrakt finden wir die Mädchen, wie sie von Hawaii schwärmen. Alle Klosterschülerinnen haben in der Zeit, in der sie die deutschen Regelschulen besucht haben, Englisch gelernt. Nur bei einigen Ausdrücken hapert die Verständigung, aber darüber finden sie schnell hinweg. Während ich am Eingang wartend stehenbleibe, geht Lama Rinpoche weiter zu seinem Zimmer.
Nach einigen Minuten sieht mich eine Klosterschülerin im Eingang des Zimmers stehen. Sie macht die Mädchen auf mich aufmerksam. Ich hebe abwehrend die Hand und sage:
„Lasst euch nicht stören! Ich warte bis ihr alles über Hawaii in Erfahrung gebracht habt.“
Damit betrete ich das Zimmer, mache die Tür frei und setze ich mich im Schneidersitz innen neben den Eingang. Nun dauert es aber nicht mehr lange bis Anne auf mich zukommt und „I love you, Dad“ flüstert. Ich habe die Augen geschlossen gehabt und zu meditieren begonnen.
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BeitragThema: Re: Yong Tai Foundation   Yong Tai Foundation Icon_minitime1Mo Jul 06, 2020 9:15 am

Seit die Mädchen bei mir sind, habe ich keine Visionen mehr. Dass Anne in diesem Moment gefühlmäßig auf mich zukommt, ist für mich ein weiteres Indiz, dass Yong Tai in Anne aufgegangen sein muss. Ich öffne die Augen und drücke das Mädchen glücklich lächelnd an mich. Dann erhebe ich mich und entscheide:
„Kommt, Anne und Andrea. Wir wollen allmählich schlafen gehen. Auch die Schülerinnen brauchen Ruhe. Wir kommen ja in den nächsten Tagen immer wieder her!“
Als es dunkel wird und die Mädchen sich für die Nacht zurecht gemacht haben, setze ich mich vor ihr Etagenbett und beginne, ihnen vorzulesen. Dazu dürfen die Mädchen ihre Kopfkissen neben mich legen und sich, an mich gelehnt, daraufsetzen. So können sie die Bilder im Buch sehen, während ich lese. Bald merke ich, dass es sie anstrengt, die Augen offen zu halten. Ich klappe das Buch zu, und sage, dass ich Morgen dort weiterlese.
Anschließend helfe ich den Mädchen, die Kopfkissen wieder zurück zu legen und decke sie zu. Nach einem Gute-Nacht-Kuss auf die Wange gehe auch ich in mein Zimmer und bin bald eingeschlafen.
In den nächsten Tagen mache ich vormittags mit den Mädchen Spaziergänge in die Umgebung des Klosters. Vereinzelt treffen wir dabei Radfahrer und auch Reiter, die freundlich grüßen. Interessant finden die Mädchen das Melken der Ziegen. Die Gelong, die sich darum kümmern, erklären es ihnen lächelnd und lassen sie es auch versuchen. Die vereinzelt vorbeikommenden Pferde, lassen die Mädchen zurückweichen. Respektvoll verstecken sie sich hinter mir.
Nachmittags gebe ich die Mädchen bei den Klosterschülerinnen ab, die abwechselnd dafür von der Arbeit an den Nähmaschinen freigestellt worden sind. Danach besuche ich Lama Rinpoche. Wir reden viel miteinander und er prüft meine Kenntnisse in Kungfu.
„Gib den Mädchen weiter, was du gelernt hast,“ rät mir mein Tsopo -Meister-. „Nicht in Vorträgen und langen Rezitationen, sondern durch praktisches Vorleben. Zeige ihnen ihren Platz in der Gesellschaft, und dass Frauen auf ihre Art ebenso stark sind. Lasse sie bei Versagen in der Schule nicht verzweifeln! Ermuntere sie, aus ihren Fehlern zu lernen, und stütze sie!“
Ich nicke und nehme mir vor, dabei das Bild von Yong Tai vor Augen zu behalten: Eine Frau, die einerseits in ihrer Kultur verhaftet nach dem asiatischen Frauenideal gestrebt hat, andererseits aber auch eine taffe Geschäftsfrau gewesen ist.
Bei unseren Spaziergängen in der Natur, vorbei an den Weiden, ist es zumeist Andrea, die das Wort führt, die mir ‚Löcher in den Bauch‘ fragt. Eine dieser Fragen ist es zum Beispiel gewesen:
„Papa, wozu haben wir ein Gewissen?“
Ich habe kurz überlegt und ihr geantwortet, während Anne wie immer aufmerksam zuhört:
„Jeder Mensch hat ein Gewissen, dass ihm den Unterschied zwischen Gut und Böse, Yin und Yang, erkennen lässt. Wenn du zum Beispiel lügst, hast du ein schlechtes Gewissen. Es sagt dir, dass das Lügen falsch ist. Ganz kleine Kinder müssen erst noch lernen, den Unterschied zu erkennen, und warum ‚Böse sein‘ so schlimm ist.“
Aber auch Beobachtungen in der Natur muss ich erklären, wie zum Beispiel diese:
„Was ist das für eine glänzende Spur, die die Schnecke hinterlässt?“
„Es ist eine Schleimspur,“ erkläre ich. „Die Schnecke produziert den Schleim, um nicht direkt über die Erde kriechen zu müssen. Damit schützt sie sich also vor Verletzungen durch kleine Steinchen, oder ähnlichem.“
Fast eine Woche ist darüber vergangen, als Lama Rinpoche mich mit den Mädchen zum Khenchen Lama führt.
Am Eingang des Thronsaales gehe ich auf die Knie, hebe die gefalteten Hände und neige den Kopf. Ich schaue zu Boden und warte, dass Seine Heiligkeit seine Stimme erhebt. Anne macht mich nach, nur dass sie nur ein Knie beugt. Andrea an meiner anderen Seite schaut mit gerunzelter Stirn in die Runde und hebt nur kurz die gefalteten Hände an ihre Lippen.
„Kommt näher!“ fordert uns Seine Heiligkeit nach einigen Sekunden auf.
Ich erhebe mich und halte meine Hände im Rücken der Mädchen, so dass ich sie an den Thron Seiner Heiligkeit heranschiebe. Dieser blickt von Anne zu Andrea, um dann zu fragen:
„How do you like your Dad?“
„He’s a good man!“ platzt Andrea heraus. Anne neigt den Kopf ein wenig und ergänzt: „We love Dad!“
Ich muss mich schnäuzen. Tränen füllen meine Augen. Seine Heiligkeit nickt, schaut mich an und sagt:
„Du bist in Weiterswiller willkommen, Bruder! Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft! Wie sieht bisher deine Planung aus?“
„Meine Mädchen werden dort die Klosterschule besuchen. Vielleicht entwickeln sich Freundschaften unter den Schülerinnen und sie werden eingeladen in deren Familien die Ferien zu verbringen. Dabei lernen sie die Lebensart der Leute kennen und nehmen sie vielleicht zum Teil an.
Nach der Schule sollen sie hier in Deutschland studieren, um soziale Berufe ausüben zu dürfen. Danach gehen wir nach Hawaii zurück und reaktivieren Li Yong Tais Villa im Grünen. Sie soll ein Kinderheim für Straßenkinder werden, also für entwurzelte 5-16jährige etwa. Sie erhalten Unterricht und danach Bewerbungstraining.“
„Und was tust du dort?“ fragt er konkret.
„Nun, ich werde mein Finanzwissen anbieten, wo es gebraucht wird. Auf Hawaii werde ich in dieser Funktion sicher auch gebraucht,“ meine ich. „Die Villa, und damit das Kinderheim, bekommt als Dach eine Foundation, die Li Yong Tais Erbe verwaltet.“
Seine Heiligkeit nickt.
„Das ist ein guter Plan!“ sagt er.
Er schlägt den Gong an. Die Lamas dieses Klosters kommen herein und verteilen sich an den Wänden. Sie stimmen ein dumpf gesungenes Gebet an, begleitet von Trommel und Flötenmusik. Lama Rinpoche trägt die goldene Kanne mit geweihtem Wasser herein und ein weiterer Lama hat eine goldene Schale in der Hand.
Ich erinnere mich an Lama Rinpoches Prophezeiung vor einigen Tagen und bleibe auf den Knien, meine Mädchen im Arm haltend. Nun werden mir einige Tropfen des Wassers über die Stirn gegossen und mit der Schale wieder aufgefangen. Seine Heiligkeit beugt sich lächelnd vor und setzt mir einen Mönchshut auf.
„Sei gesegnet auf deinem weiteren Lebensweg, Gelong Noah!“ sagt er dabei.
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