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 Der Muffel und die Pflegerin

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BeitragThema: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Mi Jan 05, 2022 10:17 am

Wieder wache ich mitten in der Nacht wegen einem Alptraum auf. Ich habe den Moment der Euphorie in der Luft nacherlebt im Traum. Das Adrenalin ist durch meine Adern geschossen. Im nächsten Moment sehe ich mich in einem Bett liegen, angezogen mit diesem OP-Hemd. Bevor ich etwas mache, taucht das Gesicht einer strengen älteren Frau in Schwesternkleidung in meinem Blickfeld auf. Sie erklärt mir, dass ich einen Sportunfall erlitten habe und nun auf der Intensivstation einer Universitätsklinik liege.

Diese Szene verfolgt mich und lässt mich immer wieder nachts aufwachen. Meine Wirbelsäule ist seit dem Unfall angeknackst und hat mich in den Rollstuhl gezwungen. Meinen Berufswunsch kann ich nun vergessen und man hat mir geraten, die Frührente zu beantragen. Leider gibt es nur sehr wenig Geld. Deshalb habe ich mein Appartement aufgegeben und lebe wieder bei meinen Eltern.

Ich fühle mich nicht gut und kann schlecht mit meiner Situation umgehen. Warum musste das mir passieren? Bis zu dem Unfall habe ich mich jung, gesund und fit gefühlt. Meine Eltern haben mich auf der Intensivstation besucht, auf der ich zwei Wochen verbracht habe. Sie haben sorgenvolle Gesichter. Aus dem kurzen Gespräch kann ich entnehmen, dass sie Angst haben, ob ich für immer ein Pflegefall bleiben würde.

Man diagnostiziert eine inkomplette Querschnittslähmung. Ein Wirbel macht Probleme. Er quetscht die Nerven zum Becken und den Beinen ab. Ich kann schlecht mit der Situation umgehen. Ich bin verzweifelt. Mit der Zeit entwickele ich einen Hass auf meinen Körper, der zu nichts mehr nützlich scheint, sowie das Pflegebett und den Rollstuhl, die mir meine Hilflosigkeit vor Augen führen. Im Laufe der Behandlung steigt in mir Frust empor.

Nach den 14 Tagen auf der Intensivstation beginnt die stationäre Rehabilitation, oder das was die Mediziner so nennen. Wochenlang liege ich auf dem Rücken, wie eine umgestürzte Schildkröte. Ich werde von den Therapeuten bewegt. Ich erhalte Krafttraining für Schultern und Arme. Im Unterkörper bauen sich Muskeln ab.

Nur mit Papas Hilfe komme ich morgens aus dem Bett. Auf dem Toilettenstuhl schiebt er mich danach ins Badezimmer. Das erste Morgenritual ist das Öffnen meiner ‚Inkontinenzhose‘. Das und das Säubern meines Unterleibs übernimmt Mama.

Während ich in der Rehabilitation gewesen bin, haben meine Eltern unser Haus umbauen lassen. Das große Wohn- und Esszimmer haben sie geteilt. Der vordere Teil wird später mein Pflegezimmer. Durch eine breite Zwischentür kommt man in das verkleinerte Wohn- und Esszimmer. Das Gäste-WC haben die Bauarbeiter vergrößert, indem sie die Wand zur Garderobe entfernt und sie durch eine neue Wand zum Flur hin verschlossen haben. Das neue Wohn- und Esszimmer erhält eine Verbindung zur Küche. Es ist wegen des Durchgangs zur Terrasse ihr neues Wohnzimmer geworden.

Bald haben meine Eltern eine Agentur kontaktiert, die Pflegerinnen zur Unterstützung der häuslichen Pflege vermittelt. Der Grund ist sehr wahrscheinlich, dass ich auf ihre gut gemeinte Hilfe so mürrisch und unwirsch reagiere. Die professionellen Pflegerinnen sind damit vertraut und können damit umgehen, haben sie sich gedacht.

Diese Pflegerinnen halten es nicht lange in meiner Nähe aus. Ich reagiere aufbrausend, wenn etwas nicht sofort klappt und kommandiere sie herum, als wären es Dienstmädchen. Nachdem eine Handvoll Pflegerinnen gekündigt hat, trennt deren Agentur die Geschäftsbeziehung.

Meine Eltern reden mir nun ins Gewissen. Es entsteht ein Streit, bei dem Mama in Tränen ausbricht. Auf den Vorwurf meines Vaters hin „Schau, was du angerichtet hast!“, regt sich mein Gewissen. Ich versuche meinen Eltern die Pflege zu erleichtern, so gut es mir gelingt. Ich bin dadurch wieder mit mir selbst unzufrieden. Das spüren meine Eltern natürlich.

*

Mein Name ist Gabi Schneider. Angeregt durch das Lesen von Mangas und Animes wähle ich in der Oberstufe Japanisch zusätzlich als Fremdsprache. Nach der Schule wähle ich Kranken- und Altenpflege als Beruf und belege einen zweijährigen Kurs auf einer Pflegeschule.

Nachdem ich den Kurs bestanden habe, finanzieren mir meine Eltern ein Sabbatjahr im Ausland. Ich informiere mich, ob es auch staatliche Hilfen gibt und nehme die sich mir bietende Möglichkeit wahr. Am Abflugtag werde ich von meinen Eltern und Geschwistern verabschiedet. Ihre guten Wünsche begleiten mich auf dem langen Flug.

Die Maschine der ALL NIPPON AIRLINES fliegt ab Frankfurt am Main in 14 Stunden nonstop nach Kyoto. Wir landen auf dem International Airport Kansai außerhalb der alten Kaiserstadt. Von hier nehme ich den Flughafen-Expresszug zum Bahnhof Kyoto. Dort geht es mit der U-Bahn weiter zu meiner Gastfamilie.

Ich werde herzlich aufgenommen. Die Eheleute fragen mich, ob ich schon einen Job in der Stadt habe, denn das Leben in Japan wäre sehr teuer.

„Amari -Nicht wirklich-,“ verneine ich und wedele mit der rechten Hand vor meinem Oberkörper.

Dies ist in Japan die Verneinungsgeste. Ein hartes ‚NEIN‘ ist im Umgang untereinander in Japan verpönt, wie mein Japanisch-Lehrer uns in der Schule beigebracht hat.

Mein Gastvater nickt und nennt mir eine Adresse in der Stadt. Es ist das Juweliergeschäft eines Bekannten. Er will mit dem Inhaber ein paar Worte wechseln, dann soll ich mich dort vorstellen. Am Vormittag des nächsten Tages mache ich mich auf den Weg.

Dann stehe ich vor dem kleinen Laden mit Schmuck im Schaufenster. Entschlossen trete ich ein. Ein Mann in mittlerem Alter mit ein paar grauen Strähnen kommt auf mich zu.

„Irasshaimaseee -Willkommen-,“ sagt er lächelnd und verbeugt sich leicht. „Womit kann ich Ihnen dienen?“

Ich berichte ihm, dass ich nach meinem Japanisch-Kurs das Land gerne kennenlernen möchte. Mein Gastvater hätte mir den Rat gegeben, mir als Serusuuman -Verkäuferin- etwas hinzu zu verdienen, da das Leben in Japan sehr teuer sei. Er hätte mir diese Adresse genannt und versprochen, mit dem Geschäftsinhaber darüber zu reden.
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Fr Jan 07, 2022 10:37 am

Während ich rede, hat der Mann mehrfach genickt und mehrfach "Hai, hai -Ja, ja-" gesagt. Nun lächelt er mich an und fragt, ob ich schon einmal als Verkäuferin gearbeitet habe. Ich mache ein bedauerndes Gesicht und wedele mit der rechten Hand vor meinem Kinn.

"Okay," antwortet er und meint, ich solle erst einmal hereinkommen und Augen und Ohren offenhalten, um von ihm zu lernen. Zwischendurch lässt er mich einzelne Kunden bedienen und korrigiert mich, wenn wir wieder alleine sind. So lerne ich viel über den respektvollen Umgang mit Kunden.

Die Abende habe ich frei, soll aber meine Zeit so einrichten, dass ich morgens ausgeruht zur Arbeit erscheine und Engagement zeigen kann. Deshalb bin ich nach meinen Exkursionen spätestens gegen 22 Uhr in meinem Zimmer. Während meiner Ausflüge lerne ich eine Maiko kennen. Es ist eine Geisha in Ausbildung. Mit ihr führe ich lange Diskussionen über die Traditionen Japans und die Moderne, auch mit Blick auf die japanische Frau. Darüber freunden wir uns an und sie zeigt mir einige ihrer Fertigkeiten.

Bei diesen Gesprächen kommen wir durch einen Gedanken von mir auf das Thema 'Selbstverteidigung'. Sie ist der Meinung, dass Kenntnisse in Selbstverteidigung für junge Frauen wie mich gut wären. In Japan gäbe es immer noch eine Menge Machos, die sich für den Nabel der Welt halten. Also schaue ich mir die Schulen an und mit dem Rat meiner Freundin melde ich mich bei einer für einen Kurs in Selbstverteidigung an.

So ist mein Tag sehr durchgetaktet und das Ende des Sabbatjahres kommt mit Sieben-Meilen-Stiefeln näher. Zum Abschied laufen ein paar Tränen. Ich habe mir die Adressen von allen Kontakten geben lassen, um den Kontakt per Brief halten zu können. Das ist auch eine gute Übung für mich, die japanische Schrift nicht zu verlernen.

Zurück in Deutschland ziehe ich wieder bei meinen Eltern ein. Es gibt so viel zu erzählen. Nebenbei schaue ich im Internet, ob dort ein Stellenangebot mein Interesse weckt. Zwei Richtungen stehen mir zur Verfügung, bin ich überzeugt. Zum einen kann ich eine Pflegestelle annehmen. Oder aber, ich arbeite als Übersetzerin.

Ich muss feststellen, dass es schwierig ist, eine freie Stelle für mich zu finden. Durch Zufall lese ich nach Wochen auf 'Markt.de' von einem Angebot für eine Pflegestelle in häuslicher Pflege. Eigentlich wollte ich lieber in einer Einrichtung arbeiten, als in einem Privathaushalt. Der Patient, heißt es in der Anzeige, hat einen schwierigen Charakter. Trotzdem rufe ich die Nummer an, um wenigstens keine Gelegenheit auszulassen.

Ein älteres Ehepaar ist am anderen Ende der Leitung. Sie erzählen mir eine traurige Geschichte. Ihr Sohn hat vor einigen Jahren einen Winterurlaub gebucht und hat einen Skiunfall gehabt. Er ist mit dem Hubschrauber in die nächste Universitätsklinik geflogen worden. Es folgen einige Monate Krankenhaus-Aufenthalt. In dieser Zeit haben die Leutchen ihr Haus behindertengerecht umgebaut, da abzusehen gewesen ist, dass ihr Sohn einen Rollstuhl brauchen wird.

Als ihr Sohn nachhause gekommen ist, ist er anfangs ein Häufchen Elend gewesen. Daraus hat sich ein regelrechter Griesgram entwickelt, dem niemand etwas recht machen kann. Sie haben sich an eine professionelle Agentur gewendet, die Pflegefachkräfte für die häusliche Pflege vermittelt. Aber ihr Sohn hat mit seiner Art eine Frau nach der anderen aus dem Haus geekelt. Sie sprechen mit einem hilflosen, verzweifelten Ton. Also sage ich zu, dass ich mir den jungen Mann gerne einmal anschauen möchte.

Ich erhalte die Adresse, aber da kommt mir eine Idee.

"Im Zentrum ihrer Stadt gibt es doch sicher eine Fußgängerzone mit Geschäften, Restaurants, Cafés und bestimmt auch mindestens einem Kino?" frage ich.

"Jaaa," dehnt der Vater, der gerade das Telefon in der Hand hat, um mir eine Wegbeschreibung zu geben.

"Auch der Bahnhof ihrer Stadt liegt in der Nähe?" hake ich weiter nach.

"Das ist richtig," bestätigt er mir.

"Wäre es also möglich, dass ich Sie noch einmal anrufe, wenn ich eine Zugverbindung habe? Ich würde mit der Bahn zu einem Erstgespräch in ihre Stadt kommen. Sie kommen mit ihrem Sohn zu einem Café ihrer Wahl, das rollstuhlgerecht ist, und beschreiben mir vorab den Weg dorthin. Wir haben ein Gespräch in gelöster Atmosphäre und sehen dann weiter."

"Okay, wenn es Ihnen so besser gefällt..." gibt der ältere Mann zurück.

*

Am vereinbarten Tag komme ich mit dem Zug in die Stadt und schaue mich auf dem Bahnhofsvorplatz um. Im Bahnhof hat man mir den Weg zum Tourist-Office beschrieben. Dort lasse ich mir eine Karte der Innenstadt geben und schaue im Internet-Auftritt des Kinos, welche Filme heute dort laufen. Als ich 'P.S. Ich liebe dich' lese, merke ich auf.

'Das ist ein Geschenk des Himmels!' denke ich mir. 'Der Film nach dem Roman der irischen Schriftstellerin Cecilia Ahern könnte so etwas wie ein Türöffner sein.'

Nun gehe ich langsam in die Fußgängerzone hinein, auf der Suche nach dem Café auf der Ecke der Fußgängerzone zu einer schmalen Gasse. Ich habe sicher die Fußgängerzone zur Hälfte durchquert, als ich das Café entdecke. Ich trete ein und schaue mich um. Nur wenige Gäste sitzen an den Tischen. Ich gehe auf einen freien Tisch zu, den man vom Eingang leicht mit einem Rollstuhl erreichen kann.
Etwa zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit betritt ein älteres Ehepaar das Café. Der Mann schiebt einen jungen Mann mit mürrischem Gesicht herein, während die Frau ihm die Tür aufhält. Ich habe schon einen Cappuccino vor mir stehen, erhebe mich nun und mache ein paar Schritte auf die Gruppe zu.

"Herr und Frau Meyer?" frage ich.
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1So Jan 09, 2022 10:36 am

Als der Mann nickt, stelle ich mich vor:
„Hallo, ich bin Gabi Schneider. Wir hatten miteinander telefoniert. Mögen Sie zu meinem Tisch kommen, oder sagt Ihnen ein anderer eher zu?“

Wir lächeln uns gegenseitig an und geben uns die Hand. Der ältere Mann schüttelt den Kopf und meint:

„Nein, nein, ist schon okay.“

Er schiebt den Rollstuhl mit dem jungen Mann, der vielleicht fünf Jahre älter ist als ich, zu dem Tisch und ich schiebe die Stühle etwas auseinander, damit der Rollstuhl dazwischen passt.

Der junge Mann im Rollstuhl schaut neugierig. Seine mürrische Miene vom Eingang ist verflogen. Also strecke ich auch ihm meine Hand hin und stelle mich ihm vor.

„Hallo, mein Name ist Gabi Schneider.“

„Hi, ich bin der Hannes.“

Wir setzen uns.

„Guten Tag, Hannes. Wie geht es Ihnen heute?“

In diesem Augenblick tritt die Kellnerin hinzu und fragt nach unseren Wünschen. Die beiden alten Herrschaften wählen ebenfalls je einen Cappuccino, während Hannes einen Kaffee und einen Marmorkuchen bestellt. Bevor die Kellnerin mit der Bestellung zurück ist, haut er jedoch auf den Tisch und beschwert sich über den schleppenden Service. Urplötzlich hat sein Mienenspiel gewechselt.

Frau Meyer entschuldigt sich deshalb bei der Kellnerin, als sie sich mit der Bestellung nähert. Nachdem die Kellnerin serviert und ‚Guten Appetit‘ gewünscht hat, schüttet Hannes Mutter dessen Kaffee in eine mitgebrachte Schnabeltasse. Sie lässt ihn daran nippen und führt eine Kuchengabel nach der anderen mit Kuchen an seinen Mund. Ihr Sohn scheint die Fürsorge zu genießen. Er lächelt mich zwischendurch immer wieder an.

‚Hm,‘ denke ich mir. ‚Ist der Gefühlsausbruch durch eine Schädigung des Gehirns beim Unfall bedingt oder terrorisiert er sein Umfeld absichtlich?‘

Ich schaue mir das eine Weile an, während ich mit den Eltern über meinen möglichen zukünftigen Auftrag rede. Dabei zeige ich ihnen mein Zeugnis und erwähne, dass ich vor kurzem in Japan gewesen bin und dort bei einer Gastfamilie gewohnt habe.

„Interessant,“ meint Herr Meyer. „Sie kommen aus einer fremden Stadt. Haben Sie sich schon überlegt, wo Sie hier wohnen wollen, wenn Sie der Auftrag interessiert?“

Die Mutter lächelt mich an und meint:
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie in unserem Gästezimmer übernachten. Sie brauchen nichts im Haushalt zu tun. Einzig die Pflege unseres Sohnes wäre Ihre Aufgabe!“

Ich lächele zurück und bestätige:
„Ich nehme das Angebot gerne an, wenn Ihr Sohn mich als seine Pflegerin akzeptiert.“

Nun wende ich mich Hannes zu und spreche ihn an:
„Das muss für Sie ziemlich frustrierend sein, nicht mehr so richtig am Leben teilnehmen zu können. Haben Sie sich schon einmal die Freude gemacht, ein Kino zu besuchen?“

„Was soll ich denn da?“ fragt er verärgert. „Da sieht man doch nur, wie Supermann die Welt rettet oder ähnliches! Schauen Sie mich doch an. Zu was bin ich denn noch zu gebrauchen?“

„Kein Mensch ist nutzlos, Hannes! Darf ich Sie ins Kino einladen? Es ist nicht weit entfernt.“

Er guckt erstaunt. Seine Eltern schauen sich an. Der Vater zuckt die Schultern. Wir zahlen und verlassen das Café. Bis zum Kino brauchen wir nur ein kurzes Stück zu gehen. Ich halte den Dreien das Kinoportal auf, bis auch der Rollstuhl im Foyer ist und gehe zur Kasse. Dort spreche ich eine der Kassiererinnen an:

„Sagen Sie, ist im Film nach dem Roman von Cecilia Ahern noch Platz?“

„Der Saal ist so gut wie ausverkauft!“

„Wir bräuchten nur drei Plätze, am besten direkt am Gang. Dort kann der junge Mann gerne im Rollstuhl sitzenbleiben. Wir machen also keine Umstände!“

Die Kassiererin schaut skeptisch, dann nickt sie und nennt den Preis. Der Vater zahlt und nimmt die Karten in Empfang. Danach wenden wir uns zum angegebenen Kinosaal und schieben den Rollstuhl ganz nach vorne im Gang, bis zu den ‚Rasiersitzen‘. Ich fordere die Eltern auf sich zu setzen und sie suchen sich freie Sitze in der Nähe, während ich mich auf den Sitz direkt neben den Rollstuhl setze. Anschließend drehe ich den Rollstuhl ein wenig, damit Hannes geradeaus schauend auf die Mitte der Leinwand blicken kann.

Nach den Werbeeinblendungen startet der Film. Wir sehen eine junge schwarz gekleidete Frau mit einem Kasten in der Hand die Tür ihrer Wohnung öffnen. Sie kommt von einer Beerdigung nachhause. Ihre Wohnung ist leer. Schnell wird klar, dass wir hier eine junge Witwe vor uns haben.

Der Film blendet um und zeigt nun ein junges Ehepaar, dass sich zankt und dennoch liebt. Der Mann erkrankt an Krebs und stirbt schließlich daran.

Nach der nächsten Blende sieht man die Frau, wie sie ihren Kummer in Alkohol ertränken will. Sie geht nicht mehr vor die Tür und scheint zu verwahrlosen. Ihre Freunde und ihre Mutter kommen nicht mehr zu ihrem Herzen durch. Ihr Charakter verhärtet.

Darüber vergehen vier Wochen. Plötzlich findet sie einen Brief im Briefkasten. Als Absender steht nur der Vorname ihres verstorbenen Mannes darauf. Sie reißt den Brief auf und liest liebevolle Worte, die so nur ihr verstorbener Mann geschrieben haben kann. Er gibt ihr eine Aufgabe, die sie aus dem Haus führt, um sich selbst etwas Gutes zu tun, die Anzeichen der Verwahrlosung hinter sich zu lassen. Der Brief endet mit ‚P.S. Ich liebe dich‘.

So geht das ein ganzes Jahr lang. Alle vier Wochen erhält sie einen Brief ihres verstorbenen Mannes mit einer Aufgabe, sich etwas Gutes zu tun, wie sich endlich eine Nachttischlampe zu kaufen. Oder in einer Karaoke-Bar auf die Bühne zu gehen und zu singen. Aufgaben, die sie wieder am Leben draußen teilhaben lässt.
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Di Jan 11, 2022 9:58 am

Die junge Frau durchlebt das Trauerjahr mit Hilfe ihres verstorbenen Mannes voller Erlebnisse und Überraschungen. Sie trauert und feiert. Sie weint und lacht. Sie entdeckt neue Freundschaft und Liebe.

Zum Schluss löst sich noch das Rätsel um die Briefe. Ihr verstorbener Mann hat sie in seinen letzten Lebenstagen geschrieben und ihrer Mutter in die Hand gedrückt, damit sie und ihre Freundinnen ihr die Briefe pünktlich im Abstand von vier Wochen in den Briefkasten werfen, wobei eine bestimmte Reihenfolge einzuhalten ist.

Als der Film zu Ende ist, schiebe ich Hannes aus dem Kinosaal. Draußen warten wir auf seine Eltern und verlassen gemeinsam das Kino. Hannes ist nun still und nachdenklich. Wir gehen eine Weile, bis der Vater sagt:

„Hier müssen wir abbiegen. Weiter hinten ist das Parkhaus, in dem wir stehen.“

Ich begleite die Leute noch bis zu ihrem Auto und helfe ihnen, Hannes ins Auto zu setzen und anzuschnallen. Bevor ich die Fondtür schließe, fragt der junge Mann:

„Könnten Sie sich vorstellen, meine Pflege zu übernehmen? Wenn Sie mich zuhause besuchen, würde ich Ihnen gerne meine Geschichte erzählen. Wenn Sie sie überhaupt hören mögen…“

Ich lächele ihn an und antworte:
„Lassen Sie uns nichts überstürzen, Herr Meyer. Ich komme Sie zum nächsten Termin zuhause besuchen. Dann würde ich gerne mit Ihnen einen Spaziergang machen, damit wir uns näher kennenlernen. Dabei höre ich auch gerne ihrer Geschichte zu!“

*

Am vereinbarten Termin lasse ich mich von einem Taxi zu der Adresse bringen. Ich klingele erwartungsvoll. Frau Meyer öffnet mir und begrüßt mich herzlich. Sie führt mich ins Wohnzimmer und meint:

„Nehmen Sie bitte Platz.“

Sie hat den Kaffeetisch gedeckt. Während sie Kuchen und Kaffee aus der Küche nebenan holt, höre ich Herr Meyer im Zimmer seines Sohnes. Er müht sich ab, Hannes aus dem Pflegebett auf den Rollstuhl zu hieven. Sofort erhebe ich mich wieder und gehe zu ihnen.

„Hallo Herr Meyer,“ grüße ich und frage: „Darf ich helfen?“

Ich löse die Bremsen des Rollstuhls und schiebe ihn ein wenig an eine günstigere Position. Der Vater des Patienten ist einen halben Schritt zurückgetreten, um meiner Aktion zuzuschauen. Nun spreche ich ihn an:

„Probieren Sie einmal, sich selbständig in den Rollstuhl zu setzen, Herr Meyer.“

Hannes schaut zweifelnd auf, also setze ich nach:
„Keine Angst, Herr Meyer. Ich bin ja dabei! Trauen Sie sich einfach mal.“

Nun setzt er eine Hand auf die Sitzfläche und stemmt sich hoch. Nachdem er wieder sitzt, ist er nur mit einer Gesäßbacke auf dem Stuhl. Er schaut mich zweifelnd an, also lächele ich ihm aufmunternd zu.

„Sehen Sie!“ kommentiere ich seine Aktion. „Jetzt noch einmal rutschen und sie sind vollständig auf dem Stuhl. Rutschen Sie dann noch gegen die Rückenlehne und sie sitzen vernünftig.“

Während er sich bemüht, beuge ich mich vor und setze seine Füße auf die Fußrasten. Danach erhebe ich mich wieder, lächele den Vater des Patienten an und arretiere das Seitenteil. Zu Hannes sage ich:

„Schauen Sie, Herr Meyer. Mit etwas gutem Willen und gesundem Selbstvertrauen sind Sie in der Lage, selbständig ihr Bett zu verlassen!“

Anschließend schiebe ich ihn nach nebenan an den Tisch. Der Vater geht vor und hält uns die Verbindungstür auf, wofür ich ihn dankbar anlächele. Danach setze ich mich zu den Leuten. Frau Meyer gießt meine Tasse voll und legt ein Stück Kuchen auf meinen Teller.

„Sie möchten also gerne die Stelle haben…“ stellt ihr Mann lächelnd fest.

Ich nicke und erkläre:
„Die Pflegekasse hat ja nun alle Unterlagen. Es dauert halt zumeist eine gewisse Zeit, bis ihr Antrag genehmigt ist. Unser Gespräch im Café habe ich zu Papier gebracht und einen sogenannten privatrechtlichen Vertrag erstellt. Darin ist mein Lohn aufgeführt, meine offiziellen Arbeitszeiten und die geldwerten Leistungen, so wie wir sie besprochen haben, also freie Kost und Logis und meine Freizeit. Ebenso steht darin, dass ich von Ihnen auch des Nachts hinzugerufen werden kann.
Lesen Sie ihn sich gerne durch und entscheiden Sie dann, ob Sie ihn unterschreiben mögen. Haben Sie Änderungswünsche, können wir gerne darüber reden.“

Herr Meyer erhebt sich und holt seine Lesebrille an den Tisch. Er liest den Vertragsentwurf und übergibt das Papier danach an seine Frau. Sie nickt und schaut ihren Mann an. Dieser nickt nun auch und steht noch einmal auf, um einen Kugelschreiber zu holen. Herr und Frau Meyer unterschreiben den Vertrag. Danach gibt Herr Meyer mir das Papier zurück. Ich nicke lächelnd und verspreche, das Papier zu kopieren und Ihnen das Original in den nächsten Tagen zuzusenden.

Ich vereinbare nun noch meinen Einzugstermin und wir besprechen einige Kleinigkeiten in diesem Zusammenhang. Dann erhebt sich Frau Meyer und bittet mich lächelnd, ihr zu folgen. Also stehe ich ebenfalls vom Tisch auf. Sie führt mich in die obere Etage und öffnet eine Zimmertür.

„Das ist unser Gästezimmer,“ bemerkt sie. „Früher hat unser Sohn hier sein Zimmer gehabt.“

Danach zeigt sie noch das Bad gleich nebenan. Das Gästezimmer ist voll möbliert. Es ist für den Anfang sicher ausreichend. Ich werde nach meinem Einzug mit ein paar Japan-Bildern eigene Akzente setzen, um mich heimisch zu fühlen. Danach gehen wir wieder hinunter ins Wohnzimmer. Hier spreche ich Hannes an:

„Sind Sie bereit für einen Spaziergang, Herr Meyer? Ich habe Ihnen ja versprochen, dass wir uns beim Wandern in ihrer Wohnumgebung näher kennenlernen würden.“
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Do Jan 13, 2022 9:34 am

Hannes nickt lächelnd, also ziehe ich den Rollstuhl vom Tisch weg und drehe ihn in Richtung Tür. Herr Meyer hat sich erhoben und hält uns die Tür zum Pflegezimmer auf. Er erklärt:

„Die Verbindungstür und die Tür von dort in den Flur sind verbreitert.“

Also nehme ich diesen Weg, um vor das Haus zu kommen. An der Haustür frage ich die Eltern:
„Möchten Sie mitkommen? Ein Spaziergang tut Ihnen sicher auch gut.“

Aber sie winken ab, also schiebe ich den Rollstuhl mit Hannes zum Bürgersteig und meine:
„Sie kennen sich hier besser aus als ich. Da wäre es gut, wenn Sie die Führung übernehmen! Zeigen Sie mir auf diese Art einfach, wo Gebäude liegen, die mit ihrem Lebenslauf in Verbindung stehen, wie Kindergarten, Schule und ähnliche, wenn sie zu Fuß zu erreichen sind.“

„Okay,“ antwortet er und zeigt nach rechts. „Dann müssen wir zuerst hier entlang.“

Wir sind vielleicht 50 Meter gegangen, als er nach links in eine Einmündung zeigt.

„Diese Straße hinein kommen wir zum Kindergarten, Kirche und Jugendheim. Wenn wir der Straße hier weiter geradeaus folgen, kommen wir zu unserer Grundschule. Um die weiterführenden Schulen und die Fachhochschule zu sehen, müssten wir den Bus nehmen.“

„Ah, okay,“ sage ich und schaue, ob die Straße frei ist.

Nachdem ein Auto vorbeigefahren ist, schiebe ich den Rollstuhl auf die Straße und gegenüber wieder auf den Bürgersteig. Wir gehen in die bezeichnete Straße hinein, an einer großen Zahl von Haustüren vorbei, bis wir ein weitläufiges Areal erreichen. Zwei doppelstöckige Flachdachbauten stehen hier, zwischen sich eine Kirche, deren Fassade aus vielen spitzen Beton-Dreiecken besteht. Diese Bauten sind offensichtlich jüngeren Datums als das Haus mit den vielen Türen an der Straße, das wir gerade passiert haben. Dennoch sieht man dem Beton an, dass die Gebäude auch schon einige Jahrzehnte stehen.

Hannes beginnt zu erzählen:
„Ich bin zwei Jahre hier in den Kindergarten gegangen und anschließend in die Grundschule. Zu ihr kommen wir, wenn wir hier die Straße überqueren und dort der Straße folgen. Nach der Grundschule habe ich in der Kirche meine Kommunion gefeiert. Zur Realschule muss man von zuhause aus schon den Bus nehmen. Dann folgen Berufskolleg und Fachhochschule.
Ich habe nach dem ersten Semester einen Winterurlaub über die Pfarrei gebucht. Wir waren ein Dutzend Gleichaltrige. Die Meisten sind Auszubildende gewesen.
Dort unten im Schwarzwald haben wir zuerst gelernt auf Skiern zu stehen und uns auf ebener Fläche mithilfe der Skistöcke voran zu schieben. Dann hat der Skilehrer uns unten am Ende eines flachen Hangs gezeigt, wie man eine Schräge seitwärts hinaufkommt. Nach ein paar Metern sollten wir uns drehen und die Skier wie einen Pflug anstellen. So sind wir den Hang heruntergerutscht. Nun sind wir den flachen Hang hinaufgezogen worden und sollten in Pflugkurve gebremst herunterfahren. Da hatte ich schon ein mulmiges Gefühl und wollte den Skikurs abbrechen. Aber ich habe mich bequatschen lassen. Dies sei doch bloß der ‚Idiotenhügel‘. Also habe ich mit den Anderen weitergemacht und das Wedeln geübt, immer wechselweise mal den rechten, dann den linken Ski belasten.
Dabei ist es dann passiert. Bei einer Abfahrt muss ich wohl gestürzt sein. Jedenfalls habe ich mich noch auf den Skiern gesehen… und im nächsten Moment liege ich in einem Bett, angezogen mit einem OP-Hemd. Es hat einen Augenblick gebraucht, bis ich realisiert habe, was geschehen ist. Da taucht das Gesicht einer strengen älteren Frau in Schwesternkleidung in meinem Blickfeld auf. Sie erklärt mir, dass ich einen Sportunfall erlitten hatte und nun auf der Intensivstation einer Universitätsklinik liege.“

„Aber da kann doch niemand etwas dafür!“ entgegne ich. „Sie nicht. Ihre Eltern, Verwandte und Freunde auch nicht. Und die Ärzte haben bestimmt ihr Möglichstes versucht…“

Er unterbricht mich lauter, als nötig:
„Für die Ärzte in der Chirurgie bin ich schnell ein Fall für den Rollstuhl gewesen. Darauf haben sie hingearbeitet.“

„Sie meinen, die Ärzte hätten sich Ihren individuellen Fall näher anschauen sollen, sie hätten Sie zu früh aufgegeben?“

Er antwortet nur mit einem Nicken. Trauer und Wut zeichnen sich auf seinem Gesicht ab.

„Wie soll ich als Rollstuhlfahrer jemals durch Arbeit Geld verdienen, um damit eine Familie zu ernähren? Wie soll ich als Krüppel jemals eine Frau finden, die mich liebt, statt mich zu bedauern?“

Ich mache ‚Hm‘ und sage:
„Gehen wir doch erst einmal zu Ihrer Grundschule. Haben Sie eine besondere Erinnerung an Ihre Schulzeit da?“

Seine Miene normalisiert sich wieder. Ich meine Lachfältchen an seinem Auge zu erkennen, auf der Seite, die ich sehen kann.

Es geht wieder über die Straße und in die von ihm bezeichnete Straße hinein. Dort soll ich ihn auf die andere Straßenseite schieben. Bald haben wir das Schulgebäude erreicht. Eine Mauer umschließt den Schulhof und das Hoftor ist geschlossen.

Hannes grinst breit, angesichts der Grundschule. Er sagt:
„Hinter dem Gebäude trennt ein mannshoher Maschendrahtzaun das Schulgelände von einer römischen Ruine. Der Zaun hatte zu meiner Zeit hier ein Loch, durch das wir uns hindurchdrücken konnten. Das war für uns ein wunderbarer Abenteuerspielplatz. Heute ist das Gelände saniert und mit einer Pforte versehen. Man muss nun Eintritt bezahlen, um auf das Gelände zu kommen.“

„Sollen wir…?“ frage ich.

Er hebt den Kopf und schaut mich an. Seine Augen strahlen. Er nickt mir zu.

„Wie kommen wir denn zu dieser Pforte?“ frage ich ihn nun.
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Sa Jan 15, 2022 10:39 am

„Gehen wir dort die Straße entlang und biegen dann zweimal links ab,“ antwortet Hannes und zeigt auf die Einmündung, die halblinks auf der anderen Straßenseite liegt.

Das heißt für mich: Noch einmal die Straße queren. Zum Glück ist heute hier wenig Verkehr. Er macht mich auf die Richtungsänderungen aufmerksam und keine zehn Minuten später stehen wir vor einem Schalter. Ich kaufe zwei Eintrittskarten und betrete eine Anlage mit wunderschönen Fußbodenmosaiken. Über uns hat man ein Stahldach errichtet und Leuchtstoffröhren angebracht, die alles gut ausleuchten. Die Wände bestehen aus Sandstein, den Mörtel zusammenhält. Vereinzelt kann man Teile von Wandmalereien erkennen.

Ich bin fasziniert von dem guten Erhaltungszustand, als Hannes plötzlich fragt:
„Nun kennen Sie meinen Werdegang, Frau Schneider. Mögen Sie auch etwas von sich erzählen?“

Ich schlucke und beginne:
„Nun, unsere Lebensläufe gleichen sich am Beginn. Ich habe in der Oberstufe Japanisch als dritte Sprache gelernt. Es wurde angeboten und faszinierte mich halt.“

„Okay,“ meint er. „Meine dritte Fremdsprache ist Spanisch.“

Ich nicke und bestätige ihm:
„Das haben die meisten Mitschüler meiner Jahrgangsstufe auch gewählt. Der Japanisch-Kurs war dagegen nur spärlich besetzt. Ich fand das gut! So konnte der Lehrer sich mehr um jeden Einzelnen kümmern.
Wir haben nicht nur die Sprache gelernt, sondern auch wie man im Alltag höflich und respektvoll miteinander umgeht, welche Umgangsformen man in Japan beachten muss, und so weiter.
Nach der Schule bin ich für zwei Jahre auf eine Pflegeschule gegangen und habe mich nach dem Abschluss um ein Jahr bei einer Gastfamilie in Japan bemüht. Das Leben in Japan ist sehr teuer. Obwohl Kost und Logis im Reisepreis inbegriffen waren, hat mir mein Gastvater deshalb geraten, einen kleinen Nebenjob anzunehmen. So habe ich halbtags in einer Schmuck-Boutique als Verkäuferin gejobbt. Abends habe ich an einem Tag in der Woche einen Selbstverteidigungskurs belegt.“

„Was kann man als Tourist in Japan erleben?“ fragt Hannes interessiert.

„Nun ja, so richtig touristisch war ich ja nicht unterwegs. Um Land und Leute kennenzulernen, muss man sich schon in die Gesellschaft einfügen und dort leben. Natürlich habe ich mich auch für die Geschichte Japans interessiert. Kyoto war einmal die Kaiserresidenz gewesen – bis etwa 1870. Ich bin also auch durch die Altstadt spaziert. Dabei habe ich eine Maiko kennengelernt und mich mit ihr angefreundet.“

„Was ist eine Maiko?“ will Hannes nun wissen.

„So nennt man eine Geisha in Ausbildung. Die japanischen Schüler gehen sechs Jahre auf eine Grundschule. Daran schließt sich eine dreijährige Oberschule an. Anschließend machen sie eine handwerkliche Ausbildung oder gehen auf die Hochschule. Will eine junge Frau Geisha werden – das sind heute nur noch wenige -, meldet sie sich in einem Okiya -Geishahaus- in der Altstadt und wird dort fünf Jahre lang ausgebildet.“

„Das ist lange!“

„Früher sind junge Mädchen an solche Häuser vermittelt worden, wenn sie heutzutage gerade schulpflichtig werden. Sie mussten dienen, ihre Augen und Ohren offenhalten. Dienen brauchen sie heute nicht mehr. Wie gesagt, ich habe dort eine Maiko kennengelernt und mich mit ihr angefreundet. Sie hat mir in ihrer freien Zeit beigebracht, was sie selbst schon gelernt hatte.“

„Was soll ich mir denn unter einer Geisha vorstellen? Geht sie mit ihren Kunden ins Bett und wird dafür bezahlt?“

Ich schüttele lachend den Kopf und antworte:
„Nein, ganz und gar nicht! Geishas waren früher das, was heute Models sind. Man bucht eine Geisha zum Beispiel, um eine Party aufzuwerten. Die Damen werden nach ‚Räucherstäbchen‘ bezahlt, das heißt, sie unterhält die Gesellschaft, während ein Räucherstäbchen abbrennt, also für etwa eine halbe Stunde. Hat der Gastgeber Geld, können das auch viele Räucherstäbchen werden, bis die Party beendet ist. Die Dauer eines Räucherstäbchens kostet etwa 25.000 Yen, das sind umgerechnet etwa 200 Euro.“

„400 Euro pro Stunde? Das ist eine Menge Holz! Was muss sie denn dafür tun?“

„Sie bespricht das mit dem Gastgeber. Sie macht, was die Gäste mögen. Das können alte Tänze sein, das Vortragen von Fabeln mit Musikuntermalung, eine Teezeremonie, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie kann in einer kleinen Runde auch Konversation üben.“

„Das ist alles, für das viele Geld?“ fragt er erstaunt.

„Die Geisha ist eben keine Prostituierte! Sie verkauft kein Fleisch, sondern eine Illusion. Die Gäste werden in längst vergangene Zeiten entführt. Das ganze Ambiente in diesen Ryotai -Restaurants- ist historisch. Sie tritt in kostbaren, oft mehrlagigen Kimonos auf.
Sie müssen so etwas einmal erleben. Sie fühlen sich in eine andere Welt entrückt.“

„Okay,“ meint er nun. „Und das können Sie jetzt auch?“

Ich lächele ihn freundlich an und schüttele leicht den Kopf.

„Meine Lehrerin war eine Maiko, also noch keine vollwertige Geisha, und ich war nur ein Jahr drüben. Aber ich habe vor, meine Kenntnisse anzuwenden. Hierzulande kann ich Kurse zur Gesellschafterin belegen. Diese Leute üben ihren Beruf zumeist selbständig aus. Ihre Kunden sind meist ältere Leute, oder geistig behinderte Menschen, denen die Gesellschafterin eine kurze Zeit ihre Zuwendung schenkt. Dafür kann sie 40 Euro pro Stunde verlangen.
Ich will solch einen Kurs mitmachen und nach erfolgreichem Abschluss die Kenntnisse und Fertigkeiten mit den in Japan erlernten aufwerten.“

„Hm,“ macht mein Gegenüber. „Danach müssten meine Eltern dann eine neue Pflegerin suchen?“
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Mo Jan 17, 2022 10:10 am

„Machen Sie sich nicht schon jetzt Gedanken über die ferne Zukunft, Herr Meyer! Vor allem, malen sie sich die Zukunft nicht in dunklen Farben! Wer weiß, was noch alles passiert. Einiges davon könnte bestimmt positiv für sie ausgehen. Man kann nie wissen.“

„Ihren Optimismus in allen Ehren…“ gibt er mit zweifelnder Miene zurück.

„Mir wird langsam kalt,“ meine ich. „Wollen wir nicht zurück zu Ihren Eltern gehen?“

Da er nickt, schiebe ich den Rollstuhl mit ihm zum Ausgang und eine halbe Stunde später sind wir in seinem Elternhaus zurück. Wir essen zu Abend und bringen Hannes wieder in sein Pflegebett. Ein Fernseher hängt an einem seitlichen Arm. Ich ziehe ihn näher heran und gebe ihm die Fernbedienung in die Hand. Danach verabschiede ich mich von den Leuten und lasse mich von einem Taxi zum Bahnhof bringen. Dort steige ich in den Zug, der mich in meine Heimatstadt bringt.

*

Inzwischen lebe ich seit über einem halben Jahr im Gästezimmer der Familie Meyer. Ihr Sohn, Hannes, ist seit einem Sportunfall auf den Rollstuhl angewiesen. Vor mir hat die Familie Pflegerinnen von einer Agentur beschäftigt, da die Eltern einerseits auch nicht mehr die Jüngsten sind und andererseits sich nicht so gut mit der medizinischen Pflege auskennen. Hannes hat eine Pflegerin nach der anderen hinausgeekelt. Er kann ein ganz schöner Kotzbrocken sein.

Ich bin wahrscheinlich anders an die Sache herangegangen, denn ich habe ihn nicht als medizinischen Pflegefall gesehen, für dessen Betreuung es genug erlernte Routinen gibt. Stattdessen habe ich zuerst den menschlichen Kontakt zum Patienten gesucht und ihm zwischen den Zeilen vermittelt, dass ich ihn vordergründig nicht als Pflegefall sehe, sondern zuerst als Menschen mit einer individuellen Geschichte.

Dadurch ist eine vertrauensvolle Verbindung entstanden, die mich befähigt, ihm den einen oder anderen Rat zu geben, der ihn zumindest nachdenklich macht. So ist es mir gelungen, ihn in einen Kurs zu schleusen, den die Krankenkasse als Reha-Maßnahme bezahlt. Dort lernt er die theoretischen Grundlagen eines ‚Kaufmanns des Handwerks‘. Nach etwa einem Jahr erhält er ein dreimonatiges Praktikum im Büro einer Firma. Daran schließt sich eine dreimonatige Prüfungsvorbereitung für den Kaufmannsbrief vor der Handwerkskammer an. Danach hat er einen Beruf in der Tasche, der ihn befähigt, seinen Rollstuhl zu vergessen.

Die Schulungsräume liegen am anderen Ende der Stadt. Ich begleite ihn im Bus und beschäftige mich bis zur Mittagszeit in einem nahen Park mit Trockenübungen. Ich führe die erlernten Bewegungen aus meinem Selbstverteidigungskurs aus. In der Mittagszeit bin ich wieder in seinem Klassenraum und schiebe den Rollstuhl mit ihm zu einem Fastfood-Restaurant in der Nähe. Während der letzten beiden Stunden seines Kurses sitze ich wieder in dem gleichen Fastfood-Restaurant vor einer Cola und meditiere.

Auch das hat mir die Maiko -Geisha in Ausbildung- in Kyoto beigebracht. Man lässt quasi seinen Geist fliegen. Es sind jedesmal nur leichte Meditationen, da die Zeit für eine tiefe Meditation nicht reicht.

Zuerst schließe ich die Augen. Dann versuche ich dem inneren Dialog meiner Gedanken zu folgen, je mehr ich mich entspanne und ‚fallenlasse‘. Oft streitet die Rationalität mit der Emotionalität! Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf und beobachte sie, höre ihnen zu. Dabei merke ich, dass ich mich in alle Gedanken irgendwie einmische, favorisiere den Einen, verwerfe den Anderen. Die Maiko hat dies als das ‚kritische Bewusstsein‘ bezeichnet.  Verschiedene Wünsche, Hoffnungen, Pläne usw. kristallisieren sich heraus und der innere Kritiker bewertet sie.

Irgendwann findet dieser innere Kritiker nichts mehr zum Kritisieren. Der Zustand der Neutralität ist erreicht. Der Kritiker hat Pause und es bleibt nur die nicht wertende Aufmerksamkeit übrig.

Nun versuche ich die Wurzeln jener Gedanken zu erreichen, die dafür sorgen, dass der Quell der Gedanken einfach nicht abreißt. Mit dem Willen kommt man an den Bewusstseinszustand des Zeugen nicht heran. Man muss ihn sich erarbeiten, indem man die Konfliktpunkte und die Quelle der Störgedanken und der Störgefühle in angemessenem Tempo löst.

Dann, wenn einen die Freude des ersten vollkommen gedankenfreien Augenblicks überrascht, erinnert man sich vielleicht daran, wie man als Kind den Kopf in den Nacken legte und einen vereisten Winterapfel am Baume in der untergehenden Sonne glitzern sah. Da ist es, das namenlose Staunen. Reine Beobachtung. Keine Wertung. Das Bewusstsein denkt nicht während es etwas wahrnimmt. Natürlich nimmt es den Apfel wahr und so weiter, doch der Denkapparat ist offline.

Das Zeugenbewusstsein findet noch ‚bodenständig‘ statt, ganz im Hier und Jetzt. Die Aufmerksamkeit nimmt wahr, dass sich der Geist bestimmte Gedankenbilder spinnt, doch sie identifiziert sich nicht mit der Geschichte, lässt sich nicht von ihr ködern. Der ‚Beobachter‘ hält keinen Gedankensplitter an.

Auf diese Weise eröffnet sich mir die Möglichkeit, eine gewisse Beeinflussung meines Denkens vorzunehmen. So erschaffe ich mir hilfreiche Vorstellungen im Geist. Hannes fühlt etwas in meiner Nähe. Ich bin ihm zumindest sympathisch. Das ist gut. Darüber komme ich näher an ihn heran, als meine Vorgängerinnen in der Pflege.

In meinen Meditationen versuche ich, mich immer weiter zu entwickeln. Ich trete quasi neben mich und beobachte meine Gedanken und Gefühle, mein inneres Wesen also. Mein ICH kann mein inneres Wesen nicht fühlen, das kann es nur selbst tun.

Der innere Beobachter, das ‚Zeugenbewusstsein‘, ist nun das Bewusstsein des inneren Wesens, das geweckt werden muss. Denn solange das innere Wesen sich selbst nicht bewusst erkennt, bleibt es inaktiv – es schläft. In diesem Stadium befinde ich mich noch. Wenn Erkennen möglich werden soll, muss es zwei geben: einen Erkennenden und ein Erkanntes, also eine Dualität.

Schon wieder holt mich die Weckfunktion meines Handys in die Realität zurück. Es ist Zeit Hannes abzuholen und nachhause zu fahren.

*
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Mi Jan 19, 2022 9:42 am

Ich habe mich, Hannes Meyer, nach dem Krankenhausaufenthalt selbst nicht wirklich leiden können. Der Ski-Unfall hat meine Zukunftsplanung und damit mein Leben zerstört. So konnte ich es nicht würdigen, dass meine Eltern unser Haus für mich umgebaut und sich Gedanken für meine Pflege gemacht haben.

Sie haben zu ihrer Unterstützung mit einer Agentur Kontakt aufgenommen. Deren Pflegerinnen kommen von morgens bis nachmittags und kümmern sich um mich. Obwohl die Frauen nicht wirklich etwas für meine Situation können, habe ich sie meine schlechte Laune spüren gelassen. So hat es kaum eine Frau länger mit mir ausgehalten.

Irgendwann hat die Agentur die Geschäftsbeziehung mit meinen Eltern gekündigt. Papa schimpft nun mit mir. Es entsteht ein Streit. Mama beginnt zu weinen. Hilflos die Schultern zuckend, sagt er nun:

„Schau, was du angerichtet hast!“

Ich mag es nicht, wenn Mama weint. Dass es ausgerechnet ihre Reaktion auf den Streit ist, macht mich betroffen. Infolge versuche ich meinen Eltern die Pflege zu erleichtern, so gut es mir gelingt. Zum Glück kann ich meine Arme noch bewegen. Nur der Unterkörper fühlt sich an wie ein unnützes Anhängsel. Das lässt mich mürrisch und aufbrausend werden, wenn wieder einmal nichts klappt.

Eines Tages eröffnet mir Papa, dass wir einen Ausflug in die Innenstadt machen wollen. Es ist das erste Mal, dass ich anders vor die Tür komme, als durch unser Wohn- und Esszimmer auf die Terrasse, um Sonne zu tanken und frische Luft zu atmen. Ich bin entsprechend aufgeregt.

Nachdem ich mich in den Sitz gewuchtet habe, schiebt Papa den Rollstuhl zu den Garagen. Mama bleibt bei mir stehen, während Papa das Auto aus der Garage fährt. Dann öffnet sie die Fondtür auf meiner Seite. Ich rolle näher an die Rücksitzbank heran und ziehe die Seitenwand des Rollstuhls aus ihrer Verankerung. Anschließend wuchte ich meinen Körper aus dem Sitz und auf die Rücksitzbank. Papa ist heran und hilft mir. Natürlich muss ich mich mehrfach absetzen, aber schließlich sitze ich so, dass er mich anschnallen kann. Ich stelle meine Füße noch nebeneinander in den Fußraum, dann geht die Fahrt los.

Papa fährt in ein Parkhaus in der Innenstadt. Nachdem ich wieder im Rollstuhl sitze und Papa den Wagen abgeschlossen hat, schiebt er mich zum Aufzug. Vom Ausgang unten schiebt er mich in Richtung der Fußgängerzone. Mama geht an seiner Seite.

In der Fußgängerzone reihen wir uns in den Strom der Fußgänger ein und lassen uns an den Schaufenstern vorbeitreiben. Interessiert schaue ich mir die Auslagen an. Gerne hätte ich sie mir hier und da länger angeschaut, besonders die Elektronik-Sachen. Wo wollen meine Eltern bloß mit mir hin?

Schließlich betreten sie ein Café und schauen sich um. Ich mustere misstrauisch das Ambiente hier, als sich eine Frau vom Tisch erhebt, die etwas jünger als ich zu sein scheint. Hübsch ist sie ja, das muss man schon sagen. Sie kommt auf uns zu und spricht meine Eltern an. Sie fragt:

„Herr und Frau Meyer?“

Papa nickt freundlich, während meine Laune wieder sinkt. Ich sitze zwar im Rollstuhl, aber ich bin doch auch noch da!

„Hallo, ich bin Gabi Schneider. Wir hatten miteinander telefoniert. Mögen Sie zu meinem Tisch kommen, oder sagt Ihnen ein anderer eher zu?“ stellt sie sich vor.

„Nein, nein, ist schon okay,“ meint Papa und schiebt mich an ihren Tisch.

Sie schiebt die Stühle etwas auseinander, damit mein Rollstuhl dazwischen passt. Während meine Eltern sich setzen, schaue ich sie neugierig an. Sie streckt mir nun auch ihre Hand zum Gruß entgegen und stellt sich mir vor.

„Hallo, mein Name ist Gabi Schneider.“

„Hi, ich bin der Hannes,“ antworte ich verlegen lächelnd.

Sie setzt sich wieder an ihren Platz, lächelt mir über den Tisch zu und fragt:
„Guten Tag, Hannes. Wie geht es Ihnen heute?“

In diesem Augenblick tritt die Kellnerin hinzu und fragt nach unseren Wünschen. Meine Eltern wählen je einen Cappuccino. Ich bestelle bei ihr einen Kaffee und einen Marmorkuchen. Die ganze Zeit kreisen Gedanken in meinem Kopf:

‚Wer ist die Frau? Was will oder soll sie tun?‘

Das verunsichert mich. Da die Kellnerin für meinen Geschmack zulange braucht, bis sie die Bestellung serviert, haue ich auf den Tisch, an dem wir sitzen, und beschwere mich über den schleppenden Service. Meine Reaktion entspringt sowohl meiner Unsicherheit, als auch einer allgemeinen Unzufriedenheit und entlädt sich im Ärger.
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Fr Jan 21, 2022 11:02 am

Kurz darauf ist die Kellnerin am Tisch zurück. Mama entschuldigt sich bei ihr, als sie unsere Bestellung serviert. Sie wünscht uns freundlich ‚Guten Appetit‘ und beeilt sich wieder, hinter den Tresen zu gehen. Mama schüttet meinen Kaffee in eine mitgebrachte Schnabeltasse, die ich besser greifen kann. Sie lässt mich daran nippen und führt danach eine Kuchengabel nach der anderen mit Kuchen an meinen Mund.

Wieder weiß ich nicht recht, wie ich mich verhalten soll. Meiner Mama mag ich nicht das Kuchengedeck vom Tisch fegen. Besonders nicht, weil eine junge Frau mir gegenübersitzt, die etwas in mir auslöst. Darum lächele ich sie zwischendurch immer wieder verlegen an.

„Wir würden uns freuen, wenn Sie uns bei Hannes‘ Pflege unterstützen könnten,“ sagt Papa gerade.

‚Hm,‘ denke ich, ‚darauf läuft es also hinaus. Da bin ich aber gespannt, ob sie genauso vorgeht, wie die Pflegerinnen von der Agentur, oder ob sie menschlicher ist.‘

Frau Schneider öffnet den Reißverschluss der Dokumentenmappe, die vor ihr auf dem Tisch liegt und übergibt Papa freundlich lächelnd verschiedene Papiere. Dabei sagt sie:

„Ich bin keine angestellte Pflegerin, die zu Ihnen hinauskommt, wenn Sie Hilfe benötigen und ansonsten einmal am Tag nach dem Patienten schauen kommt. Ich habe die Pflegeschule absolviert und sollte mich dann in Pflegeheimen und Altenheimen bewerben, oder in Agenturen, die auf häusliche Pflege konzentriert sind.
Stattdessen habe ich ein Sabbatjahr -sagt man wohl dazu- eingelegt und eine Japanreise gemacht. In der Oberstufe war Japanisch meine dritte Fremdsprache, und ich wollte die Kenntnisse nicht verkümmern lassen. Dort habe ich in einer Gastfamilie gewohnt und neben dem staatlichen Stipendium noch als Verkäuferin gearbeitet. In meiner Freizeit habe ich einen Sportclub besucht und mir die alte Kaiserstadt zu Fuß angeschaut. Dabei habe ich Kontakt zu einer jungen Frau erhalten, einer Geisha in Ausbildung. Sie hat mir viel beigebracht.
Zurück in Deutschland sollte ich meine Bewerbungen wieder aufnehmen. Da habe ich Ihre Anzeige gelesen. Ich bin neugierig geworden und habe mich bei Ihnen gemeldet.
Was ich damit sagen will: Sollten Sie meine Hilfe annehmen, träten Sie gegenüber den Behörden als mein Arbeitgeber auf, als wäre ich eine Haushaltshilfe.“

„Ooookay,“ meint Papa. „Eine Haushaltshilfe bekommt aber deutlich weniger Geld pro Stunde als eine Pflegerin…“

„Das ist richtig,“ bestätigt die junge Frau mir gegenüber.

„Sie kommen aus einer fremden Stadt,“ stellt Mama fest. „Wollen Sie immer wieder von dort nach hier pendeln, oder wie haben Sie sich das gedacht?“

„Sie haben ein Gästezimmer, genau wie meine Gasteltern in Japan,“ erklärt Frau Schneider und fragt: „Könnten Sie sich vorstellen, dass ich dort einziehe? Die häusliche Pflege hat sie sicher nicht mehr gekostet, als man für eine Haushaltshilfe zahlen muss, da sie nur stundenweise ins Haus kommt, und die Pflegekasse hat das bezahlt.

Die Pflegekasse wird sicher keine ‚Rund-um-die-Uhr-Pflege‘ bezahlen, da sich Hannes per Rollstuhl bewegen kann. Er ist kein ‚bettlägeriger Patient‘, den man immer wieder umbetten muss. Also könnten Sie mir ‚geldwerte Leistungen‘ zukommen lassen, damit ich Ihnen dauerhaft zur Hand gehen und Sie entlasten kann.“

„Was verstehen Sie unter ‚geldwerten Leistungen‘?“ fragt Papa stirnrunzelnd.

„Würden Sie ihr Gästezimmer vermieten, bekämen Sie einen gewissen Betrag, der sich an den Quadratmetern ausrechnen ließe. Ich bin länger als eine Stunde täglich bei Ihnen. Die Differenz der Lohnkosten zu einem Achtstundentag mit nächtlicher Rufbereitschaft, wäre auch eine ‚geldwerte Leistung‘,“ antwortet sie und schaut Papa offen an.

„Ah,“ macht der. „Sie wollen also bei uns wohnen und sich 40 Stunden in der Woche um Hannes kümmern. Zusätzlich können wir Sie auch des Nachts aus dem Schlaf reißen, wenn Hannes uns braucht. Und das für nur etwa 450 Euro im Monat?“

„Genau das meinte ich,“ lächelt die Frau, die mir gegenübersitzt. „Wir sollten natürlich einen Arbeitsvertrag machen, der auch meine Freizeit beinhaltet. Ich möchte mir hier in der Stadt ebenfalls einen Sportclub suchen, wie in Kyoto. Dabei kann man wunderbar entspannen. Das hilft meine Arbeitskraft, mental und körperlich, zu erhalten. Natürlich möchte ich auch Kulturveranstaltungen besuchen können.“

„Sie können gerne in unserem Gästezimmer übernachten!“ prescht Mama vor. „Sie brauchen nichts im Haushalt zu tun. Einzig die Pflege unseres Sohnes wäre Ihre Aufgabe!“

Sie schaut Mama lächelnd an und bestätigt:
„Ich nehme das Angebot gerne an, wenn Ihr Sohn mich als seine Pflegerin akzeptiert.“

Nun wendet sie sich mir zu und meint:
„Das muss für Sie ziemlich frustrierend sein, nicht mehr so richtig am Leben teilnehmen zu können. Haben Sie sich schon einmal die Freude gemacht, ein Kino zu besuchen?“

Meine Empfindung wechselt urplötzlich von interessierter Neugier in Ärger.

„Was soll ich denn da?“ frage ich, lauter als üblich und mit steilen Falten über der Nasenwurzel. „Da sieht man doch nur, wie Supermann die Welt rettet oder ähnliches! Schauen Sie mich doch an. Zu was bin ich denn noch zu gebrauchen?“

„Kein Mensch ist nutzlos, Hannes! Darf ich Sie ins Kino einladen? Es ist nicht weit entfernt,“ entgegnet sie mir in freundlichem Ton.

Ich bin erstaunt. Meine früheren Pflegerinnen haben mir nie solch ein Angebot gemacht. Ich schaue meine Eltern an, die Blicke miteinander wechseln. Papa zuckt die Schultern. Also zahlen wir und verlassen das Café. Bis zum Kino brauchen wir nur noch ein kurzes Stück durch die Fußgängerzone zu gehen. Frau Schneider hält uns das Kinoportal auf und geht zur Kasse. Wir folgen ihr neugierig. Sie spricht eine der Kassiererinnen an:

„Sagen Sie, ist im Film nach dem Roman von Cecilia Ahern noch Platz?“
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1So Jan 23, 2022 11:24 am

„Der Saal ist so gut wie ausverkauft!“ antwortet die Frau hinter der Glasscheibe mit Blick auf mich.

„Wir bräuchten nur drei Plätze, am besten direkt am Gang. Dort kann der junge Mann gerne im Rollstuhl sitzenbleiben. Wir machen also keine Umstände!“ lässt Frau Schneider nicht locker.

Die Kassiererin schaut skeptisch, dann nickt sie und nennt den Preis. Papa zahlt und nimmt die Tickets in Empfang. Danach wenden wir uns zum angegebenen Kinosaal. Frau Schneider übernimmt den Rollstuhl und schiebt mich ganz nach vorne im Gang, bis zu den ‚Rasiersitzen‘. Sie fordert nun meine Eltern auf, sich zu setzen. Papa und Mama suchen sich freie Sitze in der Nähe, während Frau Schneider sich auf den Sitz direkt neben den Rollstuhl setzt. Danach dreht sie den Rollstuhl, damit ich besser sehen kann.

Nach den Werbeeinblendungen startet der Film. Es geht um ein junges Ehepaar Ende Zwanzig und Mitte Dreißig. Beim Mann wird ein Gehirntumor diagnostiziert und er stirbt daran. Die Frau wird nach der Beerdigung depressiv. Beide hatten sich eine wunderbare gemeinsame Zukunft ausgemalt, obwohl es hier und da auch Streit zwischen den Beiden gab. Aber die Liebe war stärker. Sie fanden immer wieder zusammen.
Nun ist der Mann tot und die Frau fällt in eine Depression. Sie versucht, ihren Kummer in Alkohol zu ertränken. Infolge geht sie nicht mehr vor die Tür und scheint zu verwahrlosen. Ihre Freunde und ihre Mutter kommen nicht mehr zu ihrem Herzen durch. Ihr Charakter verhärtet.
Nach einigen Wochen bekommt sie einen Brief mit dem Namen ihres verstorbenen Mannes als Absender. Aufgeregt reißt sie den Brief auf und liest liebevolle Worte, die so nur ihr verstorbener Mann geschrieben haben kann. Er gibt ihr eine Aufgabe, die sie aus dem Haus führt, um sich selbst etwas Gutes zu tun, die Anzeichen der Verwahrlosung hinter sich zu lassen. Der Brief endet mit ‚P.S. Ich liebe dich‘.
Sie erhält in den folgenden Monaten alle vier Wochen einen weiteren Brief mit neuen Aufgaben, die sie wieder am Leben draußen teilhaben lässt.
Die junge Frau durchlebt auf diese Weise ein Trauerjahr voller Erlebnisse und Überraschungen. Sie trauert und feiert. Sie weint und lacht. Sie entdeckt eine neue Freundschaft und Liebe.
Am Ende des Films wird das Rätsel um die Briefe gelöst. Ihr verstorbener Mann hat sie in seinen letzten Lebenstagen geschrieben und ihrer Mutter in die Hand gedrückt, damit sie und ihre Freundinnen ihr die Briefe pünktlich im Abstand von vier Wochen in den Briefkasten werfen, wobei eine bestimmte Reihenfolge einzuhalten ist.

Im Verlauf der Kinovorführung werde ich immer nachdenklicher. Was ist mein Skiunfall gegen den Tod eines geliebten Menschen? Zu was sind meine Stimmungsschwankungen nützlich, außer dass sie meine Mitmenschen enttäuschen.

Nachdem der Film zu Ende ist, schiebt Frau Schneider mich aus dem Kinosaal. Draußen warten wir auf meine Eltern und verlassen das Kino gemeinsam. Eine Weile gehen wir stumm über die Fußgängerzone. Papa hat den Rollstuhl wieder übernommen und schiebt mich in Richtung des Parkhauses. Bevor wir in die Seitenstraße abbiegen müssen, sagt er:

„Hier müssen wir abbiegen. Weiter hinten ist das Parkhaus, in dem wir stehen.“

Frau Schneider meint nur „Okay“ und folgt uns. Wir fahren mit dem Aufzug auf die Etage, wo Papas Auto steht und Frau Schneider hilft dabei, mich ins Auto zu setzen und anzuschnallen. Bevor sie die Fondtür schließt, verabschiedet sie sich von uns. Schnell frage ich:

„Könnten Sie sich vorstellen, meine Pflege zu übernehmen? Wenn Sie mich zuhause besuchen, würde ich Ihnen gerne meine Geschichte erzählen. Wenn Sie sie überhaupt hören mögen…“

Sie lächelt mich an und antwortet:
„Lassen Sie uns nichts überstürzen, Herr Meyer. Ich komme Sie zum nächsten Termin zuhause besuchen, bis dahin wird das Finanzielle und Vertragliche geregelt sein. Dann würde ich gerne mit Ihnen einen Spaziergang machen, damit wir uns näher kennenlernen. Dabei höre ich auch gerne ihrer Geschichte zu!“

*

Es vergehen zwei Wochen. Dann klingelt es an der Haustür. Mama öffnet die Haustür und führt den Besuch nach einer herzlichen Begrüßung ins Wohnzimmer. Gleichzeitig kommt Papa zu mir und sagt:

„Komm, Hannes! Frau Schneider ist angekommen.“

Er fährt den Rollstuhl an das Pflegebett und klinkt eine Seitenwand aus. Ich stemme mich hoch und rutsche näher an die Bettkante. Zum Wechseln auf den Rollstuhl fasst Papa mich unter den Achseln. In diesem Moment kommt Frau Schneider hinzu. Sie grüßt:

„Hallo Herr Meyer. Darf ich helfen?“


Zuletzt von hermann-jpmt am Di Jan 25, 2022 10:18 am bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Di Jan 25, 2022 10:17 am

Sie löst die Bremsen des Rollstuhls und schiebt ihn wenige Zentimeter an eine günstigere Position. Papa ist einen halben Schritt zurückgetreten, um der Aktion der Pflegerin zuzuschauen. Nun spricht sie mich an:

„Probieren Sie einmal, sich selbständig in den Rollstuhl zu setzen, Herr Meyer.“

Ich schaue zweifelnd, also setzt sie nach:
„Keine Angst, Herr Meyer. Ich bin ja dabei! Trauen Sie sich einfach mal.“

Also setze ich eine Hand auf die Sitzfläche und hebe meinen Hintern an. Nachdem ich wieder sitze, bin ich nur mit einer Gesäßbacke auf dem Stuhl. Frau Schneider zweifelnd anschauend, sehe ich, dass sie mich anlächelt.

„Sehen Sie!“ kommentiert sie meine Aktion. „Jetzt noch einmal rutschen und sie sind vollständig auf dem Stuhl. Rutschen Sie dann noch gegen die Rückenlehne und sie sitzen vernünftig.“

Ich mache, was sie sagt. Währenddessen beugt sie sich vor und setzt meine Füße auf die Fußrasten. Als sie wieder hochkommt, lächelt sie Papa an und arretiert das Seitenteil. Zu mir sagt sie:

„Schauen Sie, Herr Meyer. Mit etwas guten Willen und gesundem Selbstvertrauen sind Sie in der Lage, selbständig ihr Bett zu verlassen!“

Sie dreht den Rollstuhl auf der Stelle und schiebt mich durch die Verbindungstür nach nebenan an den Tisch. Papa geht vor und hält uns die Tür auf. Danach setzt sie sich ebenfalls an den Tisch. Mama gießt ihr Kaffee in die Tasse und legt ein Stück Kuchen auf ihren Teller. Ich erhalte meinen Kaffee in der Schnabeltasse und für den Kuchen die Kuchengabel aus meinem Spezialbesteck. Der Griff der Gabel ist schräg, wie bei Lernbesteck von Kleinkindern.

„Sie möchten also gerne die Stelle haben…“ spricht Papa Frau Schneider in diesem Moment an. Er lächelt.

Sie nickt und meint:
„Die Pflegekasse hat ja nun alle Unterlagen. Es dauert halt zumeist eine gewisse Zeit, bis ihr Antrag genehmigt ist. Unser Gespräch im Café habe ich zu Papier gebracht und einen sogenannten privatrechtlichen Vertrag erstellt. Darin ist mein Lohn aufgeführt, meine offiziellen Arbeitszeiten und die geldwerten Leistungen, so wie wir sie besprochen haben, also freie Kost und Logis und meine Freizeit. Ebenso steht darin, dass ich von Ihnen auch des Nachts hinzugerufen werden kann.
Lesen Sie ihn sich gerne durch und entscheiden Sie dann, ob Sie ihn unterschreiben mögen. Haben Sie Änderungswünsche, können wir gerne darüber reden.“

Papa holt nun seine Lesebrille und liest das Papier, das Frau Schneider ihm reicht. Anschließend gibt er das Papier an Mama weiter. Sie nicken. Nun holt Papa einen Kugelschreiber und meine Eltern unterschreiben den Vertrag.

Frau Schneider und meine Eltern bereden noch einige Nebensächlichkeiten. Dann stehen Mama und Frau Schneider vom Tisch auf und steigen die Treppe hinauf zu meinem früheren Kinderzimmer. Mama zeigt ihr auch das Bad. Danach kommen sie wieder zu uns ins Wohnzimmer. Hier spricht mich Frau Schneider an und bietet mir an, mich im Rollstuhl durch die Umgebung zu schieben. Bei dem Spaziergang könnten wir uns gerne näher kennenlernen.

Ich nicke bestätigend und lächele zu ihr auf. Also zieht sie den Rollstuhl vom Tisch weg und dreht ihn in Richtung Tür. Papa steht auf und hält uns die Tür zum Pflegezimmer auf. Er erklärt ihr, dass die Verbindungstür extra für den Rollstuhl verbreitert worden ist. Sie bedankt sich und schiebt mich über das Pflegezimmer in den Hausflur. An der Haustür fragt sie Papa und Mama, die neugierig gefolgt sind:

„Möchten Sie mitkommen? Ein Spaziergang tut Ihnen sicher auch gut.“

Aber sie schütteln den Kopf und Papa hält uns die Haustür auf. Kurz darauf schiebt sie mich im Rollstuhl über den Weg zum Bürgersteig und meint:

„Sie kennen sich hier besser aus als ich. Da wäre es gut, wenn Sie die Führung übernehmen! Zeigen Sie mir auf diese Art einfach, wo Gebäude liegen, die mit ihrem Lebenslauf in Verbindung stehen, wie Kindergarten, Schule und ähnliche, wenn sie zu Fuß erreichbar sind.“

Ich antworte ihr: „Okay, dann müssen wir zuerst hier entlang.“ Dabei zeige ich mit der Hand nach rechts.

Nach etwa 50 Meter weise ich nach links in eine Einmündung, auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

„Über diese Straße kommen wir zu Kindergarten, Kirche und Jugendheim. Wenn wir der Straße hier weiter geradeaus folgen, kommen wir zu unserer Grundschule. Um die weiterführenden Schulen und die Fachhochschule zu sehen, müssten wir den Bus nehmen,“ erkläre ich ihr.

Sie schaut, ob gerade kein Auto von rechts oder links kommt und überquert die Straße mit mir, nachdem sie ein Auto vorbeigelassen hat. Wir gehen in die Straße dort hinein, an einer großen Zahl von Haustüren vorbei, bis wir Kindergarten, Kirche und Jugendheim auf einem weitläufigen Areal erreichen.
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Do Jan 27, 2022 10:31 am

Hier beginne ich ihr von mir zu erzählen:
„Ich bin zwei Jahre hier in den Kindergarten gegangen und anschließend in die Grundschule. Zu ihr kommen wir, wenn wir hier die Straße überqueren und dort der Straße folgen. Nach der Grundschule habe ich in der Kirche meine Kommunion gefeiert. Zur Realschule muss man von zuhause aus schon den Bus nehmen. Dann folgen Berufskolleg und Fachhochschule.
Ich habe nach dem ersten Semester einen Winterurlaub über unsere Pfarrei gebucht. Wir waren ein Dutzend Gleichaltrige. Die Meisten sind Auszubildende gewesen.
Dort unten im Schwarzwald haben wir zuerst gelernt auf Skiern zu stehen und uns auf ebener Fläche mithilfe der Skistöcke voran zu schieben. Dann hat der Skilehrer uns unten am Ende eines flachen Hangs gezeigt, wie man eine Schräge seitwärts hinaufkommt. Nach ein paar Metern sollten wir uns drehen und die Skier wie einen Pflug anstellen. So sind wir den Hang heruntergerutscht. Nun sind wir den flachen Hang hinaufgezogen worden und sollten in Pflugkurve gebremst herunterfahren. Da hatte ich schon ein mulmiges Gefühl und wollte den Skikurs abbrechen. Aber ich habe mich bequatschen lassen. Dies sei doch bloß der ‚Idiotenhügel‘. Also habe ich mit den Anderen weitergemacht und das Wedeln geübt, immer wechselweise mal den rechten, dann den linken Ski belasten.
Dabei ist es dann passiert. Bei einer Abfahrt muss ich wohl gestürzt sein. Jedenfalls habe ich mich noch auf den Skiern gesehen… und im nächsten Moment liege ich in einem Bett, angezogen mit einem OP-Hemd. Es hat einen Augenblick gebraucht, bis ich realisiert hatte, was geschehen ist. Da taucht das Gesicht einer strengen älteren Frau in Schwesternkleidung in meinem Blickfeld auf. Sie erklärt mir, dass ich einen Sportunfall erlitten hatte und nun auf der Intensivstation einer Universitätsklinik liege.“

„Dafür kann aber doch niemand etwas!“ antwortet Frau Schneider. „Sie nicht. Ihre Eltern, Verwandte und Freunde auch nicht. Und die Ärzte haben bestimmt ihr Möglichstes versucht…“

Ich unterbreche sie nun, vielleicht etwas lauter, als nötig:
„Für die Ärzte in der Chirurgie bin ich schnell ein Fall für den Rollstuhl gewesen. Darauf haben sie hingearbeitet.“

„Sie meinen, die Ärzte hätten sich Ihren individuellen Fall näher anschauen sollen, sie hätten Sie zu früh aufgegeben?“ fragt sie zurück.

Ich nicke. Die Emotionen überwältigen mich. Laut sage ich:
„Wie soll ich als Rollstuhlfahrer jemals durch Arbeit Geld verdienen, um damit eine Familie zu ernähren? Wie soll ich als Krüppel jemals eine Frau finden, die mich liebt, statt mich nur zu bedauern?“

Sie brummt etwas und antwortet:
„Gehen wir doch erst einmal zu Ihrer Grundschule. Haben Sie eine besondere Erinnerung an Ihre Schulzeit da?“

Ich erinnere mich, wie ich mit meinem besten Freund und anderen Jungs am Nachmittag zum Spielen wieder auf das Schulgelände gegangen bin. Wir haben eine Lücke im Maschendrahtzaun entdeckt, der das Schulgelände vom Nachbargrundstück trennt. Dort befanden sich die ausgegrabenen Ruinen einer alten römischen Villa. Die Erinnerung lässt mich meine aktuellen Sorgen vergessen und meine Stimmung hebt sich wieder.

Frau Schneider schiebt mich nun in die Straße hinein, die von hier zur Grundschule führt, nachdem ich ihr den Weg gezeigt habe. Bei dem alten Schulgebäude angekommen, grinse ich breit und erzähle ihr von meiner Erinnerung:

„Hinter dem Gebäude trennt ein mannshoher Maschendrahtzaun das Schulgelände von einer römischen Ruine. Der Zaun hatte zu meiner Zeit hier ein Loch, durch das wir uns hindurchdrücken konnten. Auf der anderen Seite war für uns ein wunderbarer Abenteuerspielplatz. Heute ist das Gelände saniert und mit einer Pforte versehen. Man muss nun Eintritt bezahlen, um auf das Gelände zu kommen.“

„Sollen wir…?“ fragt sie mich.

Ich hebe den Kopf und schaue sie mit strahlenden Augen an, um ihr dann zuzunicken. Für mich hat sich dieser kleine Ausflug schon jetzt gelohnt. Mein Trübsinn ist wie weggeblasen. Innerlich bin ich wieder dieser kleine Junge von etwa acht Jahren.

„Wie kommen wir denn zu dieser Pforte?“ fragt sie mich nun.

„Gehen wir dort die Straße entlang und biegen dann zweimal links ab,“ antworte ich und zeige auf die Einmündung, die halblinks auf der anderen Straßenseite liegt.

Keine zehn Minuten später stehen wir vor dem Schalter an der Pforte der Römervilla. Frau Schneider kauft zwei Eintrittskarten und betritt eine Anlage mit wunderschönen Fußbodenmosaiken. Über uns hat man ein Stahldach errichtet und Leuchtstoffröhren angebracht, die alles gut ausleuchten. Zu unserer Zeit gab es hier noch einen natürlichen Boden mit Gras und Unkrautbewuchs. Die Wände bestehen aus Sandstein, den uralter Mörtel zusammenhält. Vereinzelt kann man Teile von Wandmalereien erkennen.
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Sa Jan 29, 2022 12:02 pm

Frau Schneider lässt die Villa eine Weile auf sich wirken. Auch ich bin besonders vom Bodenmosaik fasziniert. Dann frage ich neugierig:

„Nun kennen Sie meinen Werdegang, Frau Schneider. Mögen Sie auch etwas von sich erzählen?“

Nach einem kurzen Moment beginnt sie:
„Nun, unsere Lebensläufe gleichen sich am Beginn. Ich habe in der Oberstufe Japanisch als dritte Sprache gelernt. Es wurde angeboten und faszinierte mich halt.“

„Okay,“ erkläre ich. „Meine dritte Fremdsprache ist Spanisch.“

Sie bestätigt mir lächelnd:
„Das haben die meisten Mitschüler meiner Jahrgangsstufe auch gewählt. Der Japanisch-Kurs war dagegen nur spärlich besetzt. Ich fand das gut! So konnte der Lehrer sich mehr um jeden Einzelnen kümmern.
Wir haben nicht nur die Sprache gelernt, sondern auch wie man im Alltag höflich und respektvoll miteinander umgeht, welche Umgangsformen man in Japan beachten muss, und so weiter.
Nach der Schule bin ich für zwei Jahre auf eine Pflegeschule gegangen und habe mich nach dem Abschluss um ein Jahr bei einer Gastfamilie in Japan bemüht. Das Leben in Japan ist sehr teuer. Obwohl Kost und Logis im Reisepreis inbegriffen waren, hat mir mein Gastvater deshalb geraten, einen kleinen Nebenjob anzunehmen. So habe ich halbtags in einer Schmuck-Boutique als Verkäuferin gejobbt. Abends habe ich an einem Tag in der Woche einen Selbstverteidigungskurs belegt.“

„Was kann man als Tourist in Japan erleben?“ frage ich. Ihre Japanreise macht mich neugierig.

„Nun ja, so richtig touristisch war ich ja nicht unterwegs. Um Land und Leute kennenzulernen, muss man sich schon in die Gesellschaft einfügen und dort leben. Natürlich habe ich mich auch für die Geschichte Japans interessiert. Kyoto war einmal die Kaiserresidenz gewesen – bis etwa 1870. Ich bin also auch durch die Altstadt spaziert. Dabei habe ich eine Maiko kennengelernt und mich mit ihr angefreundet.“

„Was ist eine Maiko?“ frage ich wißbegierig.

„So nennt man in Japan eine Geisha in Ausbildung. Die japanischen Schüler gehen sechs Jahre auf eine Grundschule. Daran schließt sich eine dreijährige Oberschule an. Anschließend machen sie eine handwerkliche Ausbildung oder gehen auf die Hochschule. Will eine junge Frau Geisha werden – das sind heute nur noch wenige -, meldet sie sich in einem Okiya -Geishahaus- in der Altstadt und wird dort fünf Jahre lang ausgebildet.“

„Das ist lange!“ stelle ich fest.

„Früher sind junge Mädchen an solche Häuser vermittelt worden, wenn sie heutzutage gerade schulpflichtig werden,“ erklärt sie mir. „Sie mussten dienen, ihre Augen und Ohren offenhalten. Dienen brauchen sie heute nicht mehr. Wie gesagt, ich habe dort eine Maiko kennengelernt und mich mit ihr angefreundet. Sie hat mir in ihrer freien Zeit beigebracht, was sie selbst schon gelernt hatte.“

„Was soll ich mir denn unter einer Geisha vorstellen? Geht sie mit ihren Kunden ins Bett und wird dafür bezahlt?“ frage ich mit Falten auf der Stirn.

Sie schüttelt lachend den Kopf und antwortet:
„Nein, ganz und gar nicht! Geishas waren früher das, was heute Models sind. Man bucht eine Geisha zum Beispiel, um eine Party aufzuwerten. Die Damen werden nach ‚Räucherstäbchen‘ bezahlt, das heißt, sie unterhält die Gesellschaft, während ein Räucherstäbchen abbrennt, also für etwa eine halbe Stunde. Hat der Gastgeber Geld, können das auch viele Räucherstäbchen werden, bis die Party beendet ist. Die Dauer eines Räucherstäbchens kostet etwa 25.000 Yen, das sind umgerechnet etwa 200 Euro.“

„400 Euro pro Stunde? Das ist eine Menge Holz!“ sage ich erstaunt. „Was muss sie denn dafür tun?“

„Sie bespricht das vorher mit dem Gastgeber. Sie macht, was die Gäste mögen. Das können alte Tänze sein, das Vortragen von Fabeln mit Musikuntermalung, eine Teezeremonie, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie kann in einer kleinen Runde auch Konversation üben.“

„Das ist alles, für das viele Geld?“ fragt er erstaunt.

„Die Geisha ist eben keine Prostituierte! Sie verkauft kein Fleisch, sondern eine Illusion. Die Gäste werden in längst vergangene Zeiten entführt. Das ganze Ambiente in diesen Ryotai -Restaurants- ist historisch. Sie tritt in kostbaren, oft mehrlagigen Kimonos auf.
Sie müssen so etwas einmal erleben. Sie fühlen sich in eine andere Welt entrückt.“
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Mo Jan 31, 2022 10:09 am

„Okay,“ meine ich jetzt, und frage interessiert. „Und das können Sie jetzt auch?“

Frau Schneider lächelt mich freundlich an und schüttelt leicht den Kopf.

„Meine Lehrerin war eine Maiko, also noch keine vollwertige Geisha, und ich war nur ein Jahr drüben. Aber ich habe vor, meine Kenntnisse anzuwenden. Hierzulande kann ich Kurse zur Gesellschafterin belegen. Diese Leute üben ihren Beruf zumeist selbständig aus. Ihre Kunden sind meist ältere Leute, oder geistig behinderte Menschen, denen die Gesellschafterin eine kurze Zeit ihre Zuwendung schenkt. Dafür kann sie 40 Euro pro Stunde verlangen.
Ich will solch einen Kurs mitmachen und nach erfolgreichem Abschluss die Kenntnisse und Fertigkeiten mit den in Japan erlernten aufwerten.“

„Hm,“ mache ich nachdenklich. „Danach müssten meine Eltern dann eine neue Pflegerin suchen?“

„Machen Sie sich nicht schon jetzt Gedanken über die ferne Zukunft, Herr Meyer!“ antwortet sie resolut. „Vor allem, malen sie sich die Zukunft nicht in dunklen Farben! Wer weiß, was noch alles passiert. Einiges davon könnte bestimmt positiv für sie ausgehen. Man kann nie wissen.“

„Ihren Optimismus in allen Ehren…“ meine ich mit zweifelndem Gesichtsausdruck.

Frau Schneider hat sich während des Gesprächs auf eine Bank gesetzt, wohl auch, um mit mir auf Augenhöhe zu sein.

„Mir wird langsam kalt,“ meint sie nun und fragt: „Wollen wir nicht zurück zu Ihren Eltern gehen?“

Ich bin einverstanden und so schiebt sie den Rollstuhl mit mir zur Pforte. Wir verlassen die Reste der Villa und eine halbe Stunde später sind wir wieder bei uns zuhause. Wir setzen uns an den Esstisch und Frau Schneider berichtet Papa von ihren Eindrücken während des Spazierganges. Danach essen wir zu Abend. Anschließend bringen Frau Schneider und Papa mich wieder zu meinem Pflegebett. Sie hindert Papa daran, aktiv einzugreifen, indem sie sagt:

„Hannes hat es geschafft, sich selbständig in den Rollstuhl zu setzen. Also wird er auch den umgekehrten Weg schaffen! Bleiben Sie nur dabei, um im Bedarfsfall zu helfen. Auch muss ja jemand nachher den Rollstuhl vom Bett wegrollen.“

Es stimmt! Ich schaffe es allein, mich ins Bett zu setzen. Irgendwie bin ich stolz auf meine Leistung. Danach lege ich mich langsam zurück. Hierbei hilft Frau Schneider wieder.

An einem seitlichen Arm hängt ein Fernseher. Frau Schneider zieht ihn näher heran und gibt mir die Fernbedienung in die Hand, nachdem ich bequem liege. Danach verabschiedet sie sich von mir und meinen Eltern und lässt sich von einem Taxi zum Bahnhof bringen.

*

Irgendwie mag ich Frau Schneider, oder Gabi, wie sie mit Vornamen heißt. Sie hat von Anfang an einen Menschen in mir gesehen, jemand mit Gefühlen. Die Pflegerinnen von der Agentur haben mich wohl nur als Pflegeobjekt betrachtet, zu dem sie kurze Zeit am Tag vorbeischauten. So ist es mir jedenfalls vorgekommen.

Schon beim ersten Zusammentreffen mit Gabi im Café in der Innenstadt ist so gewesen: Gabi hat mich angesprochen. Sie hat mir den Vorschlag mit dem Kinofilm gemacht. Dabei hat sie auf die Wirkung des Streifens auf meine Psyche spekuliert und Recht gehabt! Mit diesem Film ‚P.S. Ich liebe dich‘ hat sie die Schale durchbrochen, die ich um meine Seele aufgebaut gehabt habe.

Beim nächsten Treffen, bei uns zuhause, hat sie Papa gezeigt, dass sie Ahnung hat. Zu mir hat sie begonnen, so etwas wie eine Beziehung aufzubauen. Eine Beziehung, wie ich sie mir zwischen einem Patienten und seiner Pflegerin wünsche, nicht so unpersönlich, wie die Pflegerinnen von der Agentur vorher. Sie hat mich aufgefordert, über meine Vergangenheit zu reden, und hat bereitwillig von ihrer Vergangenheit berichtet, als ich sie danach gefragt habe.

Danach ist sie bei uns eingezogen und wohnt seitdem in meinem früheren Kinderzimmer. Wir reden viel auf unseren Spaziergängen. So hat sie mich ermuntert, über meine Zukunft nachzudenken. Anfangs habe ich hier eine Blockade gehabt. Ich habe gedacht, dass das jetzt alles wäre, dass mir ein Leben im Rollstuhl und Pflegebett bevorsteht. Dann gibt sie mir einen Rat:

„Was ich dir noch sagen wollte, Hannes: Du darfst dich nicht darauf beschränken, dass dein zukünftiges Leben nur noch aus Pflegebett und Rollstuhl besteht! Da gibt es noch mehr! Gerade für Rollstuhlfahrer. Bei dir greift das Programm ‚Inklusion‘. Vertrete gegenüber den Behörden, dass du einen Kurs zur Berufsvorbereitung machen willst. Lass‘ nicht locker, wenn erst einmal ablehnende Bescheide kommen! Schicke dann einen ‚Widerspruch‘!“

Zuerst habe ich versucht Gegenargumente zu finden.

„Du bist genau wie die Sachbearbeiter in den Behörden, die dir mit Gegenargumenten den Wind aus den Segeln nehmen wollen!“ hält Gabi mir daraufhin vor. „Denke daran: Du bist nicht allein auf der Welt! Wir sind zumindest zu zweit! Und auch deine Eltern stehen hinter dir!“

„Aber was kann ich denn machen?“ frage ich sie.

„Als Beruf später?“ fragt sie zurück.

Ich nicke mit einer fragenden Miene.

„Mach dir darüber jetzt noch keine Gedanken, Hannes. Sieh es, wie eine Fahrt durch eine Nebelbank. Als Rollstuhlfahrer kannst du jeden Schreibtisch-Job annehmen. Konzentriere dich also auf die kaufmännische Richtung. Du hast doch durchweg gute Noten in Mathe gehabt!“

Wir finden eine Maßnahme der Handwerkskammer unserer Stadt. Sie suchen ‚Kaufleute des Handwerks‘. Diese Leute sollen die Handwerker entlasten, damit diese sich ganz auf ihr Handwerk stürzen und auf diese Weise mehr Umsatz generieren können. Infolgedessen bewerbe ich mich für den nächsten angebotenen Kurs. Ich werde zu einem Gespräch geladen, das in freundlicher Atmosphäre verläuft. Als Ergebnis des Gesprächs werde ich zu einem weiteren Termin geladen.
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Mi Feb 02, 2022 10:29 am

Bei diesem Termin sitzen mit mir elf weitere Bewerber um einen großen Tisch. Eine Mitarbeiterin der Handwerkskammer teilt mehrere Blätter mit Prüfungsfragen aus. Unter jeder Frage stehen mehrere Antwortmöglichkeiten, von denen wir eine ankreuzen müssen. Die Mitarbeiterin setzt sich zu uns an den Tisch und beginnt in einem Buch zu lesen.

Wir sind vielleicht zehn Minuten beschäftigt, als sich eine Griechin meldet:
„Ich verstehe die vierte Frage nicht,“ sagt sie. „Können Sie sie mir erklären?“

Die Mitarbeiterin der Kammer meint, sie solle sich nicht bei einer Frage zulange aufhalten, sondern erst alle Fragen durcharbeiten und später auf diese Frage zurückgehen. Nun versuche ich ihr die Frage mit einfachen Worten zu erklären, ohne ihr die Lösung zu nennen. Die Mitarbeiterin sieht von ihrem Buch auf und schaut mich kritisch an. Sie lässt mich aber gewähren und liest weiter in ihrem Buch.

Anschließend sollen wir die Auswertung der Fragebögen abwarten. Dann werden wir einzeln in ein Büro gerufen. Als ich aufgerufen werde und in das Büro vor den Schreibtisch eines älteren Herrn rolle, lächelt mich der Mann an und sagt:

„Herr Meyer, Sie haben den Test mit 100 Prozent bestanden! Von uns aus können Sie in ihrer Zukunft alles tun, was sie möchten.“

Natürlich bin ich froh über die Eröffnung, andererseits frage ich mich, auf was ich eigentlich getestet worden bin. Die Aufgaben erschienen mir zu einfach.

Eine Woche später erhalte ich die Zusage, dass ich am Kurs teilnehmen darf. Gleichzeitig liegt eine Liste von Büchern bei, die ich im Unterricht gebrauchen werde. Gabi geht mit mir in die Universitäts-Bücherei. Dort lege ich die Liste vor und man sagt mir zu, dass ich die Bücher in zwei Wochen abholen kann. Auf meine Frage, wieviel Geld ich dann mitbringen muss, gibt mir die Buchhändlerin die Liste zurück, die sie in ihren Laptop eingetippt hat. Sie hat den Preis jedes einzelnen Buches vom Bildschirm auf die Liste übertragen und darunter den Gesamtpreis geschrieben.

Ich bekomme große Augen, denn es sind mehrere hundert Euro. Zuhause beruhigt mich Papa. Er wird beim nächsten Besuch mitkommen und die Rechnung bezahlen.

Drei Monate später beginnt der Kurs. Er besteht aus einem Jahr ‚Frontal-Unterricht‘ in den verschiedenen Fächern, wie Rechnungswesen, Vertragsrecht und andere. Während ich zuhause die Tastatur bisher mit ein und zwei Fingern bearbeite, lernen wir dort das Zehn-Finger-System. Nun werden einzelne Teilnehmer aus dem Kurs genommen. Für sie hat man eine Firma gefunden, bei der sie ein dreimonatiges Praktikum machen können. Irgendwann erhalte ich auch die Adresse einer Firma für mein Praktikum.

Die Schulungsräume liegen am anderen Ende der Stadt. Gabi begleitet mich im Bus zum Kurs. In der Mittagszeit, wir haben anderthalb Stunden Pause, kommt sie wieder zu mir und schiebt mich zu einem Fastfood-Restaurant in der Nähe. Nach wenigen Tagen habe ich sie neugierig gefragt, womit sie sich die vier Schulstunden Zeit vertreibt, während ich lerne.

„Ich mache doch zweimal in der Woche abends Ju-Jutsu in dem Sportclub!“ antwortet sie mir. „Hier in der Nähe ist der Kaiserpark, wie du weißt. Dort mache ich ‚Trockenübungen‘. Ich führe die erlernten Bewegungen aus und vertiefe sie dadurch.“

Nach den zwei Schulstunden am Nachmittag ist sie wieder bei mir und wir fahren mit dem Bus nachhause. Auf meine neugierige Frage, ob sie währenddessen wieder in den Park geht, schüttelt sie lächelnd den Kopf und erklärt:

„Nein, ich gehe in das Fastfood-Restaurant, kaufe mir ein Kaltgetränk und schließe die Augen, wenn ich auf dem einzelnen Eckplatz sitze. Dort übe ich mich in Meditation.“

‚Okay, wenn sie das braucht,‘ habe ich lächelnd gedacht und nicht mehr nachgefragt. Danach fahren wir mit dem Bus nachhause, wo ich noch etwas nacharbeite.

Für mein Praktikum müssen wir mit dem Bus zu einem anderen Stadtteil fahren, wo das Industriegebiet ist, in dem die Firma ihren Sitz hat. Vorher hat Gabi mit mir geübt, alleine mit dem Bus zu fahren. Ich muss einen früheren Bus nehmen, ein Pausenbrot mitnehmen und habe an späten Nachmittag Feierabend. In der Firma liegen Büros und Produktionsstätten ebenerdig, so dass ich überall alleine hinkomme.

Sogar die Toiletten der Firma haben breite Türen. Sicher hat der zuständige Mitarbeiter in der Handwerkskammer für mich darauf Wert gelegt und Gabi hat vorher mit mir geübt, wie ich selbständig vom Rollstuhl auf den WC-Sitz komme und wieder zurück.

An meinem ersten Tag hat mich der Chef herumgeführt und mir alles gezeigt. Danach hat er mich den Mitarbeitern im Büro vorgestellt und mit mir besprochen, was meine Aufgabe in der Firma ist. Ich bekomme eine lange Liste von Telefonnummern der verschiedensten Firmen und soll sie anrufen.

Bei Kontakt soll ich dort fragen, ob wir ihnen unser Informationsmaterial zusenden dürfen. Vorher habe ich ihnen das Produkt unserer Firma verbal skizziert und sie neugierig gemacht. Leider gelingt es mir nur bei etwa einem Drittel der angerufenen Firmen, eine Zusage zu bekommen.

An den Nachmittagen müssen wir das Info-Material in DIN-A4-Briefumschläge mit Firmenlogo füllen und die Firmenadressen der Interessenten mit Adress-Druckern ausdrucken und auf die Umschläge kleben. Die Werbepost geht am nächsten Tag mit der Post auf die Reise, wenn der Briefträger kommt.

Die drei Monate der Praktikumsdauer gehen wie im Flug vorbei. Ich erhalte ein Zeugnis, das ich bei meinem Lehrer im Kurs abgeben soll. Bei dieser Gelegenheit frage ich, ob sie mich nicht übernehmen wollen. Meine Zeugnisnoten lassen mich hoffen, dass meine Arbeit ihnen gefallen hat. Leider erhalte ich eine Absage.

Im Kurs schließt sich nun eine dreimonatige Prüfungsvorbereitung an, an deren Ende mir der Kaufmannsbrief winkt. Gleichzeitig wird mit uns Bewerbungstraining gemacht. Ich erhalte wirklich das Papier, das mich als ‚Fachkaufmann Handwerk (HWK)‘ ausweist.
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Fr Feb 04, 2022 10:23 am

Nun heißt es, mich zu bewerben. Ich suche überall nach Firmen, die einen 'Fachkaufmann Handwerk' suchen. Leider wird der Beruf überhaupt nicht nachgefragt, obwohl die Handwerkskammer unserer Stadt zu Beginn des Kurses so optimistisch geklungen hat.

Also starte ich Initiativ-Bewerbungen. Ich lege dazu ein Faltblatt meiner Bewerbung bei, indem ich meinen Beruf vorstelle. Anschließend sammele ich Adressen von Handwerkern und kleinen Firmen und schreibe alle Adressen an. Dass nur ein Teil der Firmen antwortet, kenne ich von meiner Arbeit in dem Praktikumsbetrieb. Leider sind es alles Absagen. Die Einen haben keine rollstuhlgerechten Büroräume, wie sie schreiben. Den Anderen ist ein Kaufmann zu teuer. Statt mehr Lohnkosten zahlen zu müssen, die doch von mehr Umsatz aufgefangen werden sollen, geben sie ihre Rechnungen lieber an ihren Steuerberater weiter.

*

Ich, Gabi Schneider, finde es so ernüchternd, als wäre ich selbst in der Bewerbungsphase, in der Hannes steckt. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass in jedem Betrieb ein gewisser Prozentsatz behinderter Menschen arbeiten. Aber die Firmen drücken und winden sich, wo sie können.

Um Hannes Stimmung nicht zum Kippen zu bringen und ihm Zukunftsglauben zu vermitteln, versuche ich einerseits ihn mit Besuchen von Veranstaltungen abzulenken, die er als spaßig empfindet oder seinem Ego streicheln. Andererseits sage ich immer wieder zu ihm, klar, er sucht die Stecknadel im Heuhaufen, aber es gibt sie!

Deshalb schaue ich immer wieder die Veranstaltungsnachrichten. Da fällt mir ein Con auf, der auf der Zirkuswiese am Stadtrand stattfinden soll. Dort geht es um japanische Animes und Mangas. Sie werden in Heftform angeboten, aber auch als Zeichentrickvideos. Man kann dort ebenfalls PC-Games auf dieser Basis erwerben. Wir müssen ja nichts kaufen, aber wir tauchen dort für einen Nachmittag in eine Phantasiewelt ein.

Als der Termin heran ist, fahre ich also mit Hannes im Bus dorthin. Wir treffen dort vielleicht nur die Hälfte der Leute in Zivil. Sehr viele Menschen haben sich in Kostüme ihrer Helden gekleidet. Diese Cosplayer drängen sich so um die Stände, dass ich mit Hannes kaum an die Auslagen komme.

Ich entscheide mich also für einen ersten Rundgang, um das Angebot erst einmal grob kennenzulernen. Dabei schmunzele ich, als ich ein Maid-Café entdecke. So etwas habe ich in Kyoto zum ersten Mal kennengelernt. Dort werden wir uns später ausruhen, entscheide ich. Dann versuche ich, mit Hannes im Rollstuhl durch eine Traube von Leuten näher an einen Stand zu kommen.

Einige Leute machen bereitwillig Platz. Andere stellen sich taub, so dass ich versuche neben ihnen weiter vor zu kommen. Plötzlich fasst mich jemand an.

Ich wende den Kopf, schaue ihn verärgert an, und verbitte es mir:
"Lassen Sie ihre dreckigen Finger bei sich!"

Nun lachen er und zwei weitere Männer, die mich im Gewühl bedrängen und vom Rollstuhl trennen wollen. Plötzlich fallen alle Drei kurz hintereinander gegen die Leute, die hinter Ihnen stehen. Diese Besucher verbitten sich nun die Aktion. Ich habe mir durch die Anwendung von Ju-Jutsu etwas Freiraum verschaffen können. Da die Drei wegen der dichtgedrängten Besucher aber nicht zu Boden gegangen sind, bedrängen sie mich nun offen.

Sie kommen mir wieder zu nahe, wollen mich zu Boden bringen, liegen aber Sekunden später selber am Boden. Bevor sie wieder aufstehen, drehe ich den Rollstuhl und die Besucher des Con machen mir seitlich eine Gasse frei. Dies nutze ich, um mit Hannes den Pulk vor dem Stand zu verlassen. Ich schiebe den Rollstuhl mit Hannes im Laufschritt auf das Maidcafé zu.

Die Tür des Cafés steht weit offen und junge Frauen in Dienstmädchen-Uniformen, wie man sie aus Mangas kennt, stehen davor. Sie verteilen Prospekte an die vorbeiströmende Menge. Als wir das Maidcafé erreicht haben und ich den Rollstuhl durch die Tür schiebe, kommt eine junge Frau in der Uniform französischer Dienstmädchen mit schwarzglänzenden Schnallenschuhen, weißer Strumpfhose und oberschenkellangen rosa Kleid mit Petticoat darunter und Rüschenschürze darüber, auf uns zu. Sie ist eindeutig eine Japanerin. Wahrscheinlich macht sie hier einen Ferienjob und wohnt in Düsseldorf-Niederkassel, dem Little Nippon.

Stilecht spricht sie uns an. Ich fühle mich sofort wieder nach Kyoto versetzt. Wie in Japan gegenüber Kunden üblich, zieht sie einen Vokal total in die Länge und nutzt eine 'Kleinmädchen-Stimme':

"Okaeri nasaimaaaaase, Goshujin-sama! Okaeri nasaimaaaaase, Ojou-Sama! -Willkommen zuhause, mein Meister! Willkommen zuhause, meine Dame!"

Dann dreht sie sich in den Raum und ruft in der gleichen Stimmlage:
"Nitsu no shinshi ga kaette kimashita - Zwei Herrschaften sind nachhause gekommen."

Sie dreht sich zu uns zurück und sagt lächelnd:
"Watashi ni shitagatte kudasai. - Folgen Sie mir bitte."

Sie geht vor und führt uns an einen Zweier-Tisch. Dort dreht sie sich wieder zu uns um und deutet mit der gestreckten Hand, die Handfläche nach oben, auf den Tisch.

"Kochira e douzo, kudasai, Sama -Setzen Sie sich bitte hier, die Herrschaften-."

Anschließend schiebt sie einen Stuhl an den Nachbartisch. Ich schiebe den Rollstuhl an den freigemachten Platz und setze mich Hannes gegenüber. Seine Miene spiegelt eine Menge Emotionen wider. Man kann Erstaunen erkennen, Verwirrung, Befremden. Ich lächele ihn aufmunternd an und erkläre ihm:

"Hier darfst du dich wie eine hochgestellte Person fühlen und dich bedienen lassen - wirklich bedienen!"

Die Maido -Dienstmädchen- nimmt die eingeschweißte Menükarte aus dem Ständer und erklärt freundlich lächelnd, zu Hannes gewandt:

"Menyuu ni narimasu, sama! -Hier ist die Menükarte, Herr!"
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1So Feb 06, 2022 11:29 am

Hannes schaut sich die Fotos an und gibt die Karte dann an mich weiter. Ich erkläre ihm, aus was die Menüs bestehen und sage anschließend zu der Maid:

"Ryoho tomo setto A o onegaishimasu. -Wir möchten alle drei das Set A, bitte.-"

Dass ich die Bestellung in Japanisch abgegeben habe, findet sie gut. Sie nickt lächelnd und notiert es sich. Nun fragt sie:

"Onomi mono wa, Sama -Was möchten Sie trinken, die Herrschaften-?"

"Min'na no tame no koka koora -Ein Glas Coca Cola für jeden-," antworte ich darauf.

Sie verbeugt sich und antwortet:
"Arigatou gozaimasu, Sama -Vielen Dank, die Herrschaften-!"

Anschließend verlässt sie uns, um die Bestellung weiterzugeben.

Wenig später steht je ein Glas Cola vor uns. Dann wird Hannes 'angeflötet':
"Issho ni kite, kudaaaasai, Sama -Kommen Sie bitte mit, mein Herr.-"

Hannes schaut hilfesuchend zu mir. Ich lächele und übersetze:
"Die Maid möchte, dass du mitkommst."

Er zieht die Stirn in Falten, so dass ich gleich nachsetze:
"Keine Angst, es passiert nichts. Ich kann auch gerne mitkommen."

Er dreht also den Rollstuhl, indem er ein Rad nach vorne, das andere nach hinten dreht. Dann folgt er der Maid. Ich habe mich ebenfalls erhoben und halte mich neben Hannes, der seinen Rollstuhl selbständig bewegt.

Zu Dritt gehen wir zu einer flachen Empore an einer der Schmalwände. Davor hat man keine Tische gestellt. Wir bleiben in diesem Freiraum und drehen uns um. Eine andere Maid ist hinzugetreten. Sie zückt eine Polaroid-Kamera und macht nun ein Gruppenfoto von uns beiden mit der Maid, die uns bedient. Dann werden wir unter Kichern wieder zu unserem Tisch zurückgeleitet, wo inzwischen unser Essen steht.

Die Maid, die serviert hat, 'flötet':
"Oishiku naaaare -Sei köstlich-!"

Wir werden gefragt, welche Manga-Figuren wir mögen. Ich antworte:

"Meijo aru masuta no tame ni on'nanoko o, soshite watashi no tame ni oji o egaite, kudasai. -Malen Sie dem ehrenwerten Meister ein Mädchen und mir gerne einen Prinzen, bitte-!" Dabei lächele ich Hannes zwinkernd zu, der kein Wort versteht.

Sie schreitet zur Tat und nimmt eine Soßenflasche, um das Gericht damit wie gewünscht zu verschönern. Anschließend sollen wir mit Daumen und Fingern ein Herz formen und laut "MOE, MOE, KYUN! -Süß, süß, Herzenswärme!" sagen. Sie sagt es ebenfalls, im Chor mit uns.

Damit ist unser Essen in ihren Augen magisch aufgeladen.

Auf dem Tisch steht auf der Seite ein Gewürzhalter mit einer Schale, in der ich 'Hashi' -Stäbchen- finde. Ich nehme mir ein Paar und hebe die Hand. Die Maid hat sich gerade entfernt. Ich rufe sie zurück:

"Sumimasen, Fooku onegaishimasu? -Entschuldigung, könnte ich bitte eine Gabel haben?"

Die Maid ist schnell mit dem geforderten Besteckteil am Tisch zurück. Ich lächele und weise mit der hohlen Hand auf Hannes. Er erhält seine Gabel und sie verbeugt sich höflich. Dabei wünscht sie uns "Itadakimasu! -Guten Appetit!"

"Arigato gozaimasu," antworte ich. "-Vielen Dank.-"

Als wir die Mahlzeit beendet haben frage ich Hannes, ob wir das Café verlassen sollen. Er nickt bestätigend, also frage ich nach der Rechnung:

"Okanjou wo onegai shimasu -Könnte ich die Rechnung haben, bitte-?"

Nachdem ich das Blatt mit allen Bestellungen in Händen habe, erheben wir uns und gehen zur Kasse am Ausgang. Wir haben für das Erlebnis 36Euro bezahlt. Darunter ist eine Sitzplatzgebühr, die Menüs, das Polaroidfoto und die Getränke.

Als Souvenir erhalte ich beim Hinausgehen eine Keksdose. Ich beobachte die Umgebung vor der Tür. Mein Adrenalinspiegel steigt sprunghaft an. Aber die Kerle haben wohl das Interesse verloren. Also beeile ich mich, mit Hannes zum Ausgang des Geländes und zur Haltestelle des Busses zu kommen. Innerlich bete ich, dass mir keiner der Kerle über den Weg läuft und das Ganze wieder von vorne losgeht.

Draußen an der Haltestelle muss ich leider feststellen, dass der nächste Bus erst in einer halben Stunde kommt. Ich nehme ja nicht an, dass die Kerle die Öffentlichen nutzen, sondern ich denke, dass sie mit Autos zum Gelände unterwegs gewesen sind. Trotzdem rufe ich ein Taxi an. Zehn Minuten später ist das Fahrzeug da. Wir helfen Hannes beim einsteigen und legen den zusammengeklappten Rollstuhl in den Kofferraum. Danach bringt uns der Fahrer nachhause.

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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Di Feb 08, 2022 10:23 am

Am darauffolgenden Tag meint Hannes beim Frühstück wie nebenbei:
„Schade, dass ich die Kampftechnik nie erlernen kann. Dann hätte ich dir geholfen!“

„Ach Hannes,“ antworte ich, dankbar lächelnd. „Danke dir!“

Ich weiß natürlich, dass Hannes an den Rollstuhl gebunden ist. Er hätte nicht aufstehen können. Aber allein das Angebot nimmt mich sehr für ihn ein. Wir sitzen im Wohn- und Esszimmer am Tisch mit seinen Eltern. Seine Mutter merkt auf. Sie will mehr wissen.

„Was ist gestern passiert?“

„Nichts, worüber Sie sich aufregen müssen, Frau Meyer,“ wiegele ich ab. „Wir waren ja gestern auf dieser Veranstaltung. Dort meinte ein Kerl mir zu nahe kommen zu müssen. Ich habe zu ihm ‚STOPP!‘ gesagt, aber er lachte nur und bedrängte mich wieder. Ich habe nun meine Selbstverteidigungstechnik angewandt. Dadurch habe ich noch zwei weitere Kerle gegen mich aufgebracht. Aber auch sie hatten keine Chance. Dann sind wir in ein Maid-Café auf dem Gelände geflüchtet und haben vorzüglich gespeist. Darüber sind wir den Kerlen wohl langweilig geworden, denn als wir auf dem Heimweg waren, haben wir sie nicht mehr gesehen.“

Frau Meyer sagt nun nichts mehr, wirft aber ihrem Mann einen bedeutsamen Blick zu. Dieser zuckt nur mit den Schultern.

„Ist ja alles gut gegangen, Margot.“

Später in Hannes‘ Zimmer schlage ich ihm vor:
„Was hältst du davon, wenn wir morgen in die Innenstadt fahren. Wir spazieren über die Fußgängerzone und schauen uns die Schaufenster etwas an.“

Er schaut erwartungsvoll zu mir auf und stellt fest:
„Du hast doch irgendetwas vor, Gabi!“

Ich nicke lächelnd und sage:
„Du sollst die Kenntnisse aus dem Kurs nicht verlieren. Du musst sie anwenden, um ‚drin‘ zu bleiben. Was hältst du davon, wenn wir dir einen Laptop kaufen, dazu einen Drucker und kaufmännische Software. Dann gehen wir in einen Handyladen und kaufen einen WLAN-Router und die benötigten Kabel von der Telefonbuchse zum Laptop. Dort müssen wir natürlich einen Vertrag abschließen.“

Interessiert schaut er mich an.

„Wenn mich aber keiner haben will? Und die berühmte Stecknadel im Heuhaufen mich erst in zehn Jahren sticht?“

„… dann musst du die Sache selbst in die Hand nehmen. Rumsitzen und warten bringt nicht viel!“ vervollständige ich seinen Gedankengang. „Du hast jetzt einen Beruf! Dann musst du ihn auch nutzen.“

„Das ist ja gut und schön,“ meint er etwas lauter als normal. „Was soll ich den Leuten denn anbieten, damit sie mir Geld dafür zahlen. Welche Nachfrage kann ich denn abdecken?“

Ich lächele ihn an und meine:
„Stell dir einmal vor, auf der Bühne des Maid-Cafés gestern – vor der wir fotografiert worden sind – hätte eine Geisha eine Vorstellung gegeben. Die Gäste des Cafés hätten für die Vorstellung etwas zahlen müssen. Wenn die Geisha nun vorher angekündigt worden wäre, wäre das Maid-Café sicher brechend voll gewesen…“

"Ja, und…?“ fragt Hannes mit verständnislosem Gesicht.

„Nuuun,“ dehne ich die Antwort. „Wenn ich in dem Geisha-Kostüm stecken würde und anschließend das Geld nachhause bringe, hast du Einnahmen!“

„Das würdest du machen?“ fragt er und macht große Augen.

„Warum nicht? Du firmierst als Agenturchef, und ich als deine Mitarbeiterin. Solche ‚Cons‘ gibt es zu gewissen Zeiten in vielen Städten. Dazwischen bleibe ich natürlich deine Pflegerin und wir bieten mich als Gesellschafterin für ältere Menschen an. Gerade bei häuslicher Pflege kommt es vor, dass die pflegenden Angehörigen gerne einmal in Urlaub fahren. Dann springe ich für sie ein.“

„Was kann man denn da verdienen?“

„Also, der Auftritt als Geisha wird anfangs wenig einbringen, denke ich. Wenn interessierte Leute ihnen aber die Bude einrennen, dürfte die Gage steigen. Und eine Gesellschafterin verdient momentan brutto 40 Euro. Ein Arbeitgeber muss noch die Arbeitgeberleistungen zu Steuern und Versicherungen bezahlen. Außerdem kann eine Agentur einen gewissen Prozentsatz für sich verlangen. Das alles muss der Auftraggeber bezahlen und kann es zum Teil von der Pflegekasse zurückbekommen.“

„Okay,“ meint Hannes skeptisch. „Probieren kann man es ja.“
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Do Feb 10, 2022 9:48 am

„Wir müssen zuerst bei der Stadt einen Gewerbeschein beantragen! Erst, wenn wir den haben, können wir loslegen.“

Hannes hat den Gewerbeschein beantragt und kurz darauf kommt das Dokument per Post.

*

Bei meiner Internet-Recherche fällt mir eine Therapie für Patienten wie ihn ins Auge. Ich lese mich intensiv ein und beginne danach Hannes täglich für kurze Zeit auf den Bauch zu drehen. Anschließend erhält er von mir eine Rückenmassage. Dabei komme ich der Wirbelsäule absichtlich nahe. Der Wirbel, der den Ärger macht kann man an seinem Sporn eindeutig identifizieren. Ich halte mich anfangs von ihm fern. Nachdem die Muskulatur gelockert und durch das warme Öl aufgewärmt ist, nähere ich mich ihm vorsichtig.

Dies wiederhole ich in mehreren ‚Sitzungen‘. Irgendwann meldet sich Hannes:
„Ich fühle ein Kribbeln in den Beinen!“

Ich drehe ihn vorsichtig wieder auf den Rücken und lasse ihn sich im Bett setzen. Dann helfe ich ihm, sich im Sitzen zu drehen. Er lässt seine Beine nun aus dem Pflegebett baumeln. In der Zeit ziehe ich das Gummituch unter ihm weg, dass ich hingelegt gehabt habe, um das Bettzeug vor dem Massage-Öl zu schützen.

„Und nun, versuche dich ins Bett zurück zu drehen. Versuche die Beine selbst ins Bett zu heben.“

Er schaut mich verstört an.

„Also erst die Beine hineinheben und dann drehen?“

„So hast du es bisher gemacht, wenn keiner dabei gewesen ist,“ erkläre ich ihm. „Nein, dreh dich und hebe deine Beine selbständig beim Drehen ins Bett zurück. Wenn etwas nicht klappt – ich bin ja dabei!“

Also beißt er die Zähne zusammen und hebt sich mit den Armen an. Er dreht sich in die Längsrichtung des Bettes und wie von einem Zauber bewegt, hebt sich ein Bein und legt sich auf den Rand des Bettes. Er lässt sich auf die Matratze zurücksinken und sagt mit zitternder Stimme:

„Das Bein hat sich bewegt!“

Tränen laufen über seine Wangen. Ich helfe ihm nun, das zweite Bein ins Bett zu legen. Man merkt, dass seine Muskulatur dabei hilft. Danach trockne ich seine Tränen.

„In der Universitätsklinik der Nachbarstadt hat man eine besondere Behandlungsmethode entwickelt,“ mache ich Hannes nun aufmerksam. „Sie dauert 12 Monate und besteht aus Ganzkörper-Vibrationstraining aus der Weltraumforschung, verbunden mit Physiotherapie, Training im Bewegungsbad und Übungen auf dem Laufband, wenn möglich.“

„Was soll denn das Vibrationstraining bewirken?“

„Damit wird die Bewegungsmuskulatur stimuliert und gestärkt, Hannes. Der Wirbel, der deine Nerven eingeklemmt hatte, ist anscheinend wieder an seine richtige Position zurückgesprungen. Du kannst deine Beine willentlich bewegen, aber deine Muskulatur hat sich stark zurückgebildet, wie bei Astronauten nach langem Aufenthalt im Weltraum.“

Herr Meyer fährt einen Monat später, nachdem Hannes sich mit dem Rollator seiner verstorbenen Oma – wenn auch unsicher – bewegen kann, mit uns allen zu der Universitätsklinik. Wir haben einen Termin bekommen. Dort angekommen schiebe ich Hannes mit dem Rollstuhl zu dem Raum, in dem die Informationsveranstaltung stattfinden soll. Dort finden wir noch weitere Eltern mit ihren Kindern im Rollstuhl. Hannes ist der Älteste.

Laut des Arztes, der uns die Behandlung erklärt, findet sie in mehreren Phasen statt: Am Anfang steht eine Sprechstunde. Dort wird Hannes untersucht und das Behandlungsziel festgelegt. Er muss einen Vertrag unterzeichnen, der ihn an die Behandlung bindet.

Dann wird er stationär aufgenommen. Zuerst erhält er zwei Wochen Physiotraining. Daran schließen sich drei Monate Vibrationstraining an. Anschließend wird sein Trainingsstand erfasst und währenddessen erhält er eine intensive Physiotherapie. Es folgen weitere drei Monate Vibrationstraining. Das Vibrationstraining erfolgt zuhause. Die Trainingsfortschritte werden alle drei Monate ambulant überprüft. Das Vibrationstrainingsgerät erhält er leihweise. Nach der Abschlussuntersuchung muss er das Gerät wieder abgeben.

Herr Meyer bespricht sich mit uns und Hannes unterschreibt zuversichtlich den Behandlungs-Vertrag. Die meiste Zeit der Therapie macht er mit meiner Unterstützung selbständig zuhause. Nach dem Jahr hat er es geschafft. Er kann wieder gehen. Dennoch fährt er noch oft im Rollstuhl. Um sich zu schonen, wie er sagt. Er hegt sicher noch gewisse Zweifel, die aber mit der Zeit vergehen werden.
Sein Zimmer im Erdgeschoß wird wieder umgeräumt. Das Pflegebett, der Toilettenstuhl und der Rollator kommen weg, die Schränke mit dem Pflegematerial ebenso. Er kauft sich Appartementmöbel mit einem Schreibtisch.

*
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Sa Feb 12, 2022 10:06 am

Wir haben das Internet durchforstet und auf diese Weise erfahren, an welchen Daten in welchen Städten ein ‚Con‘ stattfindet.

Das nächste ‚Con‘ findet nun in einer 350km entfernten Stadt statt. Hannes begleitet mich neugierig. Wir haben im Reisebüro eine Städtetour dorthin gebucht, mit Hotel und Museumsbesuchen. Ich habe im Koffer einen Kimono dabei und bin Tage vorher in meinem Friseursalon gewesen, um mir einen kunstvollen Dutt am Hinterkopf machen zu lassen.

Wir fahren am Morgen mit dem Bus zum Bahnhof und sind am späten Mittag am Ziel angekommen. Hier fahren wir mit dem Taxi zu unserem Hotel, wo ich mich umziehe, dezent schminke und am Spiegel mit Hannes Hilfe den Haarschmuck befestige.

Anschließend gehen wir durchs Treppenhaus. Einige uns entgegenkommende Männer geraten auf der Treppe leicht ins Stolpern. Ich versuche mir keine Reaktion anmerken zu lassen. Hannes grinst allerdings ganz offen.

Die Mitarbeiterin an der Rezeption bekommt große Augen, als wir auf sie zugehen. Aber auch sie versucht, ihre Überraschung zu verstecken. Ich frage sie:

„Wie kommen wir am Besten von hier zum Gelände, auf dem zur Zeit der ‚Con‘ stattfindet?“

Die junge Frau hebt den Kopf an, als denke sie ‚Ah!‘. Sie gibt uns den Plan des städtischen Busverkehrs, zeigt uns, wie wir fahren müssen und welche Linien dort hinausfahren. Dann meint sie aber:

„In ihrer Aufmachung würde ich Ihnen aber zu einem Taxi raten!“

Ich nicke verstehend und frage nun:
„Können Sie uns dann gerne ein Taxi rufen?“

Sie nickt mir lächelnd zu und greift zum Telefon. Wenige Minuten später kommt ein Mann in die Lobby und steuert die Rezeption an. Die Mitarbeiterin macht uns miteinander bekannt und wir folgen ihm zu seinem Wagen. Eine halbe Stunde später erreichen wir am Nachmittag den ‚Con‘, bezahlen den Mann und lassen uns von ihm den Taxiruf seiner Firma geben.

„Für die Rückfahrt kommen Sie bitte wieder hierher,“ schärft er uns noch ein. Dann verabschiedet er sich und wir gehen auf das Event zu.

Wir gehen direkt auf das Maid-Café zu. Dort verbeuge ich mich und frage ich eine der Maids, die mit Prospekten davorstehen und die Passanten auf das Café aufmerksam machen:

„Konbanwa -Guten Abend-, ich möchte den Chef in einer geschäftlichen Angelegenheit sprechen. Ist das möglich?“

„Hai -Ja-, watashi ni shigatte, kudasai -bitte, folgen Sie mir-.“

Sie wendet sich um und geht außen an der linken Wand des Maid-Cafés entlang, bis sie eine Tür öffnet. Sie verbeugt sich tief in das Innere gerichtet und sagt:

„Sumimasen, darekaga anata ni aita gatte imasu, Mrachartz-San -Entschuldigung, jemand möchte Sie sprechen, Herr Mrachartz.“

Von drinnen ertönt ein „Hai -Ja-“. Sie wendet sich nun lächelnd wieder zu uns um und zeigt mit der nach oben offenen Handfläche in das Büro.

Hannes und ich betreten das Büro. Es liegt wohl neben der Küche, denn die Gerüche sind hier ziemlich intensiv. Drinnen erhebt sich ein Mann um die 50, offensichtlich ein Europäer. Darum frage ich, ob wir besser Deutsch oder Englisch miteinander reden sollen.

Er lächelt und meint:
„Deutsch, wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht. Mein Schul-Japanisch reicht gerade, um mich mit den Angestellten zu unterhalten.“

„Ah,“ gebe ich lächelnd zurück. „Mir geht es ähnlich. Wir waren Gäste und haben eine kleine Bühne im Café entdeckt. Das brachte uns auf die Idee, dass ich dort eine kleine Aufführung als Maiko Yoake -Geisha in Ausbildung ‚Morgenröte‘- bringen könnte. Natürlich nur, wenn es in ihr Geschäftskonzept passt, die Gäste kurze Zeit in eine Phantasiewelt zu entführen.
Ich war ein Jahr in Kyoto und habe mich dort im Hanamachi -Blumenviertel- mit einer Maiko angefreundet, die mir einiges von ihrem Können beigebracht hat.“

„Das ist interessant! Aber die Leute hier können kaum zwischen einer Geisha und einer Maiko unterscheiden. Es wirkt besser, wenn wir Sie als Geisha vermarkten!“

„Okay,“ meine ich. „Wenn man bedenkt, wieviel Kunden ins Café passen und wenn mehr Interessenten kommen, als Sitzplätze vorhanden, auch Stehplätze an den Wänden entlang zugewiesen werden können, könnte ich mir eine Gage von 200 Euro pro Auftritt vorstellen. Ihr Umsatzzuwachs wird sich sicher beim Doppelten bewegen.“
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BeitragThema: Re: Der Muffel und die Pflegerin   Der Muffel und die Pflegerin Icon_minitime1Mo Feb 14, 2022 10:11 am

Mein Gegenüber nickt.
„Und wie lange wird solch ein Auftritt dauern?“ fragt er lauernd.

„In Japan bemisst sich die Dauer an einer Räucherstäbchenlänge,“ erkläre ich. „Bis solch ein Räucherstäbchen heruntergebrannt ist, vergeht etwa eine halbe Stunde. Das dürfte auch in etwa die Dauer sein, die ein Gast zum Essen braucht. Sie berechnen dem Gast ja das Essen, das Getränk und das Erinnerungsfoto sowie eine Sitzplatzgebühr wie im Theater. Da fällt es ihm nicht weiter auf, wenn er auch noch seinen Teil an meiner Gage zahlen muss.“

„Das kann sein,“ meint Herr Mrachartz. „Könnten Sie kurz ein Auszug ihres Programms zeigen?“

„Aber natürlich!“ bestätige ich ihm.

Ich stelle meine Handtasche ab und hole zwei Fächer -Kamoku- aus dem Kimono. Nun verberge ich zuerst mein Gesicht hinter einem Fächer und bewege ihn langsam zur Seite. Bevor mein Gesicht wieder freigegeben ist, verdecke ich es mit dem zweiten Fächer. Den Arm mit dem ersten Fächer strecke ich nun aus und drehe mich von Herrn Mrachartz weg. Nach einer vollen, schnellen Drehung wiege ich mich mit dem Körper und lasse beide Fächer schnell um einen ausgestreckten Finger kreisen. Dann werfe ich sie nacheinander in die Luft, wo sie weiter kreisen. Schließlich fange ich sie wieder auf und klappe sie zusammen.

„Erstaunlich!“ meint der Mann. „Sehr virtuos.“

Ich lächele und ergänze:
„Für den Sunodansu -Schneetanz- müsste ich mich kurz umziehen. Er ist außerdem etwas akrobatisch und erfordert weitere Accessoires auf der Bühne.“

„Und das wären?“ fragt er.

„Ein Gerät, dass über die volle Bühnenbreite Papier- oder Aluminium-Schnipsel herabregnen lässt. Jemand, der einen breiten runden Strahler bewegt und einen roten Filter vor das Licht schiebt…“

„Geschenkt!“ meint er. „Ich möchte die Bühne nicht umbauen müssen.“

„Okay,“ antworte ich. „Wenn ich dann einen CD-Player habe, statt einer zweiten Person im Kimono mit einer Shamisen -Laute-, kann ich zur Musik auch Fabeln vortragen – gerne auf Japanisch, damit für die Zuhörer das Geheimnisvolle gewahrt bleibt. Zum Abschluss der Vorstellung kann gerne wieder ein Fächertanz vorgeführt werden.“

Er überlegt einen Moment. Dann fragt er:
„Ihre Vorstellung dauert etwa eine halbe Stunde, sagten Sie? Unser Café hat naturgemäß länger geöffnet…“

Ich nicke und biete ihm an:
„Ich kann gerne nach der Vorstellung eine Zeitlang warten, bis andere Gäste das Café bevölkern und dann die Vorstellung wiederholen. Sie müssten mir dann allerdings pro Vorstellung die 200 Euro auszahlen, denn die neuen Gäste zahlen ja ebenfalls dafür.“

„Okay,“ meint er nun. „Ich werde es mir überlegen. Um einen besseren Eindruck zu haben… Sie können gerne durch diese Tür auf die Bühne gehen und eine Vorstellung gratis geben, quasi eine Werbevorstellung für Sie.“
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